Weil Klimawandel

Lesedauer: 9 Minuten

Die Debatte um den Klimaschutz beherrscht die Medien und die öffentliche Wahrnehmung wie einst die Flüchtlingskrise. Egal worüber eigentlich diskutiert wird, eine Stellungnahme zur Klimarettung wird fast jedem abverlangt. Die Polarisierung in unserer Gesellschaft ist in vollem Gange. Die Gutmenschen von 2015 sind heute die Jünger der Greta. Wer vor Jahren für eine Schließung der Grenzen war, bezweifelt heute den menschengemachten Klimawandel. Die Gefahren einer solchen Polarisierung dürfen nicht unterschätzt werden.

Martin Schulz’s Last Stand

Am 12. September 2018 erhob sich der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, von seinem Sitz im Plenum des Bundestags. Er nutzte eine Kurzintervention, um eine Bemerkung zu der vorausgegangenen Rede von Alexander Gauland zu machen. Er führte aus, „[d]ie Reduzierung komplexer politischer Sachverhalte auf ein einziges Thema […] ist ein tradiertes Mittel des Faschismus.“ Unter dem Applaus seiner Parteifreunde und dem Protestieren von rechtsaußen schickte er hinterher, es sei höchste Zeit, dass „die Demokratie sich gegen diese Leute wehrt.“

Es folgte langanhaltender Applaus für Martin Schulz, teilweise gab es sogar stehende Ovationen. Natürlich bezog sich Schulz auf die Rhetorik der AfD und ihre beinahe pathologische Neigung, die Schuld für sämtliche Missstände im Land bei den Migranten und Asylanten zu suchen. Er traf mit seinen Äußerungen den Nagel auf den Kopf. Doch wenn man sich die Debattenführung der letzten Jahre anschaut, könnte man meinen, er kam mit dieser Einsicht etwas spät um die Ecke. Immerhin werden viele kleinere Debatten seit Jahren von viel größeren Themen überschattet und vereinnahmt.

Polarisierung spaltet

Nehmen wir beispielsweise die Flüchtlingskrise. Sie hat die deutsche Gesellschaft gespalten wie kaum ein Thema zuvor. Und natürlich war absehbar, dass die Ankunft zehntausender Asylsuchender das Land vor gewaltige Probleme stellen würde. Es war natürlich ebenso richtig, dass über die Lösung dieser Krise hart diskutiert wird.

Allerdings wurden über die Flüchtlingskrise ab 2015 andere wichtige Themen vernachlässigt oder sogar vergessen. Die Flüchtlinge waren dauerpräsent in den Medien. Man hatte das Gefühl, die Menschen in Deutschland würden sich um nichts anderes mehr scheren als ihren persönlichen Standpunkt zu einer neuen Asylunterkunft drei Straßen weiter.

Das polarisiert. Und die Folge von Polarisierungen sind immer zwei Lager, die sich schier unversöhnlich gegenüberstehen. Bist du für oder bist du gegen die Flüchtlinge? Ein Dazwischen wurde nicht akzeptiert. Die beiden Lager waren wie schwarze Löcher, die stetig wachsen und alles aufsaugen, was ihnen zu nahe kommt.

Zwischen Willkommenskultur und Schießbefehl

Dabei gibt es sehr wenige Menschen, die ernsthaft alle Flüchtlinge der Welt in Deutschland willkommenheißen möchten. Genau so wenige Menschen möchten am liebsten auf alles schießen, was der deutschen Grenze zu nahe kommt. Doch die Dauerpräsenz in den Medien, und auch die Debattenführung, gaukelte immer mehr Menschen vor, dass die beiden Lager immer größer würden. Und letztendlich wurden sie das dadurch auch.

Menschen, die sich differenziert und sachlich zu den Themen äußern wollten, wurden entweder nicht ernstgenommen oder zwischen den rivalisierenden Lagern zerrieben. Teilweise wurden sie eigenmächtig in eines der Lager zugeteilt. Die Saugwirkung ließ nicht zu wünschen übrig. So erging es beispielsweise Sahra Wagenknecht. Nach ihren kritischen Äußerungen zu den Ereignissen in Köln zur Jahreswende 2016 wurden selbst einer Frau, die jahrelang als eiserne Verfechterin des Kommunismus galt, rechte Tendenzen unterstellt.

Verdächtig ähnliche Argumentationsmuster

Den wirklich Rechten spielte die Omnipräsenz der Flüchtlinge natürlich in die Hände. Sie spannen beflissen die Legende von den raffgierigen Flüchtlingen, die sich in unseren Sozialsystemen einnisteten. Martin Schulz hat völlig recht: Das sind faschistische Rhetorikmuster.

