Hauptsache regieren

Lesedauer: 8 Minuten

Momentan laufen die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP auf vollen Touren. Das gesteckte Ziel ist eindeutig: Noch vor Weihnachten soll eine Regierung stehen. Das veröffentlichte Sondierungspapier versprach bereits Einigungen in wesentlichen Punkten. Diese betont locker-flockige Harmonie täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass besonders die Grünen zurückstecken mussten. Beim Klimawandel bleibt das Papier chronisch unkonkret, die Finanzierung ist fragwürdig und die kleinen Leute fallen hinten runter. Ein echter Neustart bleibt aus.

Weniger als vier Wochen nach der Bundestagswahl haben sich SPD, Grüne und FDP zu Koalitionsverhandlungen bereiterklärt. Dieser Fortschritt bei der Bildung einer neuen Regierung ist beachtlich, dauerte es in der Ära Merkel doch regelmäßig deutlich länger, bis sich in neues Kabinett zusammenfand. Wie es aussieht, können die drei Parteien ihr Versprechen vom Wahlabend halten: Noch vor Weihnachten wird eine neue Regierung stehen.

Koalition nach Drehbuch

Niemanden dürfte es ernsthaft überraschen, dass sich die Ampel-Parteien in so kurzer Zeit in vielen Punkten einig wurden. Bereits vor der Wahl vom 26. September zeichnete sich ein Ampelbündnis ab. Rot-Grün-Rot war auch wie bei den letzten Wahlen bereits im Wahlkampf kein echtes Thema mehr, Jamaika scheiterte maßgeblich an der Personalie Armin Laschet. Nicht einmal Christian Lindner war bereit, mit dieser tragisch-komischen Witzfigur zu koalieren.

Annalena Baerbock war in den Wochen vor der Wahl eher Dekoration als ernsthafte Konkurrentin. Ihre Aufgabe bei den Kanzlertriellen beschränkte sich darauf, den beiden anderen Kandidaten zu demonstrieren, welche Vizekanzlerin sie sich womöglich ans Bein binden würden. Zwischenzeitlich gilt selbst Baerbocks Vizekanzlerschaft nicht mehr als gesetzt.

Keine Lust auf Weiter-so

Auch die Medien erkannten schnell, welches Potenzial in der Ampel steckt. Nach sechzehn Jahren Merkel wäre es für keinen Unionskandidaten leicht gewesen, den Scherbenhaufen zusammenzukehren und das Machtvakuum der scheidenden Kanzlerin zu besetzen. Armin Laschet hat es den Journalisten und Nachrichtensendungen allerdings schon beachtlich leichtgegemacht, ihm von vornherein den Stempel des geborenen Verlierers aufzudrücken.

Die Lust auf eine Regierung ohne die Union war jedenfalls lange Zeit spürbar. Spätestens am Wahlabend stand fest, dass die alte Kanzlerpartei abzutreten habe. In absoluten Zahlen gemessen, verlor an diesem Abend keine Partei so stark wie die CDU. Die Wahlgewinner des Abends waren SPD, Grüne und FDP. Alle drei Parteien konnten teilweise deutlich zulegen. Eine gemeinsame Regierungskoalition ist allerdings nicht die zwangsläufige Folge daraus.

Vorbei sind die Zeiten der Lagerkoalitionen, in denen ausschließlich Parteien zusammenarbeiteten, die sich politisch besonders nahestanden. Schwarz-Gelb ist schon lange passé und auch eine Mehrheit des linken Lagers dürfte sich nach dem desaströsen Abschneiden der Linkspartei auf absehbare Zeit erledigt haben. Neue Bündnisse sind gefragt und es erstaunt schon, wie schnell sich die drei Akteure grundsätzlich geeinigt haben. Immerhin wurden alle drei Parteien von unterschiedlichen Wählerschichten aus unterschiedlichen Gründen gewählt.

