Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

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Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Seit Jahren liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, wie der XXL-Bundestag wieder auf eine nachvollziehbare Größe geschrumpft werden kann. Die Regierungen der letzten Jahre waren allesamt nicht in der Lage, auch nur eines der Konzepte umzusetzen. Die Ampelkoalition hat nun eine konkrete Reform vorgelegt. Die Pläne sind mehrheitsfähig und werden den Bundestag wahrscheinlich auch verkleinern. Mit einer repräsentativen Demokratie sind sie nicht vereinbar.

In der laufenden Wahlperiode beherbergt die Reichstagskuppel 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Die Zahl an sich ist absurd hoch. Indessen wird auch den Abgeordneten das Problem immer klarer, weil ihnen allmählich der Platz ausgeht. Zu den Sitzen im Plenarsaal kommen nämlich auch die Büros, die den Volksvertretern zustehen. Die GroKo hat echte Anstrengungen zur Verkleinerung des Parlaments eher blockiert als aktiv daran mitgewirkt. Nun will die Ampelregierung ihr Glück versuchen und eine wirksame Wahlrechtsreform zustandebringen. Als Grüne und FDP noch in der Opposition waren, klangen ihre Ideen zumindest vielversprechend.

Schwarzer Peter für die CSU

Davon geblieben ist kaum etwas. Die vorgelegte Reform benachteiligt eine Partei ganz besonders und ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu stärken. Denn im Kern wollen die Regierungsfraktionen sämtliche Überhangmandate abschaffen. Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, soll sie fortan auf die Zusatzmandate verzichten. Ausgleichsmandate erübrigen sich bei dieser Sitzezuteilung.

Den schwarzen Peter zieht dabei die CSU. Es verwundert daher kaum, dass gerade diese Partei gegen die Pläne von SPD, Grünen und FDP auf die Barrikaden geht. Es ist fraglich, ob sie das auch tun würde, wenn einer anderen Partei so übel mitgespielt würde. Dennoch ist der Protest der bayrischen Volkspartei berechtigt.

Die Abschaffung der Überhangmandate bedeutet im Zweifel nämlich, dass nicht mehr der stimmenstärkste Kandidat eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht. Ein starkes Erststimmenergebnis wäre fortan keine Eintrittskarte ins Parlament mehr. In einem mittlerweile so diversifizierten Spektrum von Parteien, die Aussichten auf einen Einzug in den Bundestag haben, ist diese Entscheidung völlig verfehlt. Manche Wahlkreise gelten schon bei Ergebnissen von um die 20 Prozent als gewonnen. Mit der vorgelegten Reform könnten sogar Kandidaten mit noch niedrigerem Ergebnis als Gewinner hervorgehen, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Repräsentanz kann man so etwas dann nicht mehr nennen.

Das Ende der zwei Stimmen?

Einerseits bringt diese Methode das Gleichgewicht von Erst- und Zweitstimme aus der Balance. Andererseits nimmt sie potenziell Einfluss auf die Wahlentscheidung des Einzelnen. Künftig werden sich die Wählerinnen und Wähler genauer überlegen, ob sie dem Kandidaten ihres Vertrauens die Stimme geben oder lieber dem Vertreter einer anderen Partei, weil ihre erste Wahl wahrscheinlich sowieso nicht in den Bundestag einziehen wird.

Die aktuelle Wahlrechtsreform ist daher unvollständig. Die Abgeordneten in Berlin sollten sich ehrlichmachen und in diesem Zuge das Zwei-Stimmen – Wahlsystem komplett über Bord werfen. Damit würde die Repräsentanz des Wahlergebnisses wiederhergestellt werden, weil der Kandidat der stärksten Partei aus einem Wahlkreis wahrscheinlich in den Bundestag einziehen würde.