Wie weit diese Muster unsere Debattenkultur inzwischen vergiftet haben, zeigt sich an einem aktuelleren Beispiel. Während man ab 2015 fast alles mit den Flüchtlingen begründete, kommt heute kaum noch eine Diskussion ohne den Klimawandel aus.

Zwischennotiz: Beides – sowohl die Flüchtlingskrise als auch die Rettung des globalen Klimas – sind Mammutaufgaben, denen man sich nicht verweigern darf. Sie bedürfen unglaublicher Kraftanstrengungen und haben daher einen berechtigten Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. So, weiter im Text.

Das erstaunliche an der Klimakrise: Das Argumentationsmuster wurde auf links gedreht. Bei der Flüchtlingsdebatte mussten die Flüchtlinge als Sündenbock für verfehlte politische Entscheidungen der letzten Jahre herhalten. Bei der Debatte ums Klima ist der Schutz desselbigen immer die Lösung aller Probleme.

Eine vorgeschobene Debatte

Gerade dieser Tage wird ein Thema wieder routiniert aufgewärmt: das Böllern an Silvester. Verschiedene Einzelhandelsketten haben sich in diesem Jahr zu einem Verkaufsstopp der beliebten Knallkörper bekannt. Vorrangiges Argument: die Feinstaubbelastung durch die Böllerei ist Gift für’s Klima. Stimmt so. Aber klar wird es mal wieder vorrangig auf’s Klima geschoben. Andernfalls müsste man schließlich auch selbstreflektierend zugeben, dass es von Anfang an Schwachsinn war, Sprengstoff an Laien zu verhökern.

Beide Argumente, der Klimaschutz wie der Gesundheitsschutz, sind gute Gründe, die Knallerei an Silvester abzuschaffen. Aber wieso bedarf es erst einer Sensibilisierung der Gesellschaft für Klimafragen, wenn die Gesundheit der Menschen durch Böller seit Jahr und Tag bedroht war? Der Einzelhandel macht es sich wirklich leicht. Und er springt auf den Zug mit auf. Ein Böllerverbot, das vorrangig aufgrund der Klimadebatte zustandekommt, obwohl es schon lange gute Gründe für ein solches Verbot gibt, leistet einen Beitrag zu einer weiteren Polarisierung der Klimadebatte insgesamt.

Diesel ist Diesel. Und Klima ist Klima.

Es ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft niemals gut, wenn sämtliche Fragen auf einen einzigen Aspekt heruntergebrochen werden. Das lähmt nämlich das Vorankommen einer Gesellschaft oder ist sogar kontraproduktiv. Zum einen führt ein solches Herunterbrechen zwangsläufig zu einer Polarisierung mit gegensätzlichen Lagern. Vorschläge und Ideen aus dem einen Lager führen zuverlässig zu Widerstand aus dem anderen Lager. Böllerverbot? Jetzt erst recht böllern! Die wollen mir meinen Diesel wegnehmen?! Ich kauf‘ mir erst recht einen! Tempolimit auf der Autobahn? Die können gleich mal sehen, wie schnell ich rasen kann!

Wenn jedes Problem nur noch mit einer gängigen Antwort beantwortet wird, dann vermischen sich Themen, die im Prinzip nichts miteinander zu tun haben. Wer redet denn heute noch vom Dieselskandal? Kein Mensch. Es wird darüber diskutiert, wie man die Feinstaubbelastung des Straßenverkehrs in den Griff bekommt.

Der Dieselskandal hat dem Thema Feinstaub neuen Aufwind verschafft. Dass er das getan hat, ist eigentlich absurd. Hat ernsthaft jemand geglaubt, Dieselautos könnten jemals klimaneutral sein? Dass hier in gigantischem Ausmaß betrogen wurde, steht außer Frage. Doch anstatt dieses Problem ernsthaft aufzuarbeiten, versuchte man es mit der Klimafrage zu beschwichtigen. Wenn Dieselautos sowieso verboten werden, dann juckt es keinen, dass früher mal mit welchen betrogen wurde. Kein Wunder, dass sich viele Menschen da zweimal vor den Kopf gestoßen fühlen.

Wieso denn jetzt das Klima?!

