Im Namen des Volkes

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Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte ist schuldig der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, gemäß dem Paragraphen 89a, Absatz 1, Absatz 2 und Absatz 2a. Er wird daher zu einer Freiheitsstrafe von einem 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt. Er trägt die Kosten des Verfahrens.

Sie haben ganz richtig gehört: keine Bewährung. Das Gericht ist nämlich nicht der Ansicht, dass die Gründe für eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung gegeben sind, aber dazu später mehr. Nun erst einmal zu den Gründen, weswegen wir Sie schuldig gesprochen haben.

Die meisten Bürgerinnen und Bürger werden den Straftatbestand, weswegen Sie verurteilt wurden, überhaupt nicht kennen. Und das ist auch gut so. Immerhin sprechen deutsche Gerichte selten ein solches Urteil. In Ihrem Fall ist das aber leider dringend notwendig.

Ich bin mir auch sicher, dass die meisten Menschen wenig mit diesem Straftatbestand anzufangen wissen: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Was soll das sein? Die meisten werden jetzt einen schwerbewaffneten Terroristen vor Augen haben, der sich irgendwo hinstellt und eine Explosion herbeiführt. Natürlich ist das auch eine schwere Gewalttat, aber sie ist selten staatsgefährdend – zumindest ist sie nicht dazu geeignet, wenn es bei einem einzelnen Täter bleibt.

Was Sie getan haben, eignet sich allerdings viel zu gut dazu, die Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik zu untergraben oder sogar außer Kraft zu setzen. Denn durch Ihr Verhalten provozieren Sie ja geradezu einen zweiten Lockdown und eventuell sogar Ausgangssperren. Das mag dann zwar durch das Infektionsschutzgesetz gedeckt sein, aber die Notwendigkeit für diese Maßnahme, die haben Sie erzeugt. Allerdings nicht alleine, denn Sie haben ja, wissentlich oder unwissentlich, eine ganze Reihe an Mittätern. Und mit diesen Mitstreitern zwingen Sie den Staat förmlich dazu, die Bewegungsfreiheit seiner Bürger massiv einzuschränken. Mit freier persönlicher Entfaltung wie sie im Grundgesetz verbrieft ist, hat das dann nur noch bedingt zu tun.

Jetzt muss für eine Verurteilung noch ein weiterer Aspekt erfüllt sein: Die Straftat muss sich gegen das Leben anderer richten – und zwar gemäß den Paragraphen 211 oder 212 im Strafgesetzbuch. Das heißt konkret: Mord und Totschlag. Letzteres sehen wir hier nicht, aber ein Mordmerkmal ist hier allemal erfüllt. Tausende Menschen sind bereits am Coronavirus gestorben und das maßgeblich auch, weil Menschen wie Sie zu bequem waren, die Maske richtig aufzusetzen. Das kann man einerseits als Mord durch Unterlassen bewerten, aber eben auch als Bequemlichkeit. Und was, wenn nicht Bequemlichkeit, ist denn bitteschön ein niederer Beweggrund? Außerdem ist das Virus auf jeden Fall ein gemeingefährliches Mittel, mit dem die Tat begangen wird.

Da wären wir auch schon beim nächsten Thema: dem Virus. Wissen Sie, was das Problem ist? Das Virus lebt nicht, im Prinzip ist es ein Gegenstand. Als solches kann es problemlos als Waffe verwendet werden. Und dass es ein gesundheitsgefährdender Stoff ist, ich denke, darüber besteht Einvernehmen im Saal.

Sie waren in den letzten Wochen im Urlaub; auf Mallorca um genau zu sein. Solche Reisen sind glücklicherweise nicht verboten, aber was Sie dort gemacht haben, das schlägt dem Fass den Boden aus. Hemmungslos waren Sie viermal innerhalb einer Woche „hart Party machen“, wie Sie es nennen. Soll ich Ihnen verraten, was die deutsche Justiz dazu sagt? Beschaffung und Verwahrung der Waffe zur letztendlichen Tatbegehung. Selbstverständlich sind Sie daher auch nach Absatz 2a zu verurteilen, immerhin sind Sie trotz der aktuellen Gefahrenlage auf die Balearen gereist und haben dort trotz aller Widrigkeiten zügellos gefeiert. Es war Ihnen in diesem Moment mindestens egal, ob andere dabei zu Schaden kommen. Auch dafür kennt die Rechtsprechung einen Begriff: Eventualvorsatz.