Kleine Parteien im Nachteil

Doch ein Wahlsystem mit nur einer Stimme ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar würde weiterhin die Parteienstimme die Sitzverteilung im Bundestag bestimmen und auch die Zustimmung in den jeweiligen Wahlkreisen für die Abgeordneten eine Rolle spielen, unter der Methodik würde aber die Bindung zwischen Wähler und Mandatsträger leiden. Als „Gewählte“ könnte man die Abgeordneten dann nur noch mit zwei zugedrückten Augen bezeichnen, immerhin standen sie persönlich nie zur Wahl. Sie profitieren andererseits auch indirekt von der Zustimmung zu ihrer Partei aus anderen Wahlkreisen. Läuft eine Partei in einem Wahlkreis mit einem besonders beliebten Politiker auf und wählen dort überdurchschnittlich viele Menschen diese Partei, dann hat das auch Auswirkungen auf mögliche Abgeordnete in weit entfernten Wahlkreisen.

Auch wenn das Ein-Stimmen – Wahlrecht die Repräsentanz im Bundestag weniger verzerren würde als die vorgelegte Wahlrechtsreform, hat es noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Makel. Es würde nämlich besonders die kleineren Parteien benachteiligen. Die Linke beispielsweise profitiert von jeher von einer hohen Zustimmung in einzelnen Wahlkreisen. Mehr als einmal hat die Grundmandatsklausel der Partei den Einzug in den Bundestag gesichert. Solche Parteien hätten es künftig schwerer, authentische Kandidaten aufzustellen, wenn ein Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist.

Symptombekämpfung

Will die Regierung die repräsentative Demokratie nachhaltig erhalten, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben als über einen Neuzuschnitt der Wahlkreise nachzudenken. Zugegeben platzen viele Wahlkreise schon heute aus allen Nähten, aber zumindest ließe sich auf diese Weise am ehesten die Repräsentanz im Bundestag beibehalten. Sicher ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zwangsläufig zurückginge, weil weniger Wahlkreise vertreten werden müssten. Gleichzeitig ließe sich so das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten lösen: Wenn es weniger Wahlkreise zu gewinnen gibt, können auch weniger von ihnen zusätzliche Mandate erzeugen.

Das Herumdoktern an Wahlrechtssystemen ist und bleibt aber reine Symptombekämpfung. Die Politiker in Berlin sollten sich lieber darauf konzentrieren, die weitere Diversifizierung des Parteienspektrums zu bremsen. Es ist nämlich maßgeblich die steigende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien, die das stetige Anwachsen des Parlaments maßgeblich begünstigen. Sahnt eine Partei regional ab, könnte ihr die bittere Konkurrenz mit einer anderen Partei in anderen Wahlkreisen schwer auf die Füße fallen.


Die Pluralität von Meinungen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Solange die Regierung aber keine Politik aus einem Guss liefert, werden sich manche Menschen immer benachteiligt fühlen. Grenzt man bestimmte Sichtweisen zusätzlich aus, schafft man neue Parteien, deren Bestehen auf mehreren Ebenen schädlich für die Demokratie ist. Es gibt einen Grund dafür, warum es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag gab. Keiner will in die 60er oder 70er Jahre zurück. Aber vielleicht täte uns ein politischer Stil ganz gut, der an die erfolgreichsten Jahre der zweiten deutschen Demokratie angelehnt ist.


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Ohne Ausgleich

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Zeitumstellung ade?

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Die Umstellung von der Sommer- auf die Winterzeit sorgt erneut für Unmut unter den Bürgerinnen und Bürgern. Eine unabhängige Studie hat die Politik nun zum Handeln bewogen. Sie möchte die Zeitumstellung überwinden. Am kommenden Sonntag sollen die Uhren noch einmal umgestellt werden – zum wirklich wirklich allerletzten mal.