Das große Handicap des Klimawandels: Er ist viel zu abstrakt. Natürlich bemerken wir, dass sich das Wetter im Sommer geändert hat. Und selbstverständlich sind weiße Weihnachten zur Rarität geworden. Aber gerade in Deutschland sind die Folgen des Klimawandels noch relativ moderat. Deswegen sperren sich so viele Menschen auch gegen ein Böllerverbot. Was hat das denn mit dem Klima zu tun? Die Folgen sind ja nicht unmittelbar spürbar. Anders verhält es sich, wenn einem die halbe Hand von einem Chinaböller weggesprengt wird.

Gleiches Prinzip beim gerade wieder heiß diskutierten Tempolimit auf der Autobahn: Die Argumente von wegen Verkehrssicherheit haben nicht gezogen. Warum soll der Klimawandel das Blatt jetzt wenden? Die Menschen wurden durch konkrete Bilder, wie Menschen durch Windschutzscheiben geschleudert wurden, nicht von einem Tempolimit überzeugt. Wenn konkrete Beispiele scheitern, dann werden abstrakte noch viel weniger fruchten.

Ein Nebendarsteller in der Hauptrolle

Dass ein generelles Tempolimit auf der Autobahn einen Beitrag zur Reduktion des CO2-Ausstoßes leistet, kann von niemandem ernsthaft bestritten werden, der einen gesunden Menschenverstand sein eigen nennt. Viel wichtiger und viel konkreter ist ein Tempolimit doch aber, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu erhöhen. Der Klimaschutz ist ein begrüßenswerter Nebeneffekt einer solchen Regelung. Wenn er nun aber zum Hauptargument mutiert, verwundert es kaum, wenn sich die Fronten verhärten.

Eigentlich ist die Diskussion um ein Tempolimit sowieso obsolet. Spätestens wenn sich das autonome Fahren durchgesetzt hat, wird kein Weg mehr an einer generellen Geschwindigkeitsregulierung vorbeiführen. Vielleicht wird dann das leidige Thema Zeitumstellung vom Klimawandel vereinnahmt.

“Die Reduzierung komplexer politischer Sachverhalte auf ein einziges Thema […] ist ein tradiertes Mittel des Faschismus.“ Immer häufiger beherrschen einzelne Themen die Debatten über viel komplexere Sachverhalte. Was Martin Schulz bereits im letzten Jahr angeprangert hat, geht schon lange nicht mehr nur von der AfD aus. Eine solche Art der Debattenführung ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es ist tatsächlich an der Zeit, dass sich alle Demokraten dagegen wehren.

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Solidarität und Krise – ein politischer Kreislauf

Lesedauer: 10 Minuten

Vom linken Spielfeldrand aus, und leider nur leicht verfälscht, beobachtet.

Es ist Krieg! [Andere größere Katastrophen würden auch taugen, z.B. eine Hungersnot, weil die letzten zwölf Jahre die Sommer zu kalt und nass waren, wodurch auf den Feldern alles verschimmelt ist (ob das von diesem „Klima“ kommt, von dem sie im Fernsehen so oft geredet hatten? Dabei hatte der AfD-Bundeskanzler doch versichert, dass es den Klimawandel gar nicht gebe!). Oder ein anständiger Vulkanausbruch, der die Erde in Staub hüllt; und dann wächst auf den Feldern gar nicht erst etwas, das verschimmeln könnte.
Aber Krieg funktioniert ganz wunderbar, ohne dass sich die Natur besonders anstrengen muss. Dazu reicht eine Kombination aus Egoismus, Dummheit und Testosteron – davon gibt es überall genug.]


Für Familie Schmalberg-Neidhardt, wohnhaft in einem hübschen Villenviertel am Rande der Metropole Harsewinkel, kommt der Krieg relativ ungelegen. Eigentlich war vorgesehen, dass der älteste, Frédéric-Noel, im Herbst an die LMU München geht, um Wirtschaftsingenieurwesen zu studieren, mit einem vor-reservierten MBA-Platz in Boston. Das war wichtig, um die Ehre zu retten, denn die mittlere, Lea-Katharina, hatte sich peinlicherweise zu einem freiwilligen ökologischen Jahr gemeldet, um am Bodensee mit muffig riechenden Umweltschützern Vögel zu zählen – und wie soll man das den Nachbarn bloß erklären.

