Endzeitstimmung

Lesedauer: 8 Minuten

Deutschland macht sich bereit für das Ende der Pandemie. Viele Menschen im Land sind sich sicher, dass mit Omikron die letzte schwere Welle der Pandemie die Weltbevölkerung heimsucht. Mut schöpfen sie aus den bisher milderen Verläufen der Erkrankung, die von Omikron hervorgerufen wird, aber auch aus den Statements vieler Wissenschaftler, die Licht am Ende des Tunnels sehen. Trotzdem hat der gesellschaftliche Zusammenhalt unter Corona schwer gelitten. Einige Gruppen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Politik und Medien tragen ein beträchtliches Maß an Mitschuld, dass das gesellschaftliche Klima in Deutschland nach zwei Jahren Pandemie eisige Temperaturen erreicht hat.

Noch nie war das Ende der akuten Pandemie so nah wie in der Omikronwelle. Trotz erschreckend hoher Infektionszahlen erwies sich die neue Virusmutation in vielen Fällen als weniger aggressiv als andere Varianten des Coronavirus zuvor. Dazu kommt, dass sich die neue Virusvariante zu einer Zeit durchgesetzt hat, als die Pandemiemüdigkeit neue Höhepunkte erreichte. Nach zwei Jahren Pandemie haben die Menschen schlicht keine Lust mehr auf Verzicht, Einschränkungen und Abstandhalten. Während sie sich in anderen Ländern bereits erleichtert die Masken vom Gesicht reißen, ist man in Deutschland noch abwartend-vorsichtig.

Hoffnungsschimmer am Horizont

Trotzdem ist Omikron auch hierzulande für viele gleichbedeutend mit milden oder gar symptomlosen Verläufen der Erkrankung. Viele sehen in der neuen Mutation vielleicht sogar ein ungefährliches Virus, bei dem man eine natürliche Durchseuchung leicht in Kauf nehmen kann. Wieder machen die Menschen den Fehler, dass in Zeiten der Pandemie nichts gewiss ist. Die Datenlage reicht für aussagekräftige Prognosen, aber nicht für ein abschließendes Bild der Lage.

Wir wissen, dass Omikron eine weitaus infektiösere Mutation ist als wir es in der Pandemie bisher erlebt haben. Wir wissen aber auch, dass die Generationszeit des Virus bei Omikron deutlich geringer ist als noch bei Delta. Das heißt, dass Infizierte für kürzere Zeit ansteckend sind. Es zeichnet sich außerdem der Trend ab, dass Omikron für weniger schwere Verläufe oder Todesfälle verantwortlich ist. Diese Entwicklung gibt den Menschen Mut und weckt die Hoffnung, dass die Pandemie bald zu Ende sein könnte.

Die Überlastung der Intensivstationen ist immerhin seit Wochen nicht mehr das Thema Nr. 1. Die kalte Jahreszeit hält weiter an und trotzdem verlor das Top-Argument der Impfpflichtbefürworter in letzter Zeit merklich an Schlagkraft. Viele Menschen haben seit Omikron nicht mehr so große Angst, mit einem schweren Verlauf auf der Intensivstation zu landen.

Endemische Normalität

Seit kurzem schleicht sich außerdem eine neue Vokabel in die Berichterstattung zum Virus ein. Das Hoffen auf eine „Endemie“ ist mit Händen zu greifen. Viele erwarten durch die neue Virusvariante, dass sich die Lage nachhaltig entspannt und sich das Coronavirus ähnlich „normalisiert“ wie Grippe- und Erkältungsviren. Hohe Fallzahlen wären dann im Herbst und im Winter weiterhin zu erwarten, nicht aber harte Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Teil-Lockdowns.

Diese Hoffnung wird durch Länder wie Dänemark oder Schweden weiter befeuert. In kurzer zeitlicher Abfolge fallen dort alle Schutzmaßnahmen gegen das Virus. Der Zustand der Endemie scheint dort offiziell ausgerufen zu sein. Die Menschen nehmen nicht so schwere Erkrankungen in Kauf, obwohl auch in diesen Ländern lange nicht alle Bürgerinnen und Bürger vollständig geimpft sind. Immer mehr Deutsche fragen sich angesichts dieses Vorgehens, warum solch ein Freedom Day nicht auch in der Bundesrepublik kommt.