Einen minderschweren Fall, wie er ja im Gesetz angedeutet wird, sieht die Kammer hier nicht, das ergibt sich aus der kopflosen Feierei, die Sie da drüben getrieben haben. Statt sich nach Ihrer Rückkehr in freiwillige Quarantäne zu begeben oder zumindest die Alltagsmaske richtig zu tragen, setzen Sie sich in den vollgestopften Bus und husten erst einmal, was das Zeug hält.

Dieses Urteil ist vielleicht auch gar nicht das letzte, was Sie von der Justiz zu hören bekommen. Denn der Gesetzgeber hat sich ausdrücklich die Möglichkeit vorbehalten, gegen Täter wie Sie Führungsaufsicht anzuordnen. Das heißt im günstigsten Fall regelmäßige Termine beim Bewährungshelfer und im schlimmsten Fall eine elektronische Fußfessel. Darüber hat aber im Falle des Falles ein anderes Gericht zu entscheiden. Sie sollen aber wenigsten schon mal davon gehört haben.

Und nun kommen wir noch einmal auf unsere Entscheidung zu sprechen, die Strafe nicht zur Bewährung auszusetzen. Wir glauben, dass von ihnen weiterhin eine hohe Gefahr ausgeht, weitere ähnliche Straftaten zu verüben. Durch ihre konsequente Weigerung während dieser Verhandlung, die Maske über die Nase zu ziehen haben Sie das erneut unter Beweis gestellt. Auch wenn Sie nicht vorbestraft sind, ist das keine Garantie dafür, dass Sie Bewährung erhalten. Eine Milderung der Strafe nach Absatz 6 des Gesetzes kommt ebenfalls nicht in Betracht, immerhin haben Sie durch Ihr anhaltendes Falschtragen nicht dazu beigetragen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern.

Gegen dieses Urteil kann noch innerhalb einer Woche ab heute Revision eingelegt werden. Die Verhandlung ist geschlossen.


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Alles oder nichts – Wählen mit 16

Beitragsbild: jette55, pixabay.

Lesedauer: 10 Minuten

Wer in Deutschland unter 18 ist, hat bei Wahlen häufig schlechte Karten. Nur in einigen Bundesländern dürfen Jugendliche bei Kommunal- und Landtagswahlen ihre Stimme abgeben. „Richtig so“, meinen die einen. „Unfair“, protestieren die anderen. Viele Skeptiker lassen sich von plumpen Vorannahmen leiten, während einige Befürworter wichtige Spielregeln der Demokratie hinten anstellen. Dabei geht es bei dieser Frage doch um das Miteinander, und nicht um das Gegeneinander.

Wahlen FSK 18

“Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Beim Wahlalter für die Bundestagswahl ist das Grundgesetz eindeutig. Wer nun noch glaubt, dass nur Volljährige in Deutschland wählen dürfen, der lese sich das Zitat aus der Verfassung noch einmal Wort für Wort durch. Denn nur das passive Wahlrecht, also das Recht, gewählt zu werden, ist an die Volljährigkeit gekoppelt. Das aktive Wahlrecht hingegen ist noch präziser an ein bestimmtes Alter gebunden. Dieses Alter ist momentan deckungsgleich mit der Volljährigkeit. Bei Verfassungsänderung könnte es also unkompliziert weiter gesenkt werden, ohne den Begriff der Volljährigkeit auszuhöhlen oder anzugreifen. Das ermöglichte es auch den Parlamentariern der Brandt-Ära das Wahlalter von damals 21 auf 18 Jahre abzusenken.

Doch für eine solche Grundgesetzänderung ist eine Zwei-Drittel – Mehrheit im Bundestag erforderlich. Die unionsgeführte Bundesregierung kann die Reform des Wahlrechts also kinderleicht blockieren. Denn auch wenn die Große Koalition geschrumpft sein mag – ihr sind weiterhin über die Hälfte der Sitze im Bundestag sicher. Auf Bundesebene wird sich ein Wahlrecht für 16-jährige also weiterhin nicht durchsetzen lassen.