Jetzt ist Frédéric-Noel jedoch nicht auf Mentoren-Treffs, Karriere-Networking – Seminaren oder bei der politischen Arbeit mit den Julis, sondern kämpft in der Armee. Auch ein Attest auf eingebildeten Keuchhusten im rechten Ohrläppchen (beschafft von einem befreundeten Arzt) konnte das Kriegsamt nicht überzeugen, und so wurde der wertvolle Filius eingezogen und dem 37. Infanterie-Regiment zugeteilt. Aus der Schlacht um Bielefeld erreicht die Familie eine Feldpost; darin berichtet er, dass die Hornbrille zwar die Sicht zur Seite hin etwas störe, der Feind aber bisher dankenswerterweise nur von vorn angegriffen habe – auch seien Kopf und Glieder noch alle in ursprünglicher Zahl vorhanden.

Daheim im beschaulichen Harsewinkel, das mit der Front bereits früher in Berührung gekommen war, steht das fette SUV der Schmalberg-Neidhardts, das wegen seines bulligen Formats und des aggressiven Spritverbrauchs auf Holzvergaser umzurüsten leider nicht möglich war, derweil verstaubt im Carport, denn die Straßen sind in eher zertrümmertem Zustand und höchstens noch mit Fahrrädern oder Schubkarren befahrbar, nicht jedoch von Geländewagen, die nicht im Gelände fahren können. Auch gibt die Tankstelle nur noch kleine Portionen Benzin aus, und die Preise findet selbst Vater Schmalberg-Neidhardt „sportlich“. Ohnehin muss der jüngste, Yannick-Leon, zur Zeit nicht zum Vorschul-Kindergarten gefahren werden. Anstatt dort Kurse in Business English und Advanced Management zu besuchen, fährt der Kleine früh morgens mit dem Rad los, stopft in einer improvisierten Fabrik am Stadtrand Zündhütchen und fegt nach Schichtende in der Produktion aus; dabei hat er erst zwei Finger verloren (zum Glück an der linken Hand).

Die wertvollen Travertinplatten vom Gartenweg wurden von der Stadtverwaltung eingezogen, um einige der größten Schlaglöcher in den Militärstraßen zu stopfen, und der Chef-Grill mit drei Ebenen und Brennstoffzellenantrieb konnte bei einem Metallhändler gegen zwei Laibe Brot eingetauscht werden. Gerade letztens hat auch noch der vor nur wenigen Monaten mit der Post aus Amerika bestellte Dyson-Zirkulationsfön den Dienst quittiert. Die Stromversorgung ist ohnehin seit Monaten eher brüchig – nun jedoch ist ein kleines Plastikteil im Inneren gebrochen, und der Händler im Gemischtwarenladen hat gesagt, er empfehle, die Haare für die nächste Zeit mit dem Handtuch zu trocknen.

In Momenten wie diesen beginnt Familie Schmalberg-Neidhardt zu zweifeln, ob denn politisch in letzter Zeit wirklich immer alles richtig gelaufen sei.

Ein paar Jahre später ist der Krieg vorbei. Jetzt wird aufgebaut und links gewählt! Auch der letzte Normalschnösel hat verstanden, dass es Aufgaben gibt, die sich anzupacken lohnen, obwohl sie nicht ausschließlich auf den eigenen Vorteil (oder den der Familie) ausgerichtet sind. Die Großschnösel, die auf Grund von Landbesitz, Anlagen in Wertgegenstände oder Vermögen im Ausland nur geringfügige Einbußen erlitten haben, halten sich taktisch bedeckt. Der Wiederaufbau wird genutzt, um einige längst überfällige Entscheidungen zu treffen, z.B. ein Grundeinkommen, das eine halbwegs würdevolle Existenz ermöglicht, eine einheitliche Krankenversicherung für alle, eine Steuer auf Vermögen und Einkommen aus Finanzgeschäften und ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr.

Einige Querulanten erinnern daran, dass andere fortschrittliche Dinge, wie z.B. ein allgemeines Wahlrecht (jawohl – selbst für Frauen!) früher auch nur unter dem Eindruck alles vernichtender Katastrophen eingeführt werden konnten, und sorgen sich schon wieder um die Zukunft.

Was sich alles erreichen lässt, wenn die Prioritäten einmal etwas umsortiert wurden, und wenn den Leuten klar wird, dass Solidarität auch gegenüber Mitbürgern empfunden werden kann, nicht nur gegenüber großen Unternehmen, die wegen idiotischer Managemententscheidungen in Schieflage geraten sind und ihren Hauptzweck, nämlich das Generieren von Rendite für die Anteilseigner, nicht mehr länger erfüllen können. Und augenscheinlich ist es am Ende doch ein Unterschied, ob eine Regierung soziale Reformen deswegen durchführt, weil sie das Richtige tun will, oder eher deswegen, weil sie verhindern möchte, dass es zu Unruhen kommt, die die Eigentumsverhältnisse ihrer Wählerschaft, oder (noch wichtiger) den Zugang zu lukrativen Posten in der Wirtschaft für Parteimitglieder und ehemalige Amtsträger, einschränken oder gefährden könnten.

