Weimar forever

Lesedauer: 7 Minuten

Seit einer Woche ist der Rechtsrutsch in Italien besiegelt. Das Rechtsbündnis um Giorgia Meloni erreichte bei den Wahlen vom 25. September die absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis übertraf sogar die Umfragewerte. Nicht nur das erschreckend gute Abschneiden rechter Parteien bei der Wahl ist ein Alarmsignal: Im Gegensatz zu 2018 nahm die Wahlbeteiligung erneut ab. Wie lange sich Meloni an der Spitze der Regierung hält, wird die Zeit zeigen. Ihre Wahl zur Regierungschefin wird die demokratischen Verhältnisse in dem südeuropäischen Land jedoch nicht festigen.

Triumph für Rechts

Giorgia Meloni wird die nächste Ministerpräsidentin Italiens. Das gilt als sicher. Sie ist damit die erste Frau in diesem Amt, aber nicht die erste Rechtspopulistin. Viele stufen die Politikerin sogar als rechtsextrem ein. Der Sieg von Giorgia Meloni ist für einige ein Schlag ins Gesicht. Ihr Triumph kommt aber nicht überraschend.

Der fulminante Sieg des Rechtsbündnisses setzt einen Trend fort, der sich seit Jahren immer weiter aufbaut. Nicht nur in Italien sind die Rechten auf dem Vormarsch. Auch in anderen Ländern Europas gibt Rechtsaußen bei vielen Themen den Ton an.  Die AfD hat sich mittlerweile in der deutschen Parteienlandschaft fest etabliert, mit Marine Le Pen war für eine waschechte Rechtsextremistin das französische Präsidentschaftsamt zum Greifen nah, in Polen regiert seit einigen Jahren die nationalistische PiS-Partei. Letztere setzt sich vehement gegen das Recht auf Abtreibung ein und befördert die Diskriminierung von Homosexuellen und Transmenschen. Die Politik dieser Parteien spricht wahrlich Bände.

Mehrheit für die Nichtwähler

Der rechte Rand erlebt auch außerhalb Europas einen regelrechten Höhenflug. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro baut sein Land Schritt für Schritt in ein autokratisches Regime um und auch den US-Amerikanern wird die Präsidentschaft Donald Trumps wohl noch lange nachhängen.

All diese politischen Entwicklungen eint, dass sie anhand der Wahlergebnisse auf eine erschreckend große Resonanz treffen. Teilweise unterstützen mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler die Politik von Trump, Gauland, Meloni und Co.. Dass die Wahlbeteiligung in vielen Ländern gering ist, macht die Sache nur schlimmer. Anscheinend ist es einem Großteil der Bevölkerungen egal, wie stark die extreme Rechte in ihren Ländern ist. Sie nehmen ihr Recht auf politische Einflussnahme nicht wahr. Die Wahlergebnisse in fast allen Ländern mit Rechtsruck sind daher nicht repräsentativ, aber leider real.

Rechte Rattenfänger

Georgia Meloni ist eine Postfaschistin. Zahlreiche ihrer Äußerungen weisen darauf hin. Benito Mussolini will sie als fähigen Staatsmann verstanden wissen, der neben vielen Erfolgen ein paar Fehler gemacht hat. Es ist erschreckend, wie eine solche Person das bedeutendste Staatsamt Italiens bekleiden darf.

Fairerweise muss dazugesagt werden, dass nicht alle rechten Wähler Melonis Fratelli d’Italia ihre Stimme gaben. Viele von ihnen wählten auch die anderen Parteien des Bündnisses, setzten durch ihre Wahl von Personen wie Silvio Berlusconi aber dennoch ein deutliches Zeichen.

Trotzdem ist es nicht so, dass die Mehrheit dieser Wählerinnen und Wähler faschistisch eingestellt sind. Die meisten von ihnen sind verzweifelt und enttäuscht. Sie merken, dass viele politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sie überfordern und ihre Vertreterinnen und Vertreter in den Parlamenten keine angemessenen Lösungen dagegen anbieten. Sie fühlen sich zurecht abgehängt und im Stich gelassen.