Gefühlte Wahrheit

Viele haben sich so sehr auf Omikron und die Endemie fixiert, dass sie andere Faktoren zu leichtfertig ausblenden. Für sie steht fest, dass von Omikron eine weitaus geringere Gefahr ausgeht als von anderen Virusvarianten, obwohl viele Forscher zur Vorsicht mahnen. Die gleichen Forscher haben es in den letzten Monaten durch fehlerhafte Kommunikation aber auch geschafft, viel von ihrer Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Menschen leben nach ihrer gefühlten Wahrheit und nicht nach der, die sich empirisch nachweisen lässt.

Einerseits sprachen sich führende Forscherinnen und Forscher angesichts der Dominanz von Omikron für eine Verkürzung der gesetzlichen Quarantänezeit aus. Die kürzere Generationszeit machte lange Isolierzeiten unnötig. Andererseits begründeten sie den gleichen Schritt damit, dass zu lange Quarantänezeiten zu einem Kollaps der Infrastruktur führen könnten. Die viel infektiösere Omikronvariante würde früher oder später jeden befallen. Letzen Endes hätte das bedeutet, dass ein viel zu großer Teil der Bevölkerung in der Quarantäne festsitzen würde und ein reibungsloser Verkehr, eine umfassende Gesundheitsversorgung und die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern nicht mehr hätte gewährleistet werden können.

Kinder in Gefahr?

Politik und Medien verbreiteten die erschreckend hohen Infektionszahlen, um Werbung für das Großprojekt Impfpflicht zu machen und versuchten damit, gutgläubige Bürger hinter’s Licht zu führen. Die gebastelten Horrorszenarien haben ausgedient. Sie passen zwischenzeitlich nicht mehr zu den Erkenntnissen der Wissenschaft, auch wenn manche Vertreter weiterhin Alarm schlagen.

Viele Eltern und Lehrerinnen und Lehrer befürchten immerhin, dass der laxe Umgang mit Omikron zu einer Durchseuchung an Schulen führe. Sie kritisieren, dass Kinder und Jugendlichen im Kampf gegen die Pandemie ein weiteres Mal hinten runterfallen. Diese Vorstellung speist sich aus früheren Schreckensmeldungen zu Omikron, in denen befürchtet wurde, dass die neue Mutation besonders gefährlich für Kinder wäre.

Zwischenzeitlich ist klar, dass sich zwar vermehrt Kinder mit dem Virus infizieren, aber lange nicht ausschließlich. Dieser Irrglaube basierte auf Daten aus Afrika, wo die Mutante erstmalig nachgewiesen wurde. Auffallend war hier die hohe Infektionsrate bei Kindern. Diese ließ sich aber leicht dadurch erklären, dass ältere Menschen in Afrika aufgrund der katastrophalen Hygienezustände und der schlechten Gesundheitsversorgung selten das Corona-Risikoalter erreichten.

Pandemie ohne Bewährung

Der Trugschluss, Omikron würde signifikant mehr Kinderleben fordern, ist symptomatisch für den Umgang mit wissenschaftlichen Fakten durch Politik und Medien. Auch die täglichen Infektionszahlen werden verstärkt zum Nonplusultra der Lageeinschätzung aufgewertet. Dabei geben die Infektionszahlen ausschließlich Auskunft darüber, wie viele Menschen sich in einem bestimmten Zeitraum neu mit dem Virus infiziert haben, nicht aber darüber, wie viele davon schwer erkrankten, auf intensivmedizinische Maßnahmen angewiesen waren oder sogar verstarben.

Mit dieser augenscheinlichen Missinterpretation von Daten hat sich die Wissenschaft einen Bärendienst erwiesen. Bereits zu Beginn der Pandemie hatte sie mit einem schwindenden Vertrauen seitens der Bürgerinnen und Bürger zu kämpfen. In der nun angebrochenen Endzeitstimmung der Pandemie ist das Vertrauen in die Forschung weiter zurückgegangen. Dabei war die Pandemie stets auch eine Bewährungsprobe für die Wissenschaft. Drosten & Co. ist es allerdings nicht gelungen, das Vertrauensfundament in der Bevölkerung während dieser schweren Zeit zu festigen und auszubauen.