Ein bis zwei Jahrzehnte später: Jetzt geht es uns wieder gut! Der Staat stellt diverse Annehmlichkeiten bereit, niemand muss hungern, jeder hat eine Wohnung, und sogar die Bahn fährt – und ist obendrein bezahlbar. Für viele Familien hat sich die Situation erheblich verbessert. Auch Frédéric-Noel, jetzt Familienoberhaupt bei den Schmalberg-Neidhardts, ist fast zufrieden. Er hatte sich nach dem Krieg mit einigen riskanten Anlagegeschäften in Südamerika schnell saniert, konnte seinen MBA nachholen und als Alumnus sogar dem kleinen Bruder Yannick-Leon für dessen BWL-Studium an der LMU einen Platz in der Verbindung Superbia sichern, wo sich seit jeher exzellente Kontakte fürs spätere Berufsleben knüpfen lassen.

Was Frédéric-Noel jedoch inzwischen entschieden nervt, ist die hohe Steuerlast, die seine zahlreichen Einkommen mindert. Dabei unterhält sich eine Vorstadtvilla nicht von allein, und auch die Platzmiete im Yachthafen von Monaco will bezahlt sein. Dass die Abgaben zu großen Teilen für gesamtgesellschaftliche Projekte verplant sind, ficht ihn dabei nicht an, denn die Straßen sind inzwischen längst saniert, und er fährt wieder standesgemäß mit dem Auto – daher hat er gar kein Interesse an einem kostenlosen Nahverkehr, wo man neben stinkenden Mitmenschen auf einer abgewetzten Sitzbank Platz nehmen muss, um morgens zur Arbeit zu kommen. Im Gegenteil empfindet er die Steuern zunehmend als Strafe. Dafür, dass er erfolgreich ist, wo andere gescheitert sind. Dass von seinem hart verdienten Geld (bei dieser Formulierung muss er sich schon länger nicht mehr vor Lachen verschlucken) Hungerleider und Proleten in ihren sozialen Hängematten alimentiert werden, findet er unausstehlich.

Deswegen wählt Frédéric-Noel nun wieder rechts. Da trifft es sich hervorragend, dass der Spitzenkandidat der Union die Öffnung der Krankenversicherung für private Unternehmen angekündigt hat; auch der Spitzensteuersatz soll gesenkt werden. Außerdem ist eine Erhöhung der Pendlerpauschale (jedoch nur für Kfz-Besitzer) im Gespräch. Die Einnahmen hierfür sollen aus einer groß angelegten Privatisierungswelle stammen, bei der Wohnungsgesellschaften, die Bahn, die Post, die städtischen Unternehmen und die Energiewirtschaft wieder in die Hände von Investoren gegeben werden; davon verspricht man sich solideres Haushalten und höhere Rendite. Ein Bürokratie-Abbaugesetz soll zahlreiche Umweltvorschriften, Mieter- und Arbeitnehmerrechte streichen, die momentan noch den Fortschritt behindern. Aber nicht mehr für lange Zeit!

Die linken Querulanten von damals nach dem Krieg hatten offenbar doch Recht, nur dass ihnen das jetzt kaum noch Freude bereitet – denn die von ihnen favorisierten Parteien erleiden eine Wahlschlappe nach der anderen.


Wieder nur wenige Jahrzehnte später: Der Lebensstandard für Menschen mit geringem Einkommen (und das sind nicht wenige!) ist spürbar gesunken. Der Schmalberg-Neidhardt AG geht es allerdings prächtig, nicht zuletzt wegen diverser kreativer Methoden der Steuergestaltung, und wegen guter Kontakte zu wichtigen Stellen im Finanz- und Wirtschaftsministerium. Auch bei der letzten Novelle des Aktienrechts sowie beim Erbschaftsbesteuerungsänderungsgesetz hat man kräftig mitgeschrieben. Frédéric-Noel, inzwischen über 80 Jahre, ist zufrieden, denn für seine Familie, einschließlich sämtlicher Nachkommen für die nächsten zwölf Generationen, ist bestens vorgesorgt. Beruhigt verabschiedet er sich aus dem Vorstandsgeschäft, um sich von nun an besser um den Stiftungsvorsitz und die zahlreichen Aufsichtsratsposten kümmern zu können.