Der Mythos von den komplexen politischen Zusammenhängen

Auf Landesebene sieht es da schon ganz anders aus. Artikel 38 des Grundgesetzes beschäftigt sich mit den Wahlen zum Bundestag, nicht aber mit denen zu den Landtagen. Für ihr jeweiliges Wahlrecht sind die Bundesländer selbst verantwortlich. Inzwischen dürfen 16-jährige in vier Bundesländern an den Landtagswahlen teilnehmen (und zwar in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein). In sechs weiteren Ländern sind die 16- und 17-jährigen zumindest nicht von den Kommunalwahlen ausgeschlossen. In Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt haben die jungen Menschen ein umfassenderes Wahlrecht als in den übrigen sechs Bundesländern.

In über der Hälfte der Republik dürfen 16-jährige also weiterhin nicht wählen. Viele der Kritiker einer entsprechenden Wahlrechtsreform berufen sich immer wieder auf die gleichen Argumente. So bezweifeln viele von ihnen, ob 16-jährige bereits in der Lage sind, die komplexen politischen Zusammenhänge zu verstehen. Ich aber frage: Wer, wenn nicht diese Altersgruppe? Genau dann werden Schüler nämlich im Gemeinschaftskundeunterricht an das Wahlsystem der Bundesrepublik herangeführt. Was ein Ausgleichsmandat ist und wie es zustandekommt, kann so mancher 16-jähriger sicher besser erklären als jemand, der schon mehrere Bundestagswahlen hinter sich hat.

Wenig überraschend kommt ein solches Argument häufig von der Partei um Christian Lindner. Der tiefgelbe Partei- und Fraktionschef machte vor nicht allzu langer Zeit gehörig von sich reden, als er das politische Verständnis jugendlicher Klimaaktivisten bezweifelte. Und das kommt ausgerechnet von einem Mann, der einst selbst als – Achtung, Pointe! –16-jähriger in seine Partei eintrat. Im übrigen ist eine Mitgliedschaft bei den Julis (Jungen Liberalen) bereits im zarten Alter von gerade einmal 14 Jahren möglich.

Lappen ja, Wahlschein nein

Womit wir auch schon beim nächsten Argument der Skeptiker wären. In solch jungen Jahren hat man andere Dinge im Kopf als Politik. Stimmt. Die nächste Mathearbeit zum Beispiel. Oder den ersten Freund. Oder die Führerscheinprüfung. Denn Fahrstunden dürfen 16-jährige in Deutschland problemlos absolvieren. Von vielen Wahlen bleiben sie allerdings ausgeschlossen.

Außerdem ist dieses Argument leicht umkehrbar. Es suggeriert nämlich beinahe, dass ältere Menschen an nichts anderes als an Politik denken. Wenn ich nicht gerade einen neuen Beitrag für diesen Blog schreibe, denke ich zum Beispiel oft an Essen. Oder an meine Freunde. Oder an Geld. Und nicht jeder denkt so oft über politische Zusammenhänge nach wie ein Bundestagsabgeordneter. Weder 16-jährige noch 40-jährige.

Die Jugend macht Druck

Vielleicht mag es stimmen, dass politisches Desinteresse verstärkt unter jungen Leuten auftritt. Doch hier werden grandios Ursache und Wirkung vertauscht. Würde man das Wahlrecht für Unter-18 – jährige öffnen, so würden sich viele Teenager ganz anders mit Politik und Gesellschaft auseinandersetzen. Das Phänomen „interessiert mich nicht“ würde in dieser Alterskohorte dann nicht mehr signifikant öfter auftreten als bei deutlich älteren Menschen.

Übrigens hat nicht nur die FDP eine Jugendorganisation. In vielen weiteren Parteien treten zahlreiche Jugendliche für ihre politischen Überzeugungen ein. Dieses Engagement geht dabei oft über Parteigrenzen hinaus. In jüngster Zeit bewies die Fridays-for-Future – Bewegung, welch enormes politisches Potenzial, und vor allem Interesse, in der Jugend steckt.

Die Gegner des Ab-16 – Wählens kommen dann mit der Keule, Jugendliche seien leichter durch Extrempositionen verführbar. Dazu sei folgendes gesagt: Der Ausschluss von 16- und 17-jährigen bei Wahlen hat in der deutschen Geschichte noch nie dazu geführt, dass das Volk besser vor Extremen geschützt war. Das Gegenteil ist richtig: Sowohl 1968 als auch 1989 und heute sind es in großer Zahl junge Menschen, die für die Demokratie und gegen Gewalt und Extreme auf die Straße gehen.