Der Exit aus der Pandemie

Weitaus größeren Misserfolg dabei hatte aber zweifelsohne die Politik. Seit Monaten ist die Coronakrise weitaus mehr als eine medizinische Notlage. Schon lange dominiert die politische Dimension in dieser Krise. Deutschland ist nach zwei Jahren Corona gesellschaftlich tiefer gespalten als je zuvor. Viele Politikerinnen und Politiker haben besonders in der zweiten Jahreshälfte 2021 rhetorisch gegen die Ungeimpften aufgerüstet. Sie schufen damit bereitwillig ein Klima, das auf Unverständnis, Ablehnung und Feindseligkeit fußt.

Eine Versöhnung ist weiterhin nicht in Sicht. Stattdessen bringt die Regierung immer mehr Menschen gegen sich auf. Der glasklare Wortbruch bei der Impfpflicht stößt vielen Menschen hart auf. Bei einigen von ihnen hatte das Vertrauen in Politik und Wissenschaft bereits gelitten, als klarwurde, dass die Impfstoffe nicht das hielten, was den Impfwilligen versprochen wurde. Dass die hohe Impfbereitschaft nicht das Ende der Pandemie bedeutete, das tragen viele den Politikern nach.

Die Rufe nach einer Exit-Strategie werden lauter. Die Menschen wollen endlich einen Fahrplan sehen, wie sich Deutschland aus der Spirale von Lockdowns, 2G und Impfpflicht befreit. Doch selbst wenn in absehbarer Zeit die Maßnahmen fallen, bleibt ein Problem weiter ungelöst: der Riss der durch das Land geht. Die Entzweiung der Gesellschaft hat nachhaltige Spuren hinterlassen. Den Politikerinnen und Politikern sollte klarwerden, dass sie auch dafür eine gute Strategie benötigen.


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Maßnahmen für’s Papier

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Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

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Die einen empfinden es als Angriff auf die deutsche Sprache, die anderen sehen darin einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung: das Gendern dominiert und polarisiert die Debatte um Vielfalt und Diversität. Rechte Kräfte nehmen das zum Anlass, den Befürwortern geschlechtergerechter Sprache einen Hang zum Linksextremismus zu unterstellen. Sie könnten damit kaum falscher liegen, war es doch immer ein Anliegen des Linksextremismus, möglichst alle Unterschiede zu beseitigen.

Keine linke Partei

Kaum eine andere Partei greift ihre politischen Gegner so scharf an wie die AfD. Im Zentrum des Weltbilds dieser Partei steht die eigene Meinung. Abweichende Ansichten werden verächtlich gemacht und in eine Ecke gestellt, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Immer wieder sehen sich besonders die Grünen den verbalen Entgleisungen von AfD-Mitgliedern und -Funktionären ausgeliefert. Die rechte Truppe wirft den Parteien links der Union pauschal Ökosozialismus, Genderwahnsinn und teilweise sogar Linksextremismus vor. „Linksgrün-versifft“ ist dabei das beliebteste Schimpfwort der AfD.

Man unterstellt den eher progressiv eingestellten Politikern damit sozialistische bis kommunistische Methoden in ihrer Arbeit. All das basiert aber auf einer Lüge. Besonders die Grünen entfernen sich immer weiter von traditionell linker Politik. Die ehemalige Friedenspartei sagt immer entschiedener Ja zu bewaffneten Bundeswehreinsätzen im Ausland. Schaut man sich die Wählerklientel der Grünen an, so steht fest, dass es einen spürbaren Wechsel in der Wählerschaft gab. Beim persönlichen Einkommen machen die Grünenwähler zwischenzeitlich den Wählern der FDP deutlich Konkurrenz.

Die Angst vor dem Anderen

Es grenzt schon an massiven Realitätsverlust, ausgerechnet dieser Partei eine Tendenz zum linken Extremismus zu unterstellen. Es gibt ihn schlicht nicht. Solche haltlosen Diffamierungen verharmlosen echten Extremismus eher. Vor allem die rechten Schreihälse können dadurch von ihrem Extremismusproblem ablenken.

