Vertane Chancen

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Die Bundestagswahl steht an, dabei sind die Ergebnisse der drei Landtagswahlen im Osten nur halb verdaut. In allen drei Bundesländern sind die Regierungen zwar vereidigt, trotzdem sehen sich die Parlamente dort mit einer beängstigend starken AfD konfrontiert. Einmal mehr heißt es: Der Osten ist extrem. Diese Extremismuserzählung greift aber zu kurz. Sie verschleiert, welchen enormen Umbrüchen die östlichen deutschen Bundesländer ausgesetzt waren und wie viel demokratisches Potenzial auf dem Weg verlorenging.

2013 war alles besser?

Die AfD ist Volkspartei im Osten. Die jüngsten Wahlergebnisse lassen gar keinen anderen Schluss zu. In Thüringen liegt die Höcke-Partei sogar gut 10 Prozent vor der zweitplatzierten CDU. In mehreren ostdeutschen Bundesländern verfügt die AfD mittlerweile über eine Sperrminorität, mit der sie wichtige Entscheidungen empfindlich mitbeeinflussen kann.

Vor knapp zwölf Jahren hätte das niemand für möglich gehalten. Der damals neuen Alternative für Deutschland mit ihren wenig opportunen Ideen und Konzepten sagte man ein Schicksal voraus wie vielen neuen Parteien. Sie würde sich innerhalb kurzer Zeit selbst zerlegen und nach ein paar wenigen aufsehenerregenden Wahlerfolgen wieder in der Versenkung verschwinden. Irgendwie hatte man damit auch recht: Die AfD von 2013 hat sich zerlegt und ist in der Versenkung verschwunden. Zurückgeblieben ist eine schwer kontrollierbare rechte Bestie, die unsere Demokratie bei jeder Gelegenheit zu destabilisieren versucht.

Gar nicht so demokratisch

Schnell zeichnete sich der Trend ab, dass die AfD besonders im Osten punkten konnte. Immerhin zog sie dort in die ersten Parlamente ein. Das lag sicher nicht nur an günstig gelegten Wahlterminen, sondern auch an dem demokratischen Aufbruch, den die noch junge Partei simulierte.

Von Anfang an setzte sie auf eine äußerst zugespitzte Rhetorik, die anscheinend in manchen Bundesländern besser ankommt als in anderen. Die Ansprache allein macht’s aber nicht, andere Faktoren spielen ebenso eine Rolle. Politische Ränder hatten in den neuen Bundesländern aber erwiesenermaßen leichteres Spiel: Die Zustimmung zu Parteien wie der DVU, der NPD, aber auch zur PDS sind mehr als nur ein Trend.

Und bevor das ganze in einen weiteren Text ausufert à la „Ich erkläre euch, warum der Osten so extrem ist“, haben reale Wahlergebnisse längst bewiesen, dass die AfD ein gesamtdeutsches Problem ist. Trotzdem trägt sie ihr extremistisches Potenzial im Osten besonders ungeniert zur Schau. Als der CDU-Abgeordnete Andreas Bühl die Vorgänge bei der Konstituierung des Thüringer Landtags als versuchte Machtergreifung einordnete, mag das polemisch gewesen sein, im Wesentlichen aber zutreffend.

Kapitalismus zum Anfassen

Noch heute gilt es als chic, das starke Abschneiden extremer Parteien und die immanente Unzufriedenheit im Osten mit dem Strukturwandel zu erklären. Und es stimmt: Die Abwicklung eines wesentlichen Teils existenzsichernder Wirtschaftszweige in der ehemaligen DDR hat die Menschen dort nachhaltig verunsichert. Die Heilsversprechen aus dem Westen waren kaum ausgesprochen, schon lagen die Träume in Trümmern.

Es greift aber zu kurz, ein paar Werkschließungen zur Mutter aller Probleme zu erklären. Mindestens genau so ernüchternd wird gewesen sein, dass auf diesen harten Schnitt zu Beginn der 1990er Jahre nie eine echte Erholung folgte. Im Gegenteil: Trotz eines nicht gekannten Ausmaßes an politischer Partizipation fielen viele Selbstverständlichkeiten weg. Arbeitsplätze waren plötzlich nicht mehr sicher, die Suche nach einem geeigneten Kita-Platz für den Nachwuchs gestaltete sich auf einmal nervenaufreibend und zäh und echte Obdachlose kannte man sonst bestenfalls aus dem Westfernsehen.