Keine halben Sachen

Auf den ersten Blick scheint das Sondierungspapier eine breitgefächerte Sammlung guter Ideen zu sein. Es ist tatsächlich für jeden was dabei. Schaut man aber genauer hin, so entzaubert sich dieses heißerwartete Dokument des Aufbruchs von selbst. An vielen Stellen bleibt das Papier blass und unkonkret. Besonders die Frage der Finanzierung ist nach wie vor nicht geklärt.

Fakt ist: Die Ergebnisse aus Sondierungsgesprächen sind noch kein Regierungsprogramm. Diesen Anspruch sollte man an die Gesprächsergebnisse der drei Parteien nicht stellen. Trotzdem bleibt der erhoffte Neustart aus, sollten es die wesentlichen Punkte in den Koalitionsvertrag schaffen. Besonders enttäuschend sind dabei die vereinbarten Ziele beim Kampf gegen den Klimawandel. Der vorgesehene Ausbau der erneuerbaren Energien wird nicht ausreichen, um den Energiebedarf des gesamten Landes zu decken. Die Pflicht zum Solardach ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Ausstieg aus der Kohleenergie bis 2030 ist lediglich ein idealer Wert. Von grünem Mut fehlt in diesem Sondierungspapier jede Spur.

Ähnlich sehen es auch die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Sondierungsergebnisse protestierten sie lautstark gegen dieses Weiter-so beim Klimaversagen. Bei einer Protestkundgebung vor der SPD-Parteizentrale machten sie deutlich, dass es für sie keine halben Sachen gäbe. Der Frust der jungen Generation ist umso bedauerlicher, waren es doch vorrangig die Erstwähler, die Grünen und FDP das Vertrauen aussprachen.

Hauptsache regieren

Viele Medien sprachen davon, dass die Sondierungsergebnisse die Handschrift der FDP trügen. Es stimmt: An keiner Stelle wird das so deutlich wie beim Verzicht auf ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Durchgesetzt haben sich nicht Verkehrssicherheit und Klimaschutz, sondern die testosterongesteuerte Bequemlichkeit der Liberalen. Es ist beinahe zynisch, dass die FDP dafür eine andere für sie schmerzhafte Konzession gemacht hat: Der Mindestlohn soll in einem Schritt auf 12 Euro steigen.

Das Sondierungspapier offenbart aber auch den unbedingten Willen der Grünen, an der nächsten Bundesregierung beteiligt zu sein. Nur durch sie könne ein echter Aufbruch beim Kampf gegen den Klimawandel kommen. Allerdings attestierten Experten dem grünen Wahlprogramm schon vor der Bundestagswahl, dass viele Forderungen nicht weit genug gingen, um dieser Menschheitsaufgabe zu begegnen. Beinahe logisch ist es daher, dass die Grünen selbst ihre Mini-Forderung mit dem Tempolimit einstampften, um die FDP nicht zu verschrecken.

Wer zahlt?

Egal, ob das Sondierungspapier die Handschrift von FDP, Grünen oder sonstwem trägt – es ist kein Regierungsprogramm für die kleinen Leute. Es vernachlässigt Menschen mit geringem Einkommen und solche, die in prekären Verhältnissen beschäftigt sind. Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro scheint zunächst ein großer Wurf zu sein. Aber nicht einmal die FDP kann vor der rasant steigenden Inflationsrate die Augen verschließen, die eine so deutliche Steigerung überfällig macht.

Generelle Steuerhöhungen und eine Wiedereinführung einer Vermögensabgabe haben die drei Partner bereits ausgeschlossen. Gleichzeitig möchten sie aber diszipliniert zur Schuldenbremse zurückkehren. Diese Entscheidung trifft die Schwächsten in der Gesellschaft am meisten. Es dürfte vorprogrammiert sein, wo das viele Geld dann herkommen soll: Der Rotstift wird vorrangig bei Sozialausgaben angesetzt. Die Einhaltung der Schuldenbremse blockiert außerdem wichtige Investitionen in elementare Bereiche der Infrastruktur. Die Straßen, Schulen und Krankenhäuser werden auch in den kommenden vier Jahren zunehmend verfallen, wenn es zu dieser Regierungskonstellation kommt.