Denn dass die Parteiideologie der AfD auf rechten Ressentiments beruht, liegt auf der Hand. Im Kern betont der Rechtsextremismus die Unterschiede zwischen Gruppen, Völkern und Kulturen. Anhänger dieser Weltsicht glauben an menschliche Rassen, bei denen sich die eigene Rasse aus unterschiedlichsten Gründen als die vornehmste und leistungsstärkste erwiesen hat. Andere Gruppen werden mit entwürdigenden Attributen versehen und damit herabgesetzt. Rechtsextreme sehen andere Kulturen als Gefahr, deren Existenzgrundlage darin besteht, das eigene Volk auszulaugen, zu überrennen und der eigenen Werte zu berauben. Niemand kann vor solchen Tendenzen bei der AfD mehr die Augen verschließen.

Alles gleich

Bei linkem Extremismus hingegen steht die Überwindung sämtlicher Unterschiede im Mittelpunkt. Der Linksextremist träumt von einer Gesellschaft, in der alle gleich sind. Das geht weit über gleiche Bildungschancen bei Kindern hinaus und hat auch nichts mehr mit gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit zu tun. In dieser Ideologie stehen die Menschen morgens zur gleichen Zeit auf, sie nehmen jeden Tag den exakt gleichen Weg zur Arbeit, produzieren im Akkord eine vordefinierte Menge und tragen dabei die gleiche Kleidung. So entsteht eine Gesellschaft, in der der Einzelne immer steuerbarer wird. Bald gibt es keine Individuen mehr, sondern nur noch das Kollektiv.

Die extreme Rechte, allen voran die AfD, beruft sich auf solche Definitionen, um progressive Politik verächtlich zu machen und als potentiell gefährlich darzustellen. Besonders starke Aversionen ruft dabei die gendergerechte Sprache hervor. Jenseits jeglicher berechtigten Kritik stellt die Neue Rechte das Gendern als sprachlichen Ausdruck des Linksextremismus dar.

Hauptsache anders

Nun könnte man einen Moment lang geneigt sein, dieser Argumentation zu folgen. Immerhin möchte inklusive Sprache möglichst jeden ansprechen und mitnehmen, egal wie unterschiedlich die Menschen sind. Die Ansprache unterschiedlicher Menschen ist aber lange nicht gleichbedeutend damit, Unterschiede abzubauen oder sogar komplett abzuschaffen.

Das Gegenteil ist der Fall. Beim Gendern geht es immer darum, Unterschiede zu betonen und für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Ohne Unterschiede zwischen den Menschen könnte dieses sprachliche Konstrukt nicht bestehen. Auch bei anderen Anliegen der angeblich so grünsozialistischen Gutmenschen steht die Differenz im Mittelpunkt. Bei Quoten in Unternehmen und Parteien beispielsweise spielt die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen ebenfalls eine übergeordnete Rolle. Sie wird dabei sogar dermaßen erhöht, dass andere Eigenschaften der Betroffenen oftmals zurückstehen.

Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

Dass Gendern und Diversity ein Auswuchs des Linksextremismus ist, bleibt eine Legende. Aber was ist es dann? Besonders demokratisch führen sich seine ärgsten Verfechter in der Regel nicht auf. Wer versucht, konstruktive Kritik an Quoten und woker Sprache zu üben, findet sich viel zu oft unfreiwillig unter Rechten wieder. Im Namen der Political Correctness werden sie diffamiert und moralisch auseinandergenommen. Eine demokratische Auseinandersetzung ist selten möglich. Gepaart mit der übermäßigen Betonung von Unterschieden erinnert dieser Umgang mit Andersdenkenden eher an die Methoden von rechts.

Wer das Fass aufmacht, man dürfe aus Rücksicht vor People of Color nicht mehr von „Schwarzfahren“ reden, der spaltet eher als zu einen. Selbst den angeblichen Opfern von konventionellen Begriffen wird damit eingeredet, dass sie sich gefälligst auch als Zielscheibe von Rassismus und Benachteiligung zu definieren haben.

Mit woker Sprache, Quotenregelungen und Gendern macht man Unterschiede sichtbar und baut sie nicht ab. Das ist aber auch überhaupt nicht der Anspruch dieser Instrumente politischer Korrektheit. Sie zelebrieren die Diversität und machen sie auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Die sprachliche Sichtbarkeit ist dabei vielen ein Dorn im Auge.