Zu verlockend war der Ruf des Kapitalismus, der über die Mauer schallte. Mit Chiffren wie Fernsehern, Autos und Reisefreiheit versprach er allgemeinen Wohlstand, ein Versprechen, das selbst im Westen dieser Zeit nicht mehr haltbar war. Als sich angesichts dieser Zustände allmählich Widerstand formierte, folgte die westdeutsche Antwort prompt: Ihr wolltet die D-Mark, jetzt lebt auch mit den Nachteilen. In bemerkenswert überheblicher Manier verdrehte man die Tatsachen und unterstellte den ostdeutschen Mitbürgern, sie würden sich über ihr selbstgewähltes Schicksal erheben. So kann Integration und Wiedervereinigung nicht funktionieren. Weder gesellschaftlich noch politisch.

Wege zur Demokratie

Der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) ließ sich einmal zu der Bemerkung hinreißen, der Osten des Lands sei nicht demokratiesozialisiert. Das ist nicht nur ein heftiger Punsh ins Gesicht jedes Ostdeutschen, diese bodenlose Frechheit verkennt auch die Realität. Denn die Wege zur Demokratie verliefen für Ost und West völlig unterschiedlich.

Dem Westen der Republik wurde die Demokratie von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg quasi übergestülpt. Was beim ersten Mal nicht funktioniert hat, sollte nun beim zweiten Anlauf erfolgreicher sein. Und tatsächlich stieß die Idee einer neuen deutschen Demokratie auf fruchtbaren Boden. Das blanke Entsetzen über die Gräueltaten in der NS-Zeit und das Wirtschaftswunder in den 1950er und 1960er Jahren taten dann ihr Übriges, um die Demokratie in der Gesellschaft zu verankern. Mit den Jahren wurde sie aber immer mehr zum Selbstläufer. Die Menschen richteten sich in ihr ein und hörten auf, sie zu hinterfragen.

Der Preis für demokratische Verhältnisse war im Osten deutlich höher. Nach vierzig Jahren Fremdbestimmung setzten die Menschen dort der Diktatur ein Ende. Sie wollten einen Staat, der demokratisch verfasst war und der dieses Wort nicht nur zum Schein im Namen trug. Als die Mauer gefallen war, endete die Aufbruchstimmung abrupt. Die westdeutsche Politik verstand es meisterlich, sich wie eine Löschdecke über den Ruf nach Mitbestimmung zu werfen und damit ihre liebgewonnene Wohlfühl-Demokratie zu verteidigen.

Geplantes Problemkind

Dabei wäre von der ostdeutschen Erhebung so viel zu lernen gewesen. Die bewährte westdeutsche Demokratie hätte wieder an Fahrt aufnehmen und sich durch die Übernahme bestimmter Strukturen aus dem Osten sogar fortentwickeln können. Wie wäre die weitere deutsche Geschichte wohl verlaufen, wäre es nicht beim Beitritt des Ostens zur Bundesrepublik geblieben, sondern hätte sich stattdessen ein neuer deutscher Staat mit einer eigenen Verfassung gebildet? Stattdessen bremste man eine echte Wiedervereinigung vorschnell aus. Dass ostdeutsche Parteien bei der Bundestagswahl 1990 besonders berücksichtigt wurden, tröstet über diesen Zustand kaum hinweg.

Man war nicht ernsthaft bereit dazu, sich aufeinander zuzubewegen und voneinander zu lernen. Dabei hätte es so viel zu entdecken gegeben. Eine gemeinsame Verfassung hätte der Demokratie einen neuen Push geben können. Der Dornröschenschlaf der Kontroverse ab den 00er-Jahren wäre höchstwahrscheinlich ausgeblieben. Stattdessen hätte man weiter leidenschaftlich miteinander gerungen. Und auch wenn im Meinungsstreit hin und wieder die Fetzen fliegen: Extremistische Kräfte hätten es schwerer gehabt fußzufassen.