Besonders enttäuscht sind viele von ihnen von der EU, die es sich in ihren Augen zum Sport gemacht hat, schwächere Mitgliedländer wie Italien oder Griechenland an der kurzen Leine zu halten und zu gängeln. In der Folge sind viele Bürgerinnen und Bürger nationalistischen Strömungen zugeneigt, die ihnen einen abgesicherten Raum ohne nennenswerte Einflussnahme von äußeren Kräften vorgaukeln.

Von Krise zu Krise

Dazu kommen aktuelle Entwicklungen und die Krisen der letzten Jahre. Wie kein anderes Land ist Italien weiterhin von den Folgen der Coronapandemie gezeichnet. Die Bilder von Leichensäcken, die aus italienischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getragen wurden, gingen um die Welt. Die gestiegenen Energiepreise aufgrund des russischen Einfalls in der Ukraine treffen Italien ebenfalls besonders hart. Auch dieses Land wird von kalten Wintertagen nicht verschont bleiben und viele Menschen wissen nicht, wie sie die anstehenden Kosten stemmen sollen.

Wie bei der PiS-Partei in Polen spielt auch die Fratelli d’Italia die religiöse Karte aus. Italien ist ein vom strengen Christentum geprägtes Land und reagiert anders auf religiöse Chiffren als das in Ländern wie Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Die Menschen haben außerdem gesehen, dass sich an ihren alltäglichen Problemen kaum etwas ändert, obwohl die Regierungen am laufenden Band wechselten. Für einige war das ein Grund mit der Wahl von Melonis Rechtsbündnis härtere Geschütze aufzufahren, für manch andere war es Anlass, daheimzubleiben.

Keine politische Konstante

Italien ist seit Jahren eines der Sorgenkinder der EU. Nicht nur die Finanzkraft des Landes bereitet der Union ernsthafte Sorgen, auch die demokratische Verfasstheit des Landes ist weniger gefestigt als in anderen Ländern. Die Menschen in Italien haben keine politische Konstante, an denen sie sich orientieren können. Während es in Deutschland keine Seltenheit ist, dass ein Bundeskanzler mehr als zehn Jahre durchregiert, kam in Italien kein einziger Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg auf eine so lange Amtszeit. Die Machtwechsel und Kabinettsumbildungen hatten teilweise nicht einmal ein Jahr lang Bestand.

Auch wenn die Demokratie bekanntlich vom Wechsel lebt, überfordert ein zu häufiger Wechsel die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Wahlentscheidung verkommt zum Glücksspiel und ihre Stimme ist wenige Monate später nichts mehr wert. Diese Uneinigkeit in der italienischen Demokratie ist auf Dauer schädlich für das Land.

Dazu kommt, dass einige Regierungswechsel nicht darauf zurückzuführen sind, weil sich die Entscheidungsträger nicht einig waren. Silvio Berlusconi beispielsweise ist korrupt und hat sein Amt deswegen verloren. Es dürfte viele Italienerinnen und Italiener dennoch irritieren, dass er trotzdem mehrfach Regierungschef ihres Landes war und nun wahrscheinlich erneut hohe Staatsämter bekleiden wird. Man kann es den rund 16 Millionen angesichts dieser demokratischen Schieflage nicht übelnehmen, dass sie auf ihr Wahlrecht verzichteten.

Weimar in Dauerschleife

Die Demokratie in Italien konnte seit dem Zweiten Weltkrieg kaum fußfassen. Neben den ständigen Regierungswechseln, dem Rechtsrutsch und den zahlreichen Politskandalen gab es in Italien nie eine ernsthafte Aufarbeitung des Faschismus. Bei Giorgia Melonis Äußerungen zu Benito Mussolini dürfte ein Herr Gauland vor Neid erblasst sein. So viel Vogelschiss hat nicht einmal die AfD zustandegebracht.

Im Grunde erleben die Italiener ein Weimar in Dauerschleife. Während in den 1920ern dauerhaft die Kriegsschuld und der Versailler Vertrag wie ein Damoklesschwert über der deutschen Republik hing, verhindert in Italien die nicht abgetragene Hypothek des Mussolinifaschismus seit Jahrzehnten eine funktionierende Demokratie. Manche Medien schreiben von einer Demokratiemüdigkeit der Italiener. Aber wie soll man von etwas müde sein, was man nie in seiner vollen Blüte erlebt hat? Die Menschen in Italien sind müde davon, sich immer wieder Hoffnungen auf Stabilität und Sicherheit zu machen, um dann doch enttäuscht zu werden. Von der Demokratie sind sie verdrossen und nicht müde.