Am Horizont taucht eine Partei auf, die so weit rechts ist, dass das sogar Frédéric-Noel ein wenig unanständig findet. Man munkelt, dort gebe es Stimmen, die eine Rückgewinnung der verloren gegangenen Gebiete aus dem letzten Krieg fordern. Und überhaupt sei das Problem im Staat ja nicht, dass man sich zuwenig umeinander kümmere, sondern dass scharenweise Ausländer in die Sozialsysteme einwanderten und es sich dort gut gehen ließen. Genügend Menschen glauben das.


Noch einige Jahre später: Der neue Kanzler kündigt „einschneidende Veränderungen“ an, jedoch „zum Wohl des Vaterlandes und seiner wunderbaren Bürger“. Es sei an der Zeit, historisches Unrecht wieder auszubügeln!


[Zum weiteren Verlauf der Geschichte bitte ab Zeile 1 weiter lesen.]


Dieser Text ist ein Gastbeitrag von Anonymer Schreiberling. Er freut sich bestimmt über positives Feedback. 🙂

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Alles oder nichts – Wählen mit 16

Beitragsbild: jette55, pixabay.

Lesedauer: 10 Minuten

Wer in Deutschland unter 18 ist, hat bei Wahlen häufig schlechte Karten. Nur in einigen Bundesländern dürfen Jugendliche bei Kommunal- und Landtagswahlen ihre Stimme abgeben. „Richtig so“, meinen die einen. „Unfair“, protestieren die anderen. Viele Skeptiker lassen sich von plumpen Vorannahmen leiten, während einige Befürworter wichtige Spielregeln der Demokratie hinten anstellen. Dabei geht es bei dieser Frage doch um das Miteinander, und nicht um das Gegeneinander.

Wahlen FSK 18

“Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Beim Wahlalter für die Bundestagswahl ist das Grundgesetz eindeutig. Wer nun noch glaubt, dass nur Volljährige in Deutschland wählen dürfen, der lese sich das Zitat aus der Verfassung noch einmal Wort für Wort durch. Denn nur das passive Wahlrecht, also das Recht, gewählt zu werden, ist an die Volljährigkeit gekoppelt. Das aktive Wahlrecht hingegen ist noch präziser an ein bestimmtes Alter gebunden. Dieses Alter ist momentan deckungsgleich mit der Volljährigkeit. Bei Verfassungsänderung könnte es also unkompliziert weiter gesenkt werden, ohne den Begriff der Volljährigkeit auszuhöhlen oder anzugreifen. Das ermöglichte es auch den Parlamentariern der Brandt-Ära das Wahlalter von damals 21 auf 18 Jahre abzusenken.

Doch für eine solche Grundgesetzänderung ist eine Zwei-Drittel – Mehrheit im Bundestag erforderlich. Die unionsgeführte Bundesregierung kann die Reform des Wahlrechts also kinderleicht blockieren. Denn auch wenn die Große Koalition geschrumpft sein mag – ihr sind weiterhin über die Hälfte der Sitze im Bundestag sicher. Auf Bundesebene wird sich ein Wahlrecht für 16-jährige also weiterhin nicht durchsetzen lassen.

Der Mythos von den komplexen politischen Zusammenhängen

Auf Landesebene sieht es da schon ganz anders aus. Artikel 38 des Grundgesetzes beschäftigt sich mit den Wahlen zum Bundestag, nicht aber mit denen zu den Landtagen. Für ihr jeweiliges Wahlrecht sind die Bundesländer selbst verantwortlich. Inzwischen dürfen 16-jährige in vier Bundesländern an den Landtagswahlen teilnehmen (und zwar in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein). In sechs weiteren Ländern sind die 16- und 17-jährigen zumindest nicht von den Kommunalwahlen ausgeschlossen. In Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt haben die jungen Menschen ein umfassenderes Wahlrecht als in den übrigen sechs Bundesländern.

In über der Hälfte der Republik dürfen 16-jährige also weiterhin nicht wählen. Viele der Kritiker einer entsprechenden Wahlrechtsreform berufen sich immer wieder auf die gleichen Argumente. So bezweifeln viele von ihnen, ob 16-jährige bereits in der Lage sind, die komplexen politischen Zusammenhänge zu verstehen. Ich aber frage: Wer, wenn nicht diese Altersgruppe? Genau dann werden Schüler nämlich im Gemeinschaftskundeunterricht an das Wahlsystem der Bundesrepublik herangeführt. Was ein Ausgleichsmandat ist und wie es zustandekommt, kann so mancher 16-jähriger sicher besser erklären als jemand, der schon mehrere Bundestagswahlen hinter sich hat.