Doch man ging einen anderen Weg. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurde die nachrangige Stellung der ostdeutschen Bundesländer manifestiert. Formal gab es sie nie, aber schon in den nächsten Jahren zeigte sich immer deutlicher, wer Gewinner und wer Verlierer des wiedervereinigten Deutschlands war. Der Osten wurde perfekt auf seine Rolle als Problemkind vorbereitet, dabei ist völlig klar: Dem Osten musste Demokratie nie beigebracht werden.


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Entfremdung auf Raten

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Der Parlamentarismus wird mehr und mehr zu einem Geschäftsmodell, einem attraktiven Arbeitsplatz. Der Fall Christian Lindner zeigt einmal mehr, dass sich viele Abgeordnete und Minister in der exklusiven Politblase einrichten und dabei völlig vergessen, wem sie eigentlich verpflichtet sind. Das setzt eine toxische Spirale in Kraft und Politiker und Wähler entfernen sich immer weiter voneinander. Ein Mehr an direkter Demokratie kann hier nachhaltig Abhilfe schaffen.

Ein verräterisches Dokument

Jetzt also doch: Das Aus der Ampel geht eindeutig auf das Konto von Christian Lindner. Mit einem sauber austarierten Schlachtplan wollten die Liberalen in selten revolutionärer Entschlossenheit die Ampelregierung überwinden. Der Plan scheiterte letztlich daran, dass ihnen sogar die Schnarchnasen von der SPD zuvorkamen. Irgendwie muss Kanzler Scholz von den Plänen Wind bekommen haben – oder er hat einfach nur eingesehen, dass die Fortsetzung der Ampel ein heilloses Desaster für’s Land wäre – und schmiss seinen Finanzminister hochkant aus dem Kabinett.

Allen Unschuldbeteuerungen zum Trotz belegt jetzt das sogenannte D-Day – Papier, wie sich die FDP den Ausstieg aus der allseits verhassten Regierung vorgestellt hat. Mit militärischen Begriffen wie „Überraschungseffekt“ und „offene Feldschlacht“ wollte die FDP dem von den Grünen als „Übergangsregierung“ titulierten Elend endgültig den Garaus machen. Von all dem will der standhafte FDP-Chef nichts gewusst haben. Neuerdings behauptet er sogar, das Ausstiegspapier sei ein Erzeugnis von Praktikanten gewesen.

Ob aus der Feder übereifriger Praktikanten oder auf Anweisung der Parteispitze – noch nie in der Geschichte der Bundesregierung wurde von einer regierungstragenden Partei so abfällig über die eigene Arbeit gesprochen wie mit diesem Papier. Damit tragen die Autoren zweifellos zu einer Unterwanderung einer demokratischen Institution bei – und blasen dabei in das gleiche Horn wie die immer stärker werdenden Extremisten auf der rechten Seite.

Falsches Spiel

Mit seiner strikten Weigerung, politische Verantwortung für diesen beispiellosen Vorgang zu übernehmen, spielt auch Christian Lindner mit dem Feuer. Anstatt sich der Ernsthaftigkeit der Situation zu stellen, beteiligt er sich daran, die Demokratie noch ein Stück lächerlicher zu machen. Die FDP sieht Regieren wohl eher als Spiel, bei dem man sich beleidigt zurückziehen kann, wenn nicht alles nach den eigenen Vorstellungen abläuft.

Es ist bei einer solchen Herangehensweise ausgesprochen ungünstig, wenn man nicht weiß, wann ein Spiel verloren ist. Christian Lindner auf der einen Seite hat vom Exit-Papier nichts gewusst, es nie gelesen und nie in Auftrag gegeben. Sein Ex-Parteifreund Volker Wissing auf der anderen Seite klammert sich mit letzter Kraft an die Macht und darf seit Neuestem gleich zwei Ministerien auf einmal vergeigen. Diese machtpolitische Skrupellosigkeit verpasst dem würdelosen Schauspiel der FDP den letzten Schliff.