Keine Experimente mit dem Rechtsstaat!

Trotzdem ist genau so wahr, dass viele 16-jährige tatsächlich in höherem Maße manipulierbar sind als ältere Gruppen. Da sie nach geltendem Recht noch nicht volljährig sind, stehen sie weiterhin in verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen; zum Beispiel von den Eltern. Auch das muss beim Wahlrecht ab 16 bedacht werden. Ein solches „Experiment“ darf auf keinen Fall auf dem Rücken des Rechtsstaats durchgeführt werden.

Neue Wege sollten aber dennoch beschritten werden. Das Argument, Jugendliche hätten ja keine Erfahrung mit Wahlen halte ich für unlauter. Über eine solche Erfahrung verfügten unsere Vorfahren nach dem Ersten Weltkrieg schließlich auch nicht und trotzdem machten sie sich auf den mutigen Weg in die erste deutsche Republik.

Die herkömmlichen Gründe, warum 16-jährige auf ihr Wahlrecht verzichten sollen, hinken also größtenteils. Manche von ihnen sind willkürlich oder austauschbar. Viele andere sind leicht zu widerlegen. Wenn eine demokratisch verfasste Gesellschaft funktionieren soll, dann geht das nur, wenn möglichst wenige Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Demokratie gelingt nämlich nur gemeinsam. In den meisten Debatten zu diesem Thema vermisse ich allerdings oft ein zentrales Thema. Alle reden immer davon, warum es so eine gute Idee ist, Jugendliche wählen zu lassen oder warum das unter gar keinen Umständen erlaubt sein sollte. Kaum einem fällt allerdings die Ungerechtigkeit auf, wenn man Jugendliche einerseits wählen lässt, ihnen eine eigene Kandidatur, also das passive Wahlrecht, andererseits weiter vorenthält.

Von Wahlvieh, Amthor und der CDU

Für mich ist völlig klar: Aktives und passives Wahlrecht gehören untrennbar zusammen. Alles andere wäre zutiefst undemokratisch und würde der Demokratie eher schaden als nützen. Wenn Jugendliche zwar Parlamentarier wählen dürften, selbst aber keine Parlamentarier werden dürften, dann würde Politik über sie gemacht werden, bestenfalls noch für sie, aber niemals mit ihnen. Unter-18 – jährige würden auf diese Weise zum bloßen Wahlvieh degradiert werden, das zwar mitbestimmt, wie das Parlament zusammentritt, aber niemals aktiv daran teilnehmen könnte. Auf lange Sicht sehe ich hier die Gefahr von Politikverdrossenheit, weil sich Jugendliche trotz Wahlrecht nicht in der realen Politik wiederfinden.

Diese Gefahr steigt natürlich enorm, wenn man jungen Menschen generell das Recht zu wählen abspricht. Nachdem Rezo auf YouTube ordentlich Tacheles geredet hat, verbreitete sich der Hashtag NieMehrCDU wie ein Lauffeuer. Vor allem die Christdemokraten haben den Anschluss an die junge Generation verloren, sonst wäre eine solch ablehnende Haltung nicht denkbar, Amthor hin oder her.

Ein Spiegel der Gesellschaft

Um die Jugendlichen zu erreichen, müssten sich alle Parteien bewegen und ihre Programme zumindest in Teilen anpassen. Ich kann schon verstehen, warum einige Parteien darauf keine Lust haben. Denn durch ein solch einseitiges Wahlrecht – Wählen ja, aber Gewählt-werden nein – entstünde erst recht ein Ungleichgewicht in den Parlamenten. Die Parteien würden für Stimmen von Menschen werben, die selbst aber überhaupt nicht repräsentiert wären. Selbst wenn bereits heute die Realität anders aussieht, gilt weiterhin: Der Bundestag sollte ein möglichst umfassendes Gesamtbild der Bevölkerung widerspiegeln.