Wenig überraschend kommt ein solches Argument häufig von der Partei um Christian Lindner. Der tiefgelbe Partei- und Fraktionschef machte vor nicht allzu langer Zeit gehörig von sich reden, als er das politische Verständnis jugendlicher Klimaaktivisten bezweifelte. Und das kommt ausgerechnet von einem Mann, der einst selbst als – Achtung, Pointe! –16-jähriger in seine Partei eintrat. Im übrigen ist eine Mitgliedschaft bei den Julis (Jungen Liberalen) bereits im zarten Alter von gerade einmal 14 Jahren möglich.

Lappen ja, Wahlschein nein

Womit wir auch schon beim nächsten Argument der Skeptiker wären. In solch jungen Jahren hat man andere Dinge im Kopf als Politik. Stimmt. Die nächste Mathearbeit zum Beispiel. Oder den ersten Freund. Oder die Führerscheinprüfung. Denn Fahrstunden dürfen 16-jährige in Deutschland problemlos absolvieren. Von vielen Wahlen bleiben sie allerdings ausgeschlossen.

Außerdem ist dieses Argument leicht umkehrbar. Es suggeriert nämlich beinahe, dass ältere Menschen an nichts anderes als an Politik denken. Wenn ich nicht gerade einen neuen Beitrag für diesen Blog schreibe, denke ich zum Beispiel oft an Essen. Oder an meine Freunde. Oder an Geld. Und nicht jeder denkt so oft über politische Zusammenhänge nach wie ein Bundestagsabgeordneter. Weder 16-jährige noch 40-jährige.

Die Jugend macht Druck

Vielleicht mag es stimmen, dass politisches Desinteresse verstärkt unter jungen Leuten auftritt. Doch hier werden grandios Ursache und Wirkung vertauscht. Würde man das Wahlrecht für Unter-18 – jährige öffnen, so würden sich viele Teenager ganz anders mit Politik und Gesellschaft auseinandersetzen. Das Phänomen „interessiert mich nicht“ würde in dieser Alterskohorte dann nicht mehr signifikant öfter auftreten als bei deutlich älteren Menschen.

Übrigens hat nicht nur die FDP eine Jugendorganisation. In vielen weiteren Parteien treten zahlreiche Jugendliche für ihre politischen Überzeugungen ein. Dieses Engagement geht dabei oft über Parteigrenzen hinaus. In jüngster Zeit bewies die Fridays-for-Future – Bewegung, welch enormes politisches Potenzial, und vor allem Interesse, in der Jugend steckt.

Die Gegner des Ab-16 – Wählens kommen dann mit der Keule, Jugendliche seien leichter durch Extrempositionen verführbar. Dazu sei folgendes gesagt: Der Ausschluss von 16- und 17-jährigen bei Wahlen hat in der deutschen Geschichte noch nie dazu geführt, dass das Volk besser vor Extremen geschützt war. Das Gegenteil ist richtig: Sowohl 1968 als auch 1989 und heute sind es in großer Zahl junge Menschen, die für die Demokratie und gegen Gewalt und Extreme auf die Straße gehen.

Keine Experimente mit dem Rechtsstaat!

Trotzdem ist genau so wahr, dass viele 16-jährige tatsächlich in höherem Maße manipulierbar sind als ältere Gruppen. Da sie nach geltendem Recht noch nicht volljährig sind, stehen sie weiterhin in verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen; zum Beispiel von den Eltern. Auch das muss beim Wahlrecht ab 16 bedacht werden. Ein solches „Experiment“ darf auf keinen Fall auf dem Rücken des Rechtsstaats durchgeführt werden.

Neue Wege sollten aber dennoch beschritten werden. Das Argument, Jugendliche hätten ja keine Erfahrung mit Wahlen halte ich für unlauter. Über eine solche Erfahrung verfügten unsere Vorfahren nach dem Ersten Weltkrieg schließlich auch nicht und trotzdem machten sie sich auf den mutigen Weg in die erste deutsche Republik.

Die herkömmlichen Gründe, warum 16-jährige auf ihr Wahlrecht verzichten sollen, hinken also größtenteils. Manche von ihnen sind willkürlich oder austauschbar. Viele andere sind leicht zu widerlegen. Wenn eine demokratisch verfasste Gesellschaft funktionieren soll, dann geht das nur, wenn möglichst wenige Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Demokratie gelingt nämlich nur gemeinsam. In den meisten Debatten zu diesem Thema vermisse ich allerdings oft ein zentrales Thema. Alle reden immer davon, warum es so eine gute Idee ist, Jugendliche wählen zu lassen oder warum das unter gar keinen Umständen erlaubt sein sollte. Kaum einem fällt allerdings die Ungerechtigkeit auf, wenn man Jugendliche einerseits wählen lässt, ihnen eine eigene Kandidatur, also das passive Wahlrecht, andererseits weiter vorenthält.