Im moralischen Aus

Dass gendergerechte Sprache besonders gut als Vorlage für hitzige Debatten taugt, dürfte inzwischen jedem klar sein. Viele Menschen sehen schlicht keine Notwendigkeit für Gendersternchen, Sprechpausen und den generellen Einsatz des Partizip I. In ihrem Umfeld spielen solche Fragen keine Rolle. Es ist richtig, Menschen für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Wer allerdings acht Stunden am Tag mit einem Dutzend verschiedenen Kulturen in Berührung kommt, braucht sicherlich keine Nachhilfe in angewandter Vielfalt. In vielen Niedriglohnjobs ist das längst Realität.

Völlig zurecht interpretieren es die Betroffenen als Bevormundung, wenn man über ihre Köpfe hinweg entscheidet, was als angemessen gilt und was nicht. Sie haben keine Lust, sich für ihre Ausdrucksweise zu rechtfertigen und sich wegen des generischen Maskulinums als Anti-Feministen brandmarken zu lassen. In diesen Fällen führt Diversity eher zu Unruhe als zu gesellschaftlichem Frieden.

Das liegt allerdings nicht an der Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern daran, wie damit umgegangen wird. Würde man die verschiedenen Stärken und Schwächen, die kulturellen Hintergründe und die nationale Herkunft wertschätzen, anstatt sie permanent zum Thema zu machen, wäre ein friedliches Zusammenleben weitaus einfacher. Der Streit ums Gendersternchen hat immerhin noch nie dazu geführt, dass sich Minderheiten sicherer und respektierter fühlen.


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Zum Schwarzärgern

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Weil Klimawandel

Lesedauer: 9 Minuten

Die Debatte um den Klimaschutz beherrscht die Medien und die öffentliche Wahrnehmung wie einst die Flüchtlingskrise. Egal worüber eigentlich diskutiert wird, eine Stellungnahme zur Klimarettung wird fast jedem abverlangt. Die Polarisierung in unserer Gesellschaft ist in vollem Gange. Die Gutmenschen von 2015 sind heute die Jünger der Greta. Wer vor Jahren für eine Schließung der Grenzen war, bezweifelt heute den menschengemachten Klimawandel. Die Gefahren einer solchen Polarisierung dürfen nicht unterschätzt werden.

Martin Schulz’s Last Stand

Am 12. September 2018 erhob sich der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, von seinem Sitz im Plenum des Bundestags. Er nutzte eine Kurzintervention, um eine Bemerkung zu der vorausgegangenen Rede von Alexander Gauland zu machen. Er führte aus, „[d]ie Reduzierung komplexer politischer Sachverhalte auf ein einziges Thema […] ist ein tradiertes Mittel des Faschismus.“ Unter dem Applaus seiner Parteifreunde und dem Protestieren von rechtsaußen schickte er hinterher, es sei höchste Zeit, dass „die Demokratie sich gegen diese Leute wehrt.“

Es folgte langanhaltender Applaus für Martin Schulz, teilweise gab es sogar stehende Ovationen. Natürlich bezog sich Schulz auf die Rhetorik der AfD und ihre beinahe pathologische Neigung, die Schuld für sämtliche Missstände im Land bei den Migranten und Asylanten zu suchen. Er traf mit seinen Äußerungen den Nagel auf den Kopf. Doch wenn man sich die Debattenführung der letzten Jahre anschaut, könnte man meinen, er kam mit dieser Einsicht etwas spät um die Ecke. Immerhin werden viele kleinere Debatten seit Jahren von viel größeren Themen überschattet und vereinnahmt.

Polarisierung spaltet

Nehmen wir beispielsweise die Flüchtlingskrise. Sie hat die deutsche Gesellschaft gespalten wie kaum ein Thema zuvor. Und natürlich war absehbar, dass die Ankunft zehntausender Asylsuchender das Land vor gewaltige Probleme stellen würde. Es war natürlich ebenso richtig, dass über die Lösung dieser Krise hart diskutiert wird.

Allerdings wurden über die Flüchtlingskrise ab 2015 andere wichtige Themen vernachlässigt oder sogar vergessen. Die Flüchtlinge waren dauerpräsent in den Medien. Man hatte das Gefühl, die Menschen in Deutschland würden sich um nichts anderes mehr scheren als ihren persönlichen Standpunkt zu einer neuen Asylunterkunft drei Straßen weiter.