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Er ist wieder da

Lesedauer: 6 Minuten

Der Krieg in der Ukraine hat vielen Menschen vor Augen geführt, wie zerbrechlich der Frieden in Europa ist. Erstmals seit den Jugoslawienkriegen kommt es wieder zu kriegerischen Handlungen auf europäischem Festland. Der Konflikt brodelte lange, nun ist er eskaliert. Scheinbar machtlos stehen die europäischen Staaten Putins Aggressionen gegenüber. Der Krieg in Europa – er ist wieder da.

Gefühlte Provokation und echte Aggression

Es herrscht Krieg in Europa. Nicht zum ersten Mal. Was viele lange Zeit für undenkbar hielten, ist nun brutale Realität geworden. Putin hat die Ukraine angegriffen. Stück für Stück versucht er, sich das Land einzuverleiben. Dafür greift er von mehreren Seiten an. Der Einmarsch ist eindeutig völkerrechtswidrig; mehrere hundert Menschen sind ihm bereits zum Opfer gefallen. Momentan kesselt der russische Machthaber die Hauptstadt Kiew ein. Der Zeitpunkt, um mit legitimen Sicherheitsinteressen Russlands zu argumentieren, ist endgültig vorbei.

Denn nichts kann diesen Angriff rechtfertigen – auch nicht eine gefühlte Bedrohung durch die NATO. Es ist richtig, dass sich die NATO in den vergangenen Jahren immer weiter gen Russland ausgebreitet hat. Wir wissen, dass zu keinem Zeitpunkt die Absicht bestand, Russland zu überfallen. Aus russischer Sicht war das anders. Die Osterweiterung der NATO musste die russische Regierung zwangsläufig als Provokation interpretieren.

Falsche Mittel

Daraus aber eine Rechtfertigung für einen kriegerischen Erstschlag abzuleiten, ist absurd. Es gab Bestrebungen der Ukraine, der NATO beizutreten und damit noch näher an Russland heranzutreten. Um das zu verhindern, besetzt Putin nun das ganze Land. Das ist genau so, als würde ein bulliger angsteinflößender Typ in den Raum kommen. In der Vermutung, er könnte ein Messer bei sich tragen und auf einen losgehen, kommt man ihm zuvor und massakriert ihn, bis er sich nicht mehr rührt. Die späteren polizeilichen Ermittlungen ergäben dann, dass der Mann außer seinem Geldbeutel und einer Clubkarte eines Fitnesscenters nichts weiter bei sich trug.

Auch die Legende, man wolle eine faschistische Machtübernahme in der Ostukraine verhindern, ist eine faule Ausrede. Erstens ist Putin selbst ein Diktator und zweitens ist es vom Völkerrecht in keinster Weise gedeckt, in ein Land einzumarschieren, weil einem anderen Land der Regierungsstil nicht passt. Selbst wenn sich eine Mehrheit in der Ostukraine einen Anschluss an Russland wünscht, ist dieses Ziel mit friedlichen Mittel zu erreichen und nicht durch Putsche und Kriege.

Ein altes Muster

Der Kalte Krieg in Europa ist einem heißen Krieg gewichen. Denn der alte Ost-West – Konflikt schwelte auch nach dem Untergang der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands weiter. Dieser Gegensatz war in den Köpfen der Menschen verankert und erlebte durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 bestenfalls eine Renaissance. Er wurde Anfang der 1990er-Jahre vorerst auf Eis gelegt. Man war bemüht um einen verträglichen und nachbarschaftlichen Umgang miteinander. Doch spätestens seit den 00er-Jahren taute der alte Zwist wieder auf.

Auffallend dabei ist, dass die gleichen Akteure im Mittelpunkt stehen wie bereits in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder spielen die USA, Russland, Europa und die NATO-Staaten die Hauptrolle. Auch die Argumente sind die gleichen geblieben. Russland verbittet sich jedwede Ausbreitung der US-geführten NATO nach Osteuropa. Die NATO hingegen heizt die Lage durch Militärmanöver am Schwarzen Meer weiter auf. Der Krieg in der Ukraine ist der neueste Höhepunkt in einer Spirale aus Unverständnis, Kriegstreiberei und Eskalationen.