Doch, oh Schreck, solch eine Regelung würde ja fast zwangsläufig mit der Schulpflicht kollidieren. Außerdem hätten es Jugendliche schwerer, eine Ausbildungsstelle zu finden, wenn sie für ein Bundestagsmandat erst einmal beurlaubt werden müssten oder sich die Stellensuche dadurch um Jahre verzögern würde. In Bundesländern wie Baden-Württemberg hat man daher einen sehr geschickten Kompromiss gefunden. Jugendliche dürfen dort zwar nicht an den Wahlen zum Landtag teilnehmen, dafür aber an Bürgerbegehren und anderen plebiszitären Mitwirkungsformen.

Ein guter Kompromiss

Das gute am Plebiszit ist, dass dort stets sachbezogene Themen behandelt werden. Es geht nicht um die Wahl von Abgeordneten oder die Zusammensetzung eines Parlaments. Bei Volksbegehren geht es immer um konkrete politische Fragestellungen, etwa ob eine neue Schwimmhalle gebaut werden soll oder ob ein Bahnhof unter die Erde verlegt werden soll. Anders als bei abstrakten Parlamentswahlen gibt es hier immer etwas unmittelbar zu entscheiden. Man kann Jugendlichen nicht vorwerfen, und anderen natürlich auch nicht, sie würden die komplexen politischen Zusammenhänge nicht verstehen, wenn sie die Wahl haben zwischen Ja, Nein oder einer Stimmenthaltung.

Ich halte eine solche Praxis für sehr sinnvoll, weil sie Jugendliche zwar eindeutig miteinbezieht, ein einseitiges und undemokratisches Wahlrecht allerdings verhindert. Warum 16-jährige nicht mitbestimmen dürfen, was im Land vor sich geht, erschließt sich mir nicht. Den Argumenten, warum sie zu jung sind, ein tatsächliches Mandat auszuüben, stehe ich jedoch offen gegenüber. Und solange das eine nicht gewährleistet ist, darf auch das andere nicht stattfinden. Getreu dem Motto: Alles oder nichts.

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„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

Lesedauer: 8 Minuten

Nie seit der Wende wurde in Deutschland so laut und so unüberhörbar „Wir sind das Volk“ gerufen wie in den letzten Jahren. Nie seit der Einheit wurden so ungeniert Deutschlandflaggen geschwenkt wie in den letzten Jahren, Fußball-Großereignisse ausgenommen. Und nie wurde trotz allem so sehr an der Meinungsfreiheit in unserem Land gezweifelt wie heute.

Ein geeintes und freies Land

Deutschland im Herbst 2019. Seit 30 Jahren ist die Mauer weg. Seit 29 Jahren ist auch die Einheit auf der Landkarte verwirklicht. Wovon viele Ostdeutsche jahrzehntelang träumten, ist nun auch in den neuen Bundesländern Realität: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Freiheit der Berufswahl, Freiheit der Person, Freiheit der Meinung und der Rede. Im Bundestag sitzen aktuell sieben Parteien, aufgeteilt in sechs Fraktionen. Eine solche Vielfalt an unterschiedlichen Strömungen war zuletzt Ende der 1950er im Bundesparlament vertreten.

Nichtsdestotrotz fallen immer wieder Begriffe wie „Altparteien“, „politischer Mainstream“ und „Lügenpresse“. Mancheiner spricht gar von Zensur. Menschen gehen zuhauf auf die Straße, um ihrer Empörung über die Politik der letzten Jahre Luft zu machen. Offen fordern sie die Bundeskanzlerin zum Rücktritt auf. Sie haben Angst vor einer Überfremdung im Land, sie bangen um ihre Jobs. Sie vermissen eine faire und kritische Berichterstattung in den Medien. Sie sagen ihre Meinung.

Das können sie in Deutschland auch. Denn hierzulande gilt die Meinungsfreiheit. Durch Artikel 5 des Grundgesetzes ist sie verbrieftes Recht eines jeden Bürgers. Doch die Bedeutung des Begriffs der Meinungsfreiheit hat sich in jüngster Zeit gewandelt. Immer häufiger wird Meinungsfreiheit mit ungezügelter Meinungsäußerung gleichgesetzt. Und genau das ist sie nicht. Bereits der Text im Grundgesetz macht auf die Grenzen der Meinungsfreiheit aufmerksam. So darf die geäußerte Meinung weder dem Strafgesetz zuwiderlaufen noch die „Ehre“ des anderen verletzen.