Eine umstrittene Maßnahme

An diesem Wochenende beginnt die Winterzeit. In der Nacht auf Sonntag werden dazu die Uhren von 3 auf 2 Uhr zurückgestellt. Das hat zur Folge, dass es in den kommenden fünf Monaten früher hell, aber auch früher dunkel wird. Ursprünglich wurde der regelmäßige Wechsel zwischen Winter- und Sommerzeit eingeführt, um besonders in der kalten Jahreszeit Energie zu sparen.

Die Maßnahme ist unter Bürgerinnen und Bürgern jedoch umstritten. Besonders die Umstellung zur Sommerzeit ist unbeliebt, weil viele Menschen das Gefühl haben, ihnen würde dadurch eine Stunde geklaut. Mittlerweile haben sich sogar Initiativen gegründet, welche die Zeitumstellung abschaffen möchten. Auch zum Wechsel auf die Winterzeit regt sich in diesem Jahr Widerstand.

Analoge Uhren und fehlende Ausreden

Sarah K., Floristin aus Halberstadt, stört vor allem die inkonsequente Durchführung der Umstellung: „Wir leben im Jahr 2022 und trotzdem sind wir umgeben von analogen Uhren. Die meisten davon werden erst Wochen, wenn nicht Monate später von Hand umgestellt. Wenn man nicht die Kapazitäten zur Umstellung hat, dann sollte man es lieber lassen.“

Bürokauffrau Nina B. hingegen ärgert sich besonders darüber, dass sich Smartphones standardmäßig von selbst umstellen: „Früher hatte man damit zumindest eine halbwegs gute Ausrede, um zu spät zur Arbeit oder anderen Verpflichtungen zu erscheinen. Heute fallen diese Ausflüchte weg. Ich frage mich, wieso die Zeitumstellung dann noch nötig ist.“

Kein Rückhalt

Das Bundesamt für Verbraucherschutz verfolgt die Debatte um die Zeitumstellung seit vielen Jahren. Inzwischen ist auch die Behörde zu dem Entschluss gekommen, den Unmut in der Bevölkerung ernstzunehmen. Die Verbraucherschützer haben daher eine breit angelegte Studie in Auftrag gegeben, um den Rückhalt der Zeitumstellung in der Bevölkerung zu erfassen. Das Ergebnis war eindeutig: Nicht ein einziger Befragter äußerte sich wohlwollend zur regelmäßigen Umstellung. Besonders niederschmetternd fiel das Ergebnis bei den Befragten über 50 Jahren aus. Die Forscher vermuten, dass diese Menschen aufgrund der zahlreichen Zeitumstellungen in ihrem Leben in noch höherem Maße frustriert sind.

Die Studie wurde ursprünglich im Zeitraum Mai bis Juli 2022 durchgeführt, um gegebenenfalls rechtzeitig Maßnahmen vor der nächsten Zeitumstellung im Oktober einzuleiten. In den Monaten August und September wurde die Studie wiederholt und in den ersten Oktoberwochen ausgewertet. Thilo R., Sprecher des Bundesamts für Verbraucherschutz, erklärt den Schritt folgendermaßen: „Von dem einstimmigen Votum waren wir so überrascht, dass wir eine weitere Studie durchführten, um einen Irrtum oder eine Manipulation auszuschließen. Wir sind inzwischen überzeugt davon, dass es an dem Ergebnis keinen Zweifel gibt.“

Richtungsstreit in der Politik

Das Bundesamt für Verbraucherschutz sieht nun eindeutig die Politik in der Pflicht, eine Lösung für das Problem zu finden. Thilo R. betont: „Die Zeitumstellung ist nicht mehr haltbar. Die Menschen erkennen keinen Sinn mehr darin. Die Regierung sollte nun dringend über eine Abschaffung nachdenken.“ Das Kabinett hat in einer Presseerklärung bereits bekanntgegeben, dass es an einer neuen Regelung arbeite. Ein Gesetzentwurf wurde zunächst für Anfang 2023 angekündigt.