Korruption mit Tradition

Wieder einmal zeigen sich zwei Spitzenpolitiker von ihrer schlechtesten Seite. Im Moment der politischen Niederlage interessiert sie nur eines: Wer ist schuld am Zusammenbruch der Regierungskoalition? Sie beweisen damit ein weiteres Mal, wie fremd ihnen die Menschen im Land geworden sind. Denn die meisten von ihnen haben diesen Meta-Streit gehörig satt. Sie sehen in Politikern einen korrupten Haufen, dem Macht und Posten über alles geht.

Die noch amtierende Bundesregierung tut alles, um diesen Eindruck weiter zu verfestigen. Das schlecht inszenierte Ampel-Aus ist dabei nur das vorläufige Ende einer Reihe schwerer persönlicher Verfehlungen. Aber was will man auch von einer Regierung erwarten, deren Chef von leicht durchschaubaren Erinnerungslücken heimgesucht wird? Transparenz wurde bei der Ampel nie großgeschrieben. Die RKI-Files und die Verstrickungen von Herrn Lauterbach in diesen Skandal sprechen eindeutig für sich.

Doch Politiker gelten nicht erst seit Ampel-Tagen als korrupt und unehrlich. Mit ominösen Geldkoffern und Schmiergeldern haben auch schon andere politische Generationen ihre Erfahrungen gemacht. Immer wieder wird davon geredet, solche Fehltritte erschütterten das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Das ist nicht ganz richtig. Sie zerstören den Glauben an sie.

Systemfehler

Politiker werden nicht zufällig korrupt und machtbesessen. Es liegt viel weniger an ihnen als Einzelpersonen; der Fehler ist vielmehr ins System eingewoben. Die meisten Minister, und teilweise selbst Abgeordnete, verfügen über viel zu große Spielräume, die förmlich zu Machtmissbrauch und ungehemmtem Lobbyismus einladen. Die gute Nachricht ist daher: Weil es sich um ein systemisches Problem handelt, lässt es sich ebenso systemisch beheben.

Es fehlt ein klares Gegengewicht zu dieser überwältigenden Machtkonzentration. Wenn die Bürgerinnen und Bürger stärker an den Entscheidungen beteiligt wären, dann fiele es Demokratie-Nestbeschmutzern wie Lindner, Wissing und Lauterbach deutlich schwerer, ihre egoistische Agenda durchzusetzen. Sie wären gezwungen, tatsächlich um ihre Anliegen zu kämpfen und sie vor der Bevölkerung zu rechtfertigen. In erster Linie müssten sie sich dazu aber mit der Lebenswirklichkeit ihrer Wähler auseinandersetzen und könnten dadurch bessere und klügere Entscheidungen treffen.

Die Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite hätten viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Sie würden dafür Sorge tragen, dass die beschlossenen Gesetze eher dem Mehrheitswillen entspricht als das jetzt der Fall ist. Durch direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen oder -befragungen fühlten sich die Menschen im Land viel stärker mit den getroffenen Entscheidungen verbunden und übernähmen teilweise Verantwortung dafür. Denn auch das ist ein wichtiger Aspekt in einer Demokratie.

Das viel beklagte schwindende Vertrauen in die Demokratie könnte so zumindest gebremst werden. Weil die Wählerinnen und Wähler die Sicherheit hätten, an den Entscheidungen mitgewirkt zu haben, könnten extremistische Kräfte ihnen viel schwerer einreden, sie würden grundsätzlich übergangen werden. Und weil dennoch unterschiedliche Meinungen zum Tragen kämen, wäre aktives Engagement für viele attraktiver.


Seit Monaten gilt es unter Politikern als chic, seine Politik besser zu erklären. Das ist eine sehr einseitige Sichtweise. Es fehlt der Wille, der Gegenseite zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Es findet kein Entgegenkommen mehr statt. Dauert dieser Zustand zu lange an, hören auch die Wähler immer weniger zu und wenden sich schließlich ab. In der Folge richten sich beide Seiten in voneinander abgeschotteten Parallelwelten ein, die echte Demokratie immer schwerer möglich machen.