Von Gutmenschen, Kapazitätsgrenzen und Völkerball

Ganz praktisch heißt das, der Spaß hört auf, wenn zu Straftaten aufgerufen wird, der Holocaust geleugnet wird oder das Gegenüber schlicht beleidigt wird. Meinungsfreiheit bedeutet schließlich auch immer die Freiheit des anderen. Und genau hier liegt der Hund begraben. Was in den letzten Jahren zu beobachten ist, ist nicht der Abbau von Meinungsfreiheit. Es ist eine geringere Bereitschaft, die Meinung anderer zu akzeptieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen und den anderen ernstzunehmen.

Kritik begegnen viele mit einer fast automatischen Abwehrhaltung. Dem Gegenüber wird immer seltener die Freiheit zugestanden, anderer Meinung zu sein. Wer nicht alles in Grund und Boden verdammt, was von der Bundesregierung kommt, ist selbstredend ein linksgrün-versiffter Gutmensch. Dieser Mechanismus funktioniert auch in die andere Richtung. Sahra Wagenknecht spricht von offensichtlichen Grenzen der Aufnahmebereitschaft von Asylsuchenden? Kusch, kusch, ins braune Eck!

Solche Diffamierungen sind einer ernsthaften Debatte natürlich nicht zuträglich. Viel eher unterdrücken solche Verbarrikadierungen jede faire Diskussion. Es ist wesentlich bequemer, sich von Schutzwällen aus Anschuldigungen und Vorverurteilungen vor der Meinung anderer abzuschotten. Viele Menschen haben verlernt, was es bedeutet, miteinander zu diskutieren. Wer ernsthaft miteinander ins Gespräch kommen möchte, muss auch immer einen Teil seiner selbst offenlegen. Debattieren geht eben nicht ohne Zugeständnisse. Andere mit der eigenen Meinung abwerfen und bloß nicht vom Gegenüber getroffen werden – das bringt uns nicht weiter. Wir müssen weg von dieser Völkerballlogik. Es nützt viel mehr, die Hand aufzuhalten und den Ball wieder aufzufangen.

Der Wolf im Schafspelz

In Ray Bradburrys Roman „Fahrenheit 451“ löschen die Feuerwehrmänner nicht etwa Brände. Im Gegenteil, sie legen Feuer, um unliebsame Kritik aus der Welt zu schaffen. Etwas ähnliches können wir heute beobachten. Die am lautesten gegen Zensur auf die Straße gehen, haben oft mit Meinungsfreiheit selbst nicht viel am Hut. Nicht jeder, der sich zum Fürsprecher der freien Rede aufschwingt, lässt andere gerne zu Wort kommen. Wie in Bradburrys Klassiker tarnen sich die Feinde der Meinungsfreiheit als deren Verfechter, die den angeblich um sich greifenden Brand der Zensur löschen wollen. Sie implizieren, dass die freie Meinung in Deutschland akut bedroht sei. Wer jedoch auf die Straße gehen darf, umringt und geschützt von hunderten Polizisten, um den Verfall der Meinungsfreiheit zu beklagen, der braucht sich genau darum eigentlich keine Sorgen zu machen.

Glaubt man gewissen rechten Parteien, so könnte man meinen, der Staat wirft im Minutentakt unliebsame Kritiker in die Kerker unter dem Kanzleramt. Fakt ist allerdings: Noch nie wurde in diesem Land ein einziger Demonstrant von Pegida, noch ein anderer „besorgter Bürger“, aufgrund seiner bloßen Meinung mit staatlichen Repressalien überzogen. Der inzwischen beinahe geflügelte Satz „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ impliziert, dass bereits heute tabu ist, was gestern noch völlig legitim war. Die wenigsten realisieren, dass das gesagte schon immer tabu war. Sie entlassen sich mit diesem Satz selbst aus der Verantwortung, das geäußerte kritisch zu hinterfragen. Sie mobilisieren sich gegenseitig und begreifen nicht, dass am Ende genau das Gegenteil von echter Meinungsfreiheit steht.