Hartz-IV reloaded

Den Gipfel an Wählertäuschung erreicht das neue Regierungstrio allerdings bei einem anderen Herzensprojekt: dem Bürgergeld. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein umgetauftes Hartz-IV. Diese fragwürdige Umbenennung wird nichts ändern an Bevormundung, Gängelei und Perspektivlosigkeit. Stattdessen taugt der neue Name eher dazu, bereits vorhandene Fehlannahmen zu verfestigen. Ein Bürgergeld suggeriert, dass darauf jeder Bürger zu jeder Zeit Anspruch hat. Dieses bedingungslose Grundeinkommen light wirft auch in Zukunft ein falsches Bild auf seine Bezieher. Mehr als zuvor werden sie als faule Dauerarbeitslose gelten, die sich für jede Arbeit zu fein sind. An der gesellschaftlichen Spaltung ändert das nichts.

Viel Hoffnung steckten viele Wählerinnen und Wähler in diese neuartige Regierungskoalition. Weiterhin bleibt eine Mehrheit der Menschen im Land der Ampel wohlgesonnen. An den bislang gelieferten Inhalten kann das kaum liegen. Die Alternative wäre eine Jamaika-Koalition, aber die Union tut wirklich alles, um die Wählerinnen und Wähler in ihrer Entscheidung vom 26. September zu bestätigen. Nicht alles in Deutschland wird durch die Ampelkoalition schlechter. Wesentlich besser wird es nach vier Jahren Scholz aber nur den wenigsten gehen.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Fortschritt hui, Veränderung pfui

Lesedauer: 8 Minuten

Gestern hat die Regierung zu wenig getan, heute macht sie zu viel. Der Protest auf deutschen Straßen könnte unterschiedlicher nicht sein. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise fürchtete man sich vor einer drohenden Islamisierung Deutschlands. Die Regierung wehre die Flüchtlinge nicht ab, sondern hole sie sogar ins Land. Fünf Jahre später ist es genau andersrum: Die Maßnahmen der Bundesregierung sind übertrieben, die Bedrohung durch das Virus mit einer Grippewelle vergleichbar. Die Akteure sind beide Male jedoch die gleichen. Und beide Male bedeuten die Herausforderungen enorme Veränderungen. Und wer steht schon darauf?

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Albert Einstein zugeschrieben
Merkel muss weg

Deutschland im Herbst 2015: Karl W. geht auf eine Demo. Er hat Angst um das Leben wie er es kennt. Er möchte nicht morgens vom Muezzin geweckt werden und er möchte auch nicht, dass seine Frau ihre wunderschönen Haare unter einem Kopftuch verstecken muss. Auf regelmäßiges Beten auf einem kleinen Teppich hat er auch keine Lust. Vor allen Dingen möchte er nicht der nächste sein, der in einem Park hinterrücks als Gotteslästerer erstochen wird. Er hat nicht nur Angst um sich und seine Liebsten – er hat Angst um sein Land. Er möchte weiterhin in einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft leben, in der jeder seine Meinung sagen darf. Er will nicht gleich eingekerkert werden, bloß weil ihm eine kritische Bemerkung zu Allah oder sonstwem über die Lippen kommt.

Seine Angst hat einen Hintergrund. Vor einigen Wochen hat Bundeskanzlerin Merkel einen unkontrollierten Strom von Flüchtlingen, hauptsächlich aus Syrien, ins Land gelassen. Hunderttausende unbegleitete junge Männer haben seither sein Land okkupiert, manche reden gar von Millionen. Karl W. will sich nicht damit abfinden, dass künftig diese Fremden, diese völlig andersartigen Menschen das Sagen haben werden. Er weiß, dass es ein gewaltiges Politikversagen gab. Er schließt sich der wütenden Menge an. Die Konsequenz ist völlig klar: Die Kanzlerin muss zurücktreten. Sie hatte geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Mit den Flüchtlingen hat sie den Schaden sogar ins Land gebracht. Sie hat ihren Amtseid mit Füßen getreten. Dafür darf sie dieses Land nicht mehr regieren.