Manchen Bürgerinnen und Bürgern geht das nicht schnell genug. Ein Bündnis aus Gewerkschaften, politischen Vereinen und Nichtregierungsorganisationen hat daher einen großen Demonstrationszug angekündigt. Unter dem Motto „Mit Dank zurück“ möchten sie am Sonntag nach der Zeitumstellung exakt eine Stunde vor dem Bundeskanzleramt protestieren, um den Regierenden auf diese Weise symbolisch jene Stunde zurückgegeben, die ihnen in der vorausgegangenen Nacht „geschenkt“ wurde.

Die Verzögerung des Gesetzentwurfs ist auf offene Streitpunkte innerhalb der Regierungskoalition zurückzuführen. Die Grünen etwa würden die Zeitumstellung am liebsten sogar noch ausbauen. Ihnen schwebt eine turnusmäßige Umstellung von zwei Stunden vor. Eine Sprecherin der Bundestagsfraktion erklärte hierzu: „In Zeiten von Klima- und Energiekrise müssen wir Energie sparen, wo es nur geht. Wenn wir mit zwei Stunden Zeitumstellung doppelt so viel Ressourcen einsparen können wie bisher, wäre das ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft.“

Die FDP möchte indessen nichts von den Plänen der Grünen wissen. Trotzdem wollen auch die Liberalen die Zeitumstellung nicht sofort kippen. Stattdessen schwebt ihnen eine gestaffelte Abschaffung gemessen an der Einkommenshöhe von Haushalten vor. Ein Sprecher der Parteizentrale rechtfertigt diesen Schritt als gerecht: „Es ist nur legitim, wenn die Leistungsträger unserer Gesellschaft zuerst in den Genuss dieser neuen Regelung kommen. Konkret sollen ab 2023 alle Personen mit einem monatlichen Nettoeinkommen von mehr als 10.000 Euro eine Stunde mehr Zeit pro Jahr zur Verfügung haben. Denn Zeit ist bekanntlich Geld.“

Nie wieder Uhrenumstellen?

Um den Richtungsstreit in dieser Frage zu beenden, machte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nun von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Er sprach sich dafür aus, die Zeitumstellung so schnell wie möglich zu beenden. Er berief sich dabei auf die Ergebnisse einer eigens eingesetzten Kommission. Diese wies nach, dass aus der regelmäßigen Zeitumstellung quasi kein Nutzen gezogen werden konnte.

Die Kommission, deren Kosten auf rund 15 Millionen Euro beziffert werden, wies auf ein weiteres Problem hin: Die Datenlage zur Zeitumstellung sei derart unstet, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, ob die Abschaffung der Winterzeit oder der Wegfall der Sommerzeit den Normalzustand wiederherstellen würde. Nötig seien hierzu weitere wochenlange Untersuchungen. Es ist also durchaus möglich, dass die Zeitumstellung am kommenden Sonntag nicht die wirklich wirklich allerletzte sein wird. Dafür wird aber die mögliche Umstellung im März die wirklich wirklich wirklich allerletzte sein – ganz sicher.

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Politische Leerstelle

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In den letzten Jahren hat sich eine regelrechte Euphorie für politische Umfragen entwickelt. Beinahe fetischhaft verfolgen manche, wie es um die Gunst der Parteien bei den Wählerinnen und Wählern steht. Am Wahlabend erlebten sie dann so manche Überraschung. Doch Umfragewerte und Wahlergebnisse haben ein Problem: Sie werden von immer weniger Menschen gemacht. Viele Bürgerinnen und Bürger gehen entweder überhaupt nicht mehr zur Wahl oder sie wählen eine Partei, um eine andere Partei zu blockieren. Sie haben schlicht keine politische Vertretung mehr. Seit Jahren wächst diese Gruppe an politisch Verwahrlosten stetig an. Für die Demokratie ist das ein ernsthaftes Problem.