Kriegsrelikte

Die Schuld für den Krieg in der Ukraine liegt allein bei Russland. Putin ist dort einmarschiert und Putin ließ die Waffen auf die ukrainischen Soldaten und die Bevölkerung richten. Verantwortlich für den Konflikt sind aber sowohl die russische Seite als auch die NATO. Die Sowjetunion ist Anfang der 1990er-Jahre untergegangen, die NATO aber blieb bestehen. Sie ist ein Relikt aus der Zeit des Kalten Kriegs und war ein Gegengewicht zur übermächtigen Sowjetunion, die mit den USA um die Vormachtstellung in der Welt konkurrierte.

Ihr Fortbestand und ihre weitere Ausdehnung, nachdem der Eiserne Vorgang gefallen war, ist widersinnig. Der Frieden in Europa wäre längerfristig gesichert gewesen, hätte man gleich zu Beginn der 1990er-Jahre ein neues Bündnis unter Einschluss Russlands aufgelegt. Persönlichkeiten wie Putin hätten dann niemals den Auftrieb erfahren, mit dem er nun diesen Krieg führen kann.

Bewährungsprobe

Nichts in Europa wird so sein, wie es war. Der eskalierende Konflikt in der Ukraine hat allen Europäerinnen und Europäern in erschreckender Weise vor Augen geführt, dass der Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Mit dem Einmarsch in die Ukraine stellt Putin Europa, die EU und die NATO vor eine harte Bewährungsprobe.

Nach den Statuten der NATO ist der Einfall in die Ukraine nämlich kein Bündnisfall. Die Ukraine ist kein Mitglied des Militärbündnisses und kann sich daher nicht auf die Verteidigung durch andere Staaten berufen. Deutschland mag Schutzhelme an die Ukraine geliefert haben – zur aktiven militärischen Verteidigung ist es nicht verpflichtet. Das weiß auch Putin. Mit dem Angriff auf die Ukraine ist er dem drohenden Bündnisfall zuvorgekommen.

Mit einer militärischen Intervention würde die NATO gegen ihre eigenen Grundsätze verstoßen und Putin Stoff liefern für seine Legende, man dürfte dem Westen nicht trauen. Im Zweifelsfall mischte er sich immer ein. Andererseits können sich die europäischen Staaten aus diesem Krieg nicht heraushalten. Putin würde ihnen das sicher als Schwäche auslegen und sich in seinen Allmachtsfantasien bestätigt fühlen. Dann wäre zu befürchten, dass er sich weitere Länder einverleibt, um einen Beitritt dieser Nationen zur NATO zu verhindern.


Der Krieg in der Ukraine ist das Produkt aus Entfremdung, Aufrüstung und gegenseitigen Provokationen. Nichts rechtfertigt diesen Angriff, aber vieles erklärt ihn. Die militärische Aufrüstung hatte für beide Seiten stets Vorrang vor diplomatischen Gesprächen. Viele Chancen sind ungenutzt verstrichen. Einmal mehr steht fest, was William Du Bois bereits im vergangen Jahrhundert sagte: „The cause of war is preparation for war.“ Echte Solidarität mit der Urkaine bedeutet, den aberwitzigen Weg der endlosen Aufrüstung für immer zu verlassen. Waffen verhindern keinen Krieg – sie verursachen ihn.

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Vergessen ohne Erinnerung

Lesedauer: 8 Minuten

Jeder Täter, der bis zum Exzess gemordet hat, gibt anderen die Möglichkeit, sich abzugrenzen. Nein, SO böse kann man selbst gar nicht sein. Die Prozesse gegen führende Köpfe des NS-Regimes waren richtig und wichtig. Sie offenbarten viel von dem Schrecken, das im Namen des deutschen Volkes verbrochen wurde. Ein Vertuschen war nicht mehr möglich. Ein Distanzieren wurde nötig. Doch für Distanz braucht man Nähe. Erinnern kann sich nur, wer sich der Vergangenheit stellt. Doch was, wenn es in einer Gesellschaft nur Exzesstäter gibt? Was, wenn eine kritische Auseinandersetzung nicht geduldet wird? Gerade heute zeigt sich, wie wichtig eine Kultur des Erinnerns ist, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Eine Kultur, die in Teilen Deutschlands viel zu lange nicht erwünscht war…

Die Frage der Schuld

Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Weite Teile des Landes sind zerbombt, viele Menschen mussten ihr Leben lassen. Alliierte Truppen marschieren in die besiegte Nation ein. Eine Teilung zeichnet sich ab. Neben wirtschaftlichen und politischen Fragen sahen sich die Deutschen aber auch mit einer ganz anderen Herausforderung konfrontiert: die Frage der Schuld. In den Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Sachsenhausen ermordeten die Nazis 6 Millionen Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Andersdenkende. Die Verantwortung war zu groß, als dass sie mit einer Besetzung des besiegten Staats ad acta gelegt werden konnte.