Merkel muss immer noch weg

Die Jahre ziehen ins Land. Der Flüchtlingsstrom hat längst nachgelassen. Viele Menschen versuchen sich mit der Situation zu arrangieren. Andere Probleme holen sie ein. Dann schlägt sie zu: Die Corona-Pandemie erreicht auch Deutschland. Immer mehr Menschen werden krank. Angela Merkel ist noch immer Bundeskanzlerin. Sie weiß, dass sie handeln muss. Ihr Volk ist in Gefahr. Noch einmal will sie sich nicht als Volksverräterin beschimpfen lassen. Sie ist fest entschlossen, an ihrem Amtseid festzuhalten. Als Naturwissenschaftlerin weiß sie, dass eine Übertragung der Krankheit so schwer wie möglich gemacht werden muss bis ein wirksames Medikament oder ein Impfstoff erfunden wurde. Sie ruft die Bevölkerung dazu auf, zu Hause zu bleiben, verordnet eine Maskenpflicht, schließt Restaurants und Gaststätten. Sie legt dem Virus einen Stein nach dem anderen in den Weg – alles, um ihr Volk zu schützen.

Karl W. geht zu dieser Zeit wieder zu einer Demo. Er ist erzürnt. Nachdem die Kanzlerin vor Jahren mit der Flüchtlingswelle die innere Sicherheit des Landes schwer erschüttert hat, wagt sie es nun ein weiteres Mal, ihren Amtseid zu brechen. Ganz offensichtlich arbeitet diese Frau daran, ihre heißgeliebte DDR wiederzubeleben. Unliebsame Meinungen werden heute ganz banal mit einem Mundschutz unterdrückt. Demos und sonstige Veranstaltungen finden nur nach eingehender Prüfung statt, auf sein Feierabendbier in der Kneipe um die Ecke musste Karl W. wochenlang verzichten. Er hat genug. Er will seine Freiheit zurück. Das angeblich so gefährliche Virus dient der Kanzlerin einzig dazu, ihre Diktatur voranzubringen.

Politisches Aprilwetter

Karl W. ist kein Einzelfall. Er weiß eine gewaltige Menge hinter sich, die genug hat. Die Stimmung im Land ist schlecht. Und das nicht nur wegen der Flüchtlinge oder der Maskenpflicht. Auch die Natur geht sichtlich vor die Hunde. Ein Dürresommer folgt auf den nächsten. Missernten und viel zu niedrige Wasserstände sind die Folge. Gerade ältere Menschen haben schwer mit der Hitze zu kämpfen. Die Menschen wissen, dass sich etwas ändern muss. Sie wollen, dass sich auch ihre Kinder und Enkel an den faszinierenden Wundern der Natur erfreuen können.

Forscher und Experten sind sich einig: Der Klimawandel ist größtenteils menschengemacht. Er kann also auch vom Menschen aufgehalten werden. Die Forscher wissen, dass klimaschädliche Gase einen ganz besonders großen Anteil am beschleunigten Treibhauseffekt haben. Sie zu reduzieren ist das Gebot der Stunde. Die Umsetzung ist Sache der Politik. Die kommt dann mit obskuren und realitätsfernen Forderungen um die Ecke, wie zum Beispiel ein Verbot von Dieselfahrzeugen. Wer sich gestern noch lauthals über das schwer auszuhaltende Wetter beschwert hat, tut das auch heute noch. Ein Verzicht auf das heißgeliebte Auto ist aber nicht drin, selbst dann nicht, wenn der Staat die Anschaffung eines klimafreundlicheren Modells bezuschusst.