Von Wahlvieh, Amthor und der CDU

Für mich ist völlig klar: Aktives und passives Wahlrecht gehören untrennbar zusammen. Alles andere wäre zutiefst undemokratisch und würde der Demokratie eher schaden als nützen. Wenn Jugendliche zwar Parlamentarier wählen dürften, selbst aber keine Parlamentarier werden dürften, dann würde Politik über sie gemacht werden, bestenfalls noch für sie, aber niemals mit ihnen. Unter-18 – jährige würden auf diese Weise zum bloßen Wahlvieh degradiert werden, das zwar mitbestimmt, wie das Parlament zusammentritt, aber niemals aktiv daran teilnehmen könnte. Auf lange Sicht sehe ich hier die Gefahr von Politikverdrossenheit, weil sich Jugendliche trotz Wahlrecht nicht in der realen Politik wiederfinden.

Diese Gefahr steigt natürlich enorm, wenn man jungen Menschen generell das Recht zu wählen abspricht. Nachdem Rezo auf YouTube ordentlich Tacheles geredet hat, verbreitete sich der Hashtag NieMehrCDU wie ein Lauffeuer. Vor allem die Christdemokraten haben den Anschluss an die junge Generation verloren, sonst wäre eine solch ablehnende Haltung nicht denkbar, Amthor hin oder her.

Ein Spiegel der Gesellschaft

Um die Jugendlichen zu erreichen, müssten sich alle Parteien bewegen und ihre Programme zumindest in Teilen anpassen. Ich kann schon verstehen, warum einige Parteien darauf keine Lust haben. Denn durch ein solch einseitiges Wahlrecht – Wählen ja, aber Gewählt-werden nein – entstünde erst recht ein Ungleichgewicht in den Parlamenten. Die Parteien würden für Stimmen von Menschen werben, die selbst aber überhaupt nicht repräsentiert wären. Selbst wenn bereits heute die Realität anders aussieht, gilt weiterhin: Der Bundestag sollte ein möglichst umfassendes Gesamtbild der Bevölkerung widerspiegeln.

Doch, oh Schreck, solch eine Regelung würde ja fast zwangsläufig mit der Schulpflicht kollidieren. Außerdem hätten es Jugendliche schwerer, eine Ausbildungsstelle zu finden, wenn sie für ein Bundestagsmandat erst einmal beurlaubt werden müssten oder sich die Stellensuche dadurch um Jahre verzögern würde. In Bundesländern wie Baden-Württemberg hat man daher einen sehr geschickten Kompromiss gefunden. Jugendliche dürfen dort zwar nicht an den Wahlen zum Landtag teilnehmen, dafür aber an Bürgerbegehren und anderen plebiszitären Mitwirkungsformen.

Ein guter Kompromiss

Das gute am Plebiszit ist, dass dort stets sachbezogene Themen behandelt werden. Es geht nicht um die Wahl von Abgeordneten oder die Zusammensetzung eines Parlaments. Bei Volksbegehren geht es immer um konkrete politische Fragestellungen, etwa ob eine neue Schwimmhalle gebaut werden soll oder ob ein Bahnhof unter die Erde verlegt werden soll. Anders als bei abstrakten Parlamentswahlen gibt es hier immer etwas unmittelbar zu entscheiden. Man kann Jugendlichen nicht vorwerfen, und anderen natürlich auch nicht, sie würden die komplexen politischen Zusammenhänge nicht verstehen, wenn sie die Wahl haben zwischen Ja, Nein oder einer Stimmenthaltung.

Ich halte eine solche Praxis für sehr sinnvoll, weil sie Jugendliche zwar eindeutig miteinbezieht, ein einseitiges und undemokratisches Wahlrecht allerdings verhindert. Warum 16-jährige nicht mitbestimmen dürfen, was im Land vor sich geht, erschließt sich mir nicht. Den Argumenten, warum sie zu jung sind, ein tatsächliches Mandat auszuüben, stehe ich jedoch offen gegenüber. Und solange das eine nicht gewährleistet ist, darf auch das andere nicht stattfinden. Getreu dem Motto: Alles oder nichts.

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