Meinungsfreiheit vs. Meinungsäußerung

Künstliche Bedrohungskulissen haben schon oft zum Ziel geführt. Die Rechtspopulisten heute bringen sich in die Opferrolle, um unliebsame Kritik zu entwerten. Sie suggerieren direkte Angriffe auf die Meinungsfreiheit, um die Freiheit anderer einzuschränken. Doch ein solch perfides Vorgehen lässt sich auch bei anderen Akteuren beobachten. Stichwort „Rüstungsetat“: Die Verteidigungsministerin AKK will auf Biegen und Brechen das heilige Zwei-Prozent – Ziel erreichen. Ihre Logik geht an den Fakten ebenso vorbei wie die der AfD. Lauscht man AKKs Reden, so könnte man meinen, der Russe stünde vor dem Brandenburger Tor, während der Franzose gerade im Saarland einmarschiert. Das ist ebenso an den Haaren herbeigezogen wie die von Rechtspopulisten verbreitete Mär, es gäbe Gesinnungshaft.

Immer häufiger wird Meinungsäußerung gegen Meinungsfreiheit ausgespielt. Es gibt einen Ort auf dieser Welt, an dem das häufiger geschieht als anderswo. Ein Ort, wo jeder das sagt, was ihm auf der Seele brennt. Ein Ort, an dem sich die meisten unangreifbar fühlen und nicht mit Gegenwehr rechnen: Der Küchentisch. Dort wird alles rausgehauen, was in anständigen Diskussionen keinen Platz gefunden hat. Entweder, weil die nötigen Argumente fehlen oder weil man eigentlich gar keine Lust hat, darüber ernsthaft zu debattieren. Das gute am Küchentisch: Was dort gesagt wird, bleibt dort.

Beim Internet ist das nicht so. Dieser gigantische öffentliche Küchentisch ist eine wahre Fundgrube an unterschiedlichen Ansichten und Meinungen. Kopflos wird hier eine Provokation nach der anderen vom Stapel gelassen. Guter Nährboden für eine sachliche Diskussion ist das wirklich nicht. Und genau darum geht es im Internet auch gar nicht. Viele Menschen sind einfach froh, dort all das sagen zu dürfen, womit sie anderswo mit Gegenwind zu rechnen hätten. Einige verkriechen sich hinter der Anonymität des Netzes. Meinungsaustausch rückt immer mehr in den Hintergrund. Meinungsmache leider nicht.

Immerhin gibt es bestimmte Algorithmen, die die angezeigten Inhalte für Nutzer vorauswählen. Ein negativer Kommentar unter einem Bild kann dazu führen, dass man bald eine Reihe weiterer negativer Kommentare zu dem Werk vorgeführt bekommt. Man fühlt sich kurzzeitig in seiner Meinung bestätigt, bevor sachlich recherchierte Nachrichten das soeben errichtete Gebäude zum Einsturz bringen wollen. Natürlich reagiert man dann mit Entrüstung. Und mancheiner spricht dann sogar von Lügenpresse.

Die digitale Ghettoisierung

Das wirklich bedenkliche ist, dass das Internet zum Teil ein rechtsfreier Raum ist. Erst kürzlich hat das Landgericht Berlin entschieden, dass die Bundestagsabgeordnete Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) auf das übelste beleidigt werden darf. Viel zu lange hat man versäumt, das Strafrecht auch im Internet anzuwenden – und es wird weiter versäumt. Es greift nicht einmal zu weit, wenn man sagt, es entstünden regelrechte Parallelwelten im Internet. Im Zuge dieser digitalen Ghettoisierung kann jeder beinahe unbehelligt in seiner Blase leben. Jeder kann sich seine eigene Realität so herrichten, wie es ihm beliebt. Das Internet bietet die ideale Voraussetzung dafür: Unpassende Fakten und Meinungen werden einfach ausgeblendet. Passt doch einmal etwas nicht in die eigene Wirklichkeit, wird mit harten Bandagen zurückgeschlagen.

Fakt ist: Es gibt in Deutschland die Meinungsfreiheit – und es wird sie auch weiterhin geben. Aber man darf eben nicht alles sagen, was man denkt. Wer es trotzdem tut, der leidet an Tourette. Das war viele Jahre lang absolut unstrittig. Heute ist es das nicht mehr. Ja, die Meinungsfreiheit in diesem Land ist bedroht. Aber nicht von staatlicher Zensur. Die Menschen scheinen eher zu vergessen, was Meinungsfreiheit bedeutet und wie wertvoll sie ist.

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