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Ernstfall Demokratie

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Es ist seit Wochen in Stein gemeißelt: Am 23. Februar wird ein neuer Bundestag gewählt. Kanzler, Oppositionsführung und ein Ex-Koalitionär haben so entschieden. Der Zeitplan ist zwar weiterhin knapp, aber für jeden bleibt gerade so genug Zeit, um sich auf den vorgezogenen Wahlkampf vorzubereiten. In Zeiten politischer Umbrüche und großer Unzufriedenheit genießt man lieber weiter die liebgewonnene Wärme im Elfenbeinturm. Dass Demokratie unbequem sein muss, um zu funktionieren, findet bei der gut durchorchestrierten Bundestagswahl kaum Beachtung.

Vertuschter Formfehler

Deutschland bekommt einen neuen Bundestag. Der Wahltermin am 23. Februar ist schon heute in aller Munde. Das Problem dabei: Es gibt überhaupt keine Rechtsgrundlage für diesen Termin. Denn ausgerufen werden kann die Neuwahl erst dann, wenn der Bundespräsident den Bundestag aufgelöst hat. Das wird erst dann der Fall sein, wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verliert. Diese Möglichkeit hat er aber erst, nachdem er sie überhaupt gestellt hat. Außer einer Ankündigung dieses gewagten Schritts liegt bislang nichts vor.

Der 23. Februar ist also kein zwangsläufiger Termin. Er ist das Produkt eines Kompromisses, welches die Opposition dem scheidenden Kanzler abrang, nachdem dieser die Vertrauensfrage am liebsten bis in den Januar hinausgezögert hätte. Diese anfängliche Empörung über die Hinhaltetaktik von Olaf Scholz (SPD) wich auch bei der Opposition schnell einem Konsens über den anvisierten Wahltermin.

Demokratisches Planspiel?

Die Damen und Herren in den blauen Sesseln scheinen dabei zu vergessen, dass sie ihre herausgehobene Position nicht der gönnerhaften Haltung eines wackeligen Regierungschefs zu verdanken haben, sondern dem Willen der Bürgerinnen und Bürger. Es waren die Wählerinnen und Wähler, welche in einem demokratischen Akt über die Zusammensetzung des Bundestags und damit mittelbar der Bundesregierung entschieden haben.

Nun ist die Bundesregierung zerbrochen und kann sich nicht mehr auf eine Mehrheit im Parlament stützen. Die logische Konsequenz daraus wäre die unverzügliche Anberaumung der Vertrauensfrage gewesen und keine strategischen Spielchen, welche die Bürgerinnen und Bürger über Wochen der demokratischen Teilhabe berauben.

Denn bei der Festsetzung des provisorischen Wahltermins fand der Wählerwille keine Berücksichtigung. Es ging in erster Linie darum, den anstehenden Wahlkampf so günstig wie möglich zu platzieren. Der aufbrandende Wahlkampf ist schon mehr als zwei Monate vor der Wahl genau getaktet, die Umfragewerte werden immer ernsthafter als Richtwert eines Wahlergebnisses interpretiert. So entsteht der Eindruck eines demokratischen Planspiels, bei dem die Wähler kaum eine Rolle spielen. Das ist nicht nur riskant, sondern auch konträr zum Sinn und Zweck einer Demokratie: Sie lässt sich nicht planen.

Oppositionsversagen

Insgeheim würde wahrscheinlich jede Regierung ihre Vorhaben am liebsten völlig ungestört in die Tat umsetzen – wäre da nicht das Parlament mitsamt der Opposition, die ihr immer wieder auf die Finger klopft und die stressfreie Verwirklichung ihrer Pläne vereitelt. In den letzten Wochen jedoch hat diese Opposition kläglich versagt. Nach einer kurz aufflammenden Empörung über die verschleppte Vertrauensfrage, ist heute selbst Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) d’accord damit, sich an das Drehbuch des Kanzlers zu halten.

Die anfängliche Fundamentalblockade der Union wich einem allgemeinen Kanzlerkonsens. Zwar verhindert sie die Realisierung rot-grüner Minderheitsfantastereien, sie unterdrückt aber auch die Bildung möglicher anderer Mehrheiten, um neue Projekte an den Start zu bringen. Ein Teil des Plenums wird dabei völlig außen vor gelassen: Nach neuer Lesart gehören AfD, Linke und BSW dem Bundestag bis auf Weiteres nicht mehr an.