Überraschender Sieg

Der SPD ist bei der Bundestagswahl 2021 etwas gelungen, wovon sie viele Jahre nur träumen konnte: Sie wurde stärkste Kraft im Parlament. Altkanzler Schröder verfrachtete die Partei durch Sozialabbau und Hartz-Reformen für viele in die Unwählbarkeit. Angela Merkel trieb die Sozialdemokraten in insgesamt drei Großen Koalitionen vor sich her und hielt sie an der kurzen Leine. Durch den selbstgewählten Abtritt der ewigen Kanzlerin schöpfte die SPD neuen Mut und ging zögerlich, dann aber immer selbstbewusster in den Wahlkampf.

Am 26. September 2021 war die SPD die große Siegerin des Abends. Auch bei der Landtagswahl im Saarland im März 2022 triumphierte die SPD und holte sich sogar die absolute Mehrheit. Auch die Grünen treiben seit Jahren auf einem Hoch. Bei der Bundestagswahl 2021 schnitt die Partei sogar noch besser ab als beim Erdrutschsieg der FDP 2009.

Blinder Fleck

Der Erfolg der Parteien lässt sich spielend einfach an den Balken am Wahlabend ablesen. Nicht nur der Stimmanteil der Parteien wird dadurch wiedergegeben, auch die Gewinne und Verluste lassen sich mit der bewährten Methode darstellen. Doch seit Jahren verliert die klassische Lesart des Wahlergebnisses an Schlagkraft. Korkenknallen angesichts des Ergebnisses bei der Bundestagswahl gab es bestenfalls in der Parteizentrale. Eine echte Wechselstimmung wie nach der Abwahl von Helmut Kohl gab es unter den Bürgerinnen und Bürgern nicht.

Dabei sind die Gewinne und Verluste der Parteien mitunter beträchtlich. Die Euphorie im Volk bleibt trotzdem aus. Es gibt bei den Balken und Tortendiagrammen am Wahlabend einen immer größer werdenden blinden Fleck: die Nichtwähler und solche Wähler, die ihr Kreuz zufällig vergeben haben.

Zum Nichtwähler gemacht

Betrachtet man nämlich die Wählerwanderung, stellt man schnell fest, dass die etablierten Parteien gar nicht so sehr in Konkurrenz zueinander stehen, wie sonst immer beschworen wird. Es gibt Abwanderungen von einer Partei zur anderen, doch die zahlenstärksten Verluste müssen die meisten Parteien schon lange ans Lager der Nichtwähler abdrücken. Auf Landes- und Kommunalebene wiegt dieser demokratische Verlust besonders schwer: Bei der Landtagswahl in NRW am 15. Mai blieb fast die Hälfte der Wahlberechtigten den Wahllokalen fern.

Solch demokratieschädlichen Zustände als Erfolg für einzelne Parteien oder gar die parlamentarische Demokratie zu feiern, grenzt an Realitätsverweigerung. Wenn fast 50 Prozent der Bevölkerung nicht zur Wahl geht, steht am Ende die Hälfte ohne politische Vertretung da. Reflexartig reagieren manche da mit Häme und verbieten den unglückseligen Vertretungslosen zu jammern. Immerhin haben sie ihr Schicksal selbst so gewählt, als sie nicht an der Wahl teilnahmen.

Andersrum wird ein Schuh daraus: Das fehlende politische Angebot, die häufigen Enttäuschungen mit Politikern und das Gefühl, von der Politik nicht ernstgenommen zu werden, trieb viele dieser Menschen zu ihrer Entscheidung, am Wahlsonntag nicht das Haus zu verlassen. Die fehlende politische Repräsentanz dieser Leute ging ihrer verpassten Stimmabgabe voraus.

Verengtes Spektrum

Verluste fahren seit Jahren vor allem zwei Parteien ein – selbst unter denen, die noch zur Wahl gehen. Den beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD laufen die Wähler davon. Die beiden „Großen“ verlieren besonders viele Wähler ans Nichtwählerlager. Die Klientel anderer Parteien ist hingegen relativ stabil, wenn nicht sogar im Aufschwung. Grüne und FDP durften sich bei den letzten Wahlen über das Krönchen der Königsmacher freuen, weil ohne sie keine Regierung zustandekam.