Noch in den 1940ern folgten Prozesse. Die Nürnberger Prozesse gingen in die Geschichte ein. Zwei Dutzend Angeklagte mussten sich für ihre Rolle im NS-Regimes verantworten. Eine grotesk geringe Anzahl an Angeklagten führt man sich die Schrecken des Nationalsozialismus vor Augen. Der Wunsch, zu vergessen, war groß. Vor allem die Deutschen wollten am liebsten nicht mehr an die letzten Jahre denken. Eine zweite Welle an Prozessen lief erst knapp fünfzehn Jahre später an. Mit ihnen wurden weitere grausame Details aus den Vernichtungslagern publik.

Prozesse mit Symbolwirkung

Auch wenn die Prozesse von Frankfurt reichlich spät kamen – sie leisteten einen enormen Beitrag zur Aufarbeitung des NS-Unrechts. Viele Menschen wurden direkt oder indirekt mit dem konfrontiert, was sie durch ihr Wegsehen zuließen. Die Ausrede, man habe von alledem nichts gewusst, verlor an Glaubwürdigkeit.

Für viele hatten diese Prozesse aber auch eine heilsame Wirkung. Denn vor den Richtern mussten sich nur jene verantworten, die außerordentlich viel Schuld auf sich geladen hatten. Vor Gericht standen ehemalige KZ-Aufseher und andere hochrangige Nazis. Jeder Exzesstäter, dem der Prozess gemacht wurde, beschwichtigte den „normalen Bürger“. Die Frage, was man selbst mit dem Grauen zu tun hatte, wurde wieder weiter in den Hintergrund gerückt. Trotzdem fanden die Prozesse statt.

Dabei ist auffallend, dass beide großen Prozesse auf dem Gebiet der Bundesrepublik stattfanden. Die DDR machte es sich da leichter. Sie verweigerte sich jeglicher kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und wälzte die Schuld an den Westen ab. Während man in der Bundesrepublik langsam einsah, dass fast jeder zum Erfolg des menschenverachtenden Regimes beigetragen hatte, verharrte die DDR auf dem Standpunkt, Hitlers Herrschaft war das Werk einzelner. Deswegen war es für die Kommunisten auch richtig, nur einzelne Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Schuld sonst beim kapitalistischen Nachbarn zu suchen.

Eine bessere Gesellschaft

Denn wer in der DDR als ehemaliger Nazi enttarnt wurde, hatte eine weitaus höhere Strafe zu erwarten als in der Bundesrepublik. Enttarnt wurden tatsächlich nur wenige, die verhängten Strafen waren dafür umso drakonischer. Die Sozialisten in der DDR gingen nämlich im Grunde davon aus, dass Faschismus in ihrer Gesellschaftsordnung überhaupt nicht möglich wäre. Der Wurm steckte ihrer Auffassung nach im verhassten kapitalistischen System des Westens. Sie drehten die Sache so, dass im Westen nur deshalb so viele Nazis vor Gericht standen, weil der Kapitalismus eine solche Gesinnung erst ermöglichte oder zwangsläufig dazu führte.

Selbst gestandene Kapitalismuskritiker können bei einer solchen Vereinfachung nur den Kopf schütteln. Eine solch vereinfachte Handhabung wie in der DDR nahm dem Volk als gesamtes nämlich die Verantwortung für das geschehene. Keiner in der DDR musste sich ernsthaft fragen, was er selbst denn zum Gelingen der NS-Herrschaft beigetragen hatte. Wichtig war nur, dass man sich mit einem sozialistischen System eines besseren besonnen hatte. Die DDR verstand den Sozialismus nicht nur als antifaschistisch, sondern als immun gegen den Faschismus.