Taktische Verschleppung

Die Union hat ihren Kontrollauftrag verraten und gibs sich der hemmungslosen Hinhaltetaktik der Resteregierung hin. Sie spielt dabei eine unrühmliche Doppelrolle: Einerseits lässt sie sich als die Retterin vor Rot-Grün abfeiern, andererseits vermeidet sie es tunlichst, selbst Farbe zu bekennen. In einem intakt laufenden Parlamentsbetrieb müsste sich die Union ständig dafür rechtfertigen, warum sie bestimmte potenzielle Mehrheiten nutzt – oder eben nicht. Das passt der künftigen Kanzlerpartei so gar nicht ins Konzept.

Da ist es doch wesentlich bequemer, die Pause zwischen Auflösung des Bundestags und Neuwahlen ein wenig zu verlängern, damit dem Wahlkampf nicht die Realität in die Quere kommt. In exklusiver Runde hat man die Termine für Vertrauensfrage und Neuwahl so ausgekungelt, dass sie für manche Beteiligten ganz besonders günstig liegen. Die Vertrauensfrage galt schon vor ihrer Anberaumung als verloren. Dieses Szenario ist zwar sehr wahrscheinlich, seine unwidersprochene Voraussetzung jedoch zutiefst undemokratisch.

Auf Demokratie schlecht vorbereitet

Noch müssen sich alle Wählerinnen und Wähler bei der offiziellen Ausrufung von Neuwahlen gedulden. Diese Verzögerung wird mit teilweise fadenscheinigen Ausflüchten unterfüttert. So warnte die Bundeswahlleiterin vor dem enormen Verwaltungsaufwand, der mit vorgezogenen Neuwahlen einherginge. Sie gab sogar zu bedenken, dass bei einer unverzüglichen Vertrauensfrage gegebenenfalls nicht ausreichend Papier für Wahlzettel zur Verfügung stünde. Die Demokratie scheint in Deutschland schon an den einfachsten Bedingungen zu scheitern.

Auch kleine Parteien verweisen immer wieder auf den kaum zu bewältigenden Aufwand, vor dem sie bei einem knapp angesetzten Wahltermin stehen. Immerhin können sie die fristgerechte Aufstellung geeigneter Listen, die Bestellung von Wahlkampfmaterial und die Organisation publikumsstarker Wahlkampfauftritte nicht so locker aus dem Handgelenk schütteln wie Parteien, die schon seit Jahrzehnten im Bundestag sitzen. Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Das Recht der Bürgerinnen und Bürger, über die Zusammensetzung des Bundestags zu bestimmen, wiegt im Zweifelsfall aber schwerer.

Ein demokratisches Lehrstück

Trotzdem stellen rasche Neuwahlen alle Beteiligten vor enorme Härten. Um diese möglichst geringzuhalten, gibt es die Fristen, die gerade bis zur Unkenntlichkeit ausgeleiert werden. Zwischen der Vertrauensfrage und den Neuwahlen liegen nicht mehr als 81 Tage. Auch wenn vorgezogene Bundestagswahlen nicht die Regel werden sollten: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Möglichkeit von Neuwahlen ganz bewusst vorgesehen, man muss sich dieser Möglichkeit also jederzeit bewusst sein.

Aus heiterem Himmel kam das Ampel-Aus schließlich auch nicht. Es ist daher ein Unding, dass die Organisation von Neuwahlen plötzlich alle Beteiligten derart überrumpelt. Überraschend kommt diese Entwicklung jedoch auch nicht. Sie reiht sich ein in einen wohlfeilen Politikstil, der aktive Basisdemokratie bislang nur gestreift hat und turnusmäßige Wahlen eher als notwendiges Übel erachtet.

Es ist daher gut, dass die nun anstehenden Neuwahlen den Politikbetrieb gehörig durcheinanderwirbeln und sowohl den Abgeordneten als auch den Wählerinnen und Wählern ganz genau vor Augen führen, wer im Staat die Hosen anhat. Die Wahlen am 23. Februar können durchaus als Lehrstück dienen, um künftig auf den Ernstfall Demokratie vorbereitet zu sein.


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