Die Politiker wollen dem Volk entgegenkommen. Wenn schon kein neues Auto, dann wenigstens keine übertriebene Raserei mit dem alten. Wer langsamer fährt, stößt schließlich auch weniger schädliche Gase aus. Wieder eine Blockade. Viele Leute wollen es sich nicht nehmen lassen, mit 200 Sachen über die Autobahn zu brettern. Die Forderung aber bleibt bestehen: Es kann so nicht weitergehen, wie es jetzt ist. Veränderung muss her. Aber bitte ohne Anstrengung. Das muss sich auch anders regeln lassen.

Was würde es denn bedeuten, wenn die Dieselfahrer auf alternative Modelle umsteigen würden? Sie müssten ihren bisherigen Lebensstil hinterfragen. Die Konsequenz daraus ist völlig klar: Sie müssten sich verändern, sie müssten etwas leisten. Darauf haben die meisten keine Lust. Sie haben ihre Schuldigkeit bereits getan, als sie auf die Missstände hinwiesen. Beseitigen kann sie jemand anderes. Aber dann bitte möglichst so, dass man selbst am besten keinen Finger krummmachen muss. Die nächste Demo findet sonst bestimmt statt.

Fortschritt ohne Veränderung?

Die meisten sehen tatsächlich nur die Veränderung. Die Aussicht darauf reicht aus, um eine Abwehrhaltung hervorzurufen. Oftmals denken die selbsternannten Querdenker gar nicht weiter. Der drohende Verlust der Komfortzone reicht aus, um sie auf die Barrikaden zu bringen. Dabei gibt es tatsächlich ernstzunehmende sozialpolitische Gründe, um so manche Maßnahme kritisch zu sehen. Doch all diese Argumente interessieren diese Menschen nicht. Es ist viel einfacher, sich von populistischen Rattenfängern vor den Karren spannen zu lassen, anstatt selbst nachzudenken. Dann besteht nämlich das Risiko, die Dimension des Problems zu begreifen und noch mehr unter Zugzwang zu stehen.

Aber vielleicht ist der Verzicht auf das Auto in der heutigen Zeit ja wirklich undenkbar. Immerhin gibt es viele Orte und Gemeinden in Deutschland, die ohne fahrbaren Untersatz schlicht unerreichbar sind. Der letzte Bus wurde hier vor zwanzig Jahren gesehen und die Bahnstrecke wurde schon vor dem Zweiten Weltkrieg stillgelegt. Natürlich redet man dann nicht gerne über Veränderung. Denn in einem solchen Fall ist sie mit echten Strapazen verbunden.

Aber selbst wenn der öffentliche Nahverkehr regelmäßig Hintertupfingen ansteuern würde, könnten sich wahrscheinlich viele einen Verzicht auf das Auto nur schwer vorstellen. Wie sollte es auch anders sein? Selbst etwas so entbehrliches wie Silvesterböller würden viele bereits schmerzlichst vermissen. Jahr für Jahr werden lächerliche Summen für den kurzweiligen Spaß ausgegeben. Jahr für Jahr brennen die Dachstühle. Und Jahr für Jahr die gleichen heuchlerischen Vorsätze: Beim nächsten Mal wird weniger geböllert. Als letztes Neujahr das Affenhaus in Krefeld lichterloh in Flammen stand, da wurde mit Tränen nicht gegeizt. Und trotzdem ist der Trend klar: Auch nächstes Silvester wird das Laienfeuerwerk starten. Veränderung wird wohl niemals im Trend sein.


Mehr zum Thema

Generation Anti

Das Heer der Unaufgeklärten

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


Mehr zum Thema:

Kein Rückgrat

Gefühlte Demokratie

Das Heer der Unaufgeklärten

Auf Umwegen durch die Krise

Die Stunde der Volksparteien

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!