Die DDR reduzierte das gewesene auf etwas abartiges. Der Faschismus war gemäß der Staatsräson etwas einmaliges, was unter sozialistischen Verhältnissen nie wieder passieren könnte. Die Kommunisten verbreiteten den Irrglauben, der Faschismus wohne nur dem Kapitalismus inne. Die zahlreichen Prozesse in der BRD taten ihr übriges.

Freispruch von Lenins Gnaden

Eine kritische Aufarbeitung fand im sowjetisch kontrollierten Deutschland also nicht statt. Folglich konnten auch keine Präventivmaßnahmen ergriffen werden. In ihrer unerträglichen Selbstsicherheit suchte die DDR-Führung die Schuld einzig beim Westen und sprach sich selbst von jeglicher Schuld frei.

Dabei übersah sie aber getrost, dass auch ihrem Staat eine gewisse nationalistische Note nicht abzusprechen war. Denn die DDR verstand sich als geschlossene Gesellschaft. Nach außen hin wurde das durch die Mauer versinnbildlicht. Nach innen demonstrierten die hohen Tiere wie Walter Ulbricht und Ernst Honecker die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Als Gruppe mit einer Identität musste auch sie sich von anderen Gruppen abgrenzen. Und das funktioniert am besten mit Gegensätzen.

Eine unmögliche Aufholjagd

Die Riege der DDR-Führung versäumte es aber nicht nur, eine kritische Aufarbeitung der NS-Zeit zu ermöglichen, sie verhinderte auch jedwede Erinnerung an die Grauen des Deutschen Reichs. Die furchtbaren Verbrechen dort waren Sache des Westens. Unter den Kommunisten hätte es so etwas nicht gegeben und Punkt.

Faktisch gab es im Osten Deutschlands also keine Erinnerungskultur so wie sie sich spätestens seit den Auschwitz-Prozessen im Westen des Landes durchsetzte. Das ganze Thema wurde als Inbegriff menschlicher Verderbtheit abgehakt. Die simple Erklärung dafür war der Kapitalismus. Eine „Wende“ hin zu einer echten Aufarbeitung der Vergangenheit konnte erst nach dem Fall der Mauer und nach der Einheit Deutschlands ansetzen.

Der Westen hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahrzehnte Vorsprung. In der DDR waren wichtige kritische Fragen stattdessen 40 Jahre lang totgeschwiegen worden. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht mussten sich die „Ossis“ an die „Wessis“ anpassen. Es war für die Bürger der ehemaligen DDR schlicht unmöglich, eine Erinnerungskultur nachzuholen, die das Regime so viele Jahre unterdrückt hatte.

Auch wenn sich die alten und die neuen Bundesländer in vielerlei Hinsicht angenähert haben, konnte sich die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit gerade in den ostdeutschen Bundesländern nicht festigen. Es verwundert daher kaum, dass gerade aus den östlichen Bundesländern der Ruf nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ laut wird.

Das Ende des aktiven Erinnerns

Die Ostdeutschen fühlen sich an vielen Stellen zurecht vom Westen überrumpelt; auch in dieser Frage. Unverschuldet sind sie von einem Extrem ins andere geraten. Fast nahtlos ging der rechtsextreme Terror unter Hitler über in einen linksextremen Fanatismus, der glaubte, seine bloße Existenz wäre ein geeignetes Mittel gegen die Vergangenheit. Als würde der Linksextremismus den Rechtsextremismus ausgleichen. Die Bürger der DDR mussten sich nie kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Nach der Wende wurden sie förmlich dazu gezwungen. Eine Abwehrhaltung dagegen ist beinahe logisch. Wenn dann auch noch andere Faktoren dazwischenkommen, wie eine schlechtere wirtschaftliche Verfassung, gewinnen Parteien wie NPD und AfD leichter an Zustimmung.

Wie wichtig eine Erinnerungskultur ist, liegt auf der Hand. Sehr rechte Parteien hatten es in den westlichen Bundesländern schon immer schwerer, Fuß zu fassen. Doch auch in diesen Bundesländern kann die AfD ein gutes Ergebnis nach dem anderen feiern. Doch hier profitieren die Rechtspopulisten von einem anderen Phänomen. Fast 80 Jahre nach dem Ende der faschistischen Gewaltherrschaft sind immer weniger Zeitzeugen noch am Leben, die aus erster Hand von den Schrecken erzählen können. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie gut die Deutschen sich erinnern können.

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