Das polarisiert. Und die Folge von Polarisierungen sind immer zwei Lager, die sich schier unversöhnlich gegenüberstehen. Bist du für oder bist du gegen die Flüchtlinge? Ein Dazwischen wurde nicht akzeptiert. Die beiden Lager waren wie schwarze Löcher, die stetig wachsen und alles aufsaugen, was ihnen zu nahe kommt.

Zwischen Willkommenskultur und Schießbefehl

Dabei gibt es sehr wenige Menschen, die ernsthaft alle Flüchtlinge der Welt in Deutschland willkommenheißen möchten. Genau so wenige Menschen möchten am liebsten auf alles schießen, was der deutschen Grenze zu nahe kommt. Doch die Dauerpräsenz in den Medien, und auch die Debattenführung, gaukelte immer mehr Menschen vor, dass die beiden Lager immer größer würden. Und letztendlich wurden sie das dadurch auch.

Menschen, die sich differenziert und sachlich zu den Themen äußern wollten, wurden entweder nicht ernstgenommen oder zwischen den rivalisierenden Lagern zerrieben. Teilweise wurden sie eigenmächtig in eines der Lager zugeteilt. Die Saugwirkung ließ nicht zu wünschen übrig. So erging es beispielsweise Sahra Wagenknecht. Nach ihren kritischen Äußerungen zu den Ereignissen in Köln zur Jahreswende 2016 wurden selbst einer Frau, die jahrelang als eiserne Verfechterin des Kommunismus galt, rechte Tendenzen unterstellt.

Verdächtig ähnliche Argumentationsmuster

Den wirklich Rechten spielte die Omnipräsenz der Flüchtlinge natürlich in die Hände. Sie spannen beflissen die Legende von den raffgierigen Flüchtlingen, die sich in unseren Sozialsystemen einnisteten. Martin Schulz hat völlig recht: Das sind faschistische Rhetorikmuster.

Wie weit diese Muster unsere Debattenkultur inzwischen vergiftet haben, zeigt sich an einem aktuelleren Beispiel. Während man ab 2015 fast alles mit den Flüchtlingen begründete, kommt heute kaum noch eine Diskussion ohne den Klimawandel aus.

Zwischennotiz: Beides – sowohl die Flüchtlingskrise als auch die Rettung des globalen Klimas – sind Mammutaufgaben, denen man sich nicht verweigern darf. Sie bedürfen unglaublicher Kraftanstrengungen und haben daher einen berechtigten Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. So, weiter im Text.

Das erstaunliche an der Klimakrise: Das Argumentationsmuster wurde auf links gedreht. Bei der Flüchtlingsdebatte mussten die Flüchtlinge als Sündenbock für verfehlte politische Entscheidungen der letzten Jahre herhalten. Bei der Debatte ums Klima ist der Schutz desselbigen immer die Lösung aller Probleme.

Eine vorgeschobene Debatte

Gerade dieser Tage wird ein Thema wieder routiniert aufgewärmt: das Böllern an Silvester. Verschiedene Einzelhandelsketten haben sich in diesem Jahr zu einem Verkaufsstopp der beliebten Knallkörper bekannt. Vorrangiges Argument: die Feinstaubbelastung durch die Böllerei ist Gift für’s Klima. Stimmt so. Aber klar wird es mal wieder vorrangig auf’s Klima geschoben. Andernfalls müsste man schließlich auch selbstreflektierend zugeben, dass es von Anfang an Schwachsinn war, Sprengstoff an Laien zu verhökern.

Beide Argumente, der Klimaschutz wie der Gesundheitsschutz, sind gute Gründe, die Knallerei an Silvester abzuschaffen. Aber wieso bedarf es erst einer Sensibilisierung der Gesellschaft für Klimafragen, wenn die Gesundheit der Menschen durch Böller seit Jahr und Tag bedroht war? Der Einzelhandel macht es sich wirklich leicht. Und er springt auf den Zug mit auf. Ein Böllerverbot, das vorrangig aufgrund der Klimadebatte zustandekommt, obwohl es schon lange gute Gründe für ein solches Verbot gibt, leistet einen Beitrag zu einer weiteren Polarisierung der Klimadebatte insgesamt.

Diesel ist Diesel. Und Klima ist Klima.

Es ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft niemals gut, wenn sämtliche Fragen auf einen einzigen Aspekt heruntergebrochen werden. Das lähmt nämlich das Vorankommen einer Gesellschaft oder ist sogar kontraproduktiv. Zum einen führt ein solches Herunterbrechen zwangsläufig zu einer Polarisierung mit gegensätzlichen Lagern. Vorschläge und Ideen aus dem einen Lager führen zuverlässig zu Widerstand aus dem anderen Lager. Böllerverbot? Jetzt erst recht böllern! Die wollen mir meinen Diesel wegnehmen?! Ich kauf‘ mir erst recht einen! Tempolimit auf der Autobahn? Die können gleich mal sehen, wie schnell ich rasen kann!

Wenn jedes Problem nur noch mit einer gängigen Antwort beantwortet wird, dann vermischen sich Themen, die im Prinzip nichts miteinander zu tun haben. Wer redet denn heute noch vom Dieselskandal? Kein Mensch. Es wird darüber diskutiert, wie man die Feinstaubbelastung des Straßenverkehrs in den Griff bekommt.

Der Dieselskandal hat dem Thema Feinstaub neuen Aufwind verschafft. Dass er das getan hat, ist eigentlich absurd. Hat ernsthaft jemand geglaubt, Dieselautos könnten jemals klimaneutral sein? Dass hier in gigantischem Ausmaß betrogen wurde, steht außer Frage. Doch anstatt dieses Problem ernsthaft aufzuarbeiten, versuchte man es mit der Klimafrage zu beschwichtigen. Wenn Dieselautos sowieso verboten werden, dann juckt es keinen, dass früher mal mit welchen betrogen wurde. Kein Wunder, dass sich viele Menschen da zweimal vor den Kopf gestoßen fühlen.

Wieso denn jetzt das Klima?!

Das große Handicap des Klimawandels: Er ist viel zu abstrakt. Natürlich bemerken wir, dass sich das Wetter im Sommer geändert hat. Und selbstverständlich sind weiße Weihnachten zur Rarität geworden. Aber gerade in Deutschland sind die Folgen des Klimawandels noch relativ moderat. Deswegen sperren sich so viele Menschen auch gegen ein Böllerverbot. Was hat das denn mit dem Klima zu tun? Die Folgen sind ja nicht unmittelbar spürbar. Anders verhält es sich, wenn einem die halbe Hand von einem Chinaböller weggesprengt wird.

Gleiches Prinzip beim gerade wieder heiß diskutierten Tempolimit auf der Autobahn: Die Argumente von wegen Verkehrssicherheit haben nicht gezogen. Warum soll der Klimawandel das Blatt jetzt wenden? Die Menschen wurden durch konkrete Bilder, wie Menschen durch Windschutzscheiben geschleudert wurden, nicht von einem Tempolimit überzeugt. Wenn konkrete Beispiele scheitern, dann werden abstrakte noch viel weniger fruchten.

Ein Nebendarsteller in der Hauptrolle

Dass ein generelles Tempolimit auf der Autobahn einen Beitrag zur Reduktion des CO2-Ausstoßes leistet, kann von niemandem ernsthaft bestritten werden, der einen gesunden Menschenverstand sein eigen nennt. Viel wichtiger und viel konkreter ist ein Tempolimit doch aber, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu erhöhen. Der Klimaschutz ist ein begrüßenswerter Nebeneffekt einer solchen Regelung. Wenn er nun aber zum Hauptargument mutiert, verwundert es kaum, wenn sich die Fronten verhärten.

Eigentlich ist die Diskussion um ein Tempolimit sowieso obsolet. Spätestens wenn sich das autonome Fahren durchgesetzt hat, wird kein Weg mehr an einer generellen Geschwindigkeitsregulierung vorbeiführen. Vielleicht wird dann das leidige Thema Zeitumstellung vom Klimawandel vereinnahmt.

“Die Reduzierung komplexer politischer Sachverhalte auf ein einziges Thema […] ist ein tradiertes Mittel des Faschismus.“ Immer häufiger beherrschen einzelne Themen die Debatten über viel komplexere Sachverhalte. Was Martin Schulz bereits im letzten Jahr angeprangert hat, geht schon lange nicht mehr nur von der AfD aus. Eine solche Art der Debattenführung ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es ist tatsächlich an der Zeit, dass sich alle Demokraten dagegen wehren.

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