Doch das Spektrum von Grünen bis AfD reicht bei weitem nicht aus, um das vielfältige Meinungsspektrum im Land abzubilden. Die sogenannten Klientelparteien können gar nicht allen Menschen eine politische Heimat bieten, das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Doch die beiden Volksparteien sind mittlerweile so beliebig und profillos geworden, dass es für viele Menschen überhaupt keinen Unterschied mehr macht, wen sie wählen. Diese Erkenntnis ist meist der erste Schritt zu den Nichtwählern. Wenn meine Stimme sowieso keinen Unterschied macht, dann kann ich es auch gleich bleiben lassen.

Personalfragen

Die Festung, die CDU und SPD einst bildeten, bröckelt. Nach Jahren der beinahe zwanghaften Kooperation befinden sich beide Parteien in einem desolaten Zustand. Immer weniger werden diese Parteien wegen ihres Programms gewählt, dafür gibt es Grüne und FDP. Stattdessen versuchen viele Wählerinnen und Wähler durch die Wahl von CDU und SPD potenzielle Koalitionen zu ermöglichen oder auszuschließen. Im Fokus des Wahlkampfes 2021 stand nicht, ob CDU oder SPD die Wahl gewinnen. Im Fokus stand, mit wem Baerbock und Lindner regieren werden.

Mit solchen Personalfragen können die meisten Menschen nichts anfangen. Für sie ist nicht entscheidend, wer an der Spitze steht, sondern ob Politik in ihrem Sinne gemacht wird. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder erfahren, dass ihre Bedürfnisse und Probleme die Entscheidungsträger in Bund und Land immer weniger interessieren. Sie können mit einem Tempolimit auf der Autobahn nichts anfangen, weil sie darin eine Beeinträchtigung ihres Lebensstils erkennen – und zwar ausschließlich das. Gendern und vielfältige Sprache empfinden sie als Bevormundung, nicht als Bereicherung. Und wenn ein Cem Özdemir (Grüne) die Ramschpreise für Obst und Gemüse abschaffen will, dann gibt es für sie Tütensuppe.

Viel Gerede um nichts

Geht doch einmal die Wundertüte um, sind viele bestenfalls Zaungäste, während andere beherzt hineingreifen. Der Pflegebonus und die Grundrente sind gute Ideen, von denen aber viel zu viele Menschen ausgeschlossen sind. Für viele macht es nach 40 Beitragsjahren unter’m Strich kaum einen Unterschied, ob sie die reguläre Mickrigrente oder die viel gepriesene Grundrente bekommen. Geredet wird über solche Pläne lange und ausgiebig, bei rum kommt dafür viel zu wenig.

Die Friseurin, die knapp zwei Jahre nach dem ersten Lockdown dringend darum gebeten wird, die zu viel gezahlten Coronahilfen unverzüglich und am besten auf einen Schlag zurückzuzahlen, dürfte eher zerknirscht sein, wenn sich große Konzerne großzügig vom Staat durch die Krise hieven lassen, gleichzeitig aber Rekordgewinne verzeichnen und fleißig Dividenden ausschütten. Eine solche Ungleichbehandlung zerstört das Vertrauen in einen durchsetzungsstarken und bürgernahen Staat. Denn Entlassungen gab es in solchen Konzernen trotzdem.

Premiere in der Bundesrepublik

Für solche Schicksale und Ungerechtigkeiten gibt es aktuell keine ernstzunehmende Kraft im deutschen Parteiensystem. Eine Zeit lang hofften einige Menschen, bei der AfD eine neue politische Heimat gefunden zu haben. Doch alsbald mussten sie feststellen, dass diese Partei überhaupt keine Chance hat, das Zepter zu übernehmen, doch nicht so treusorgend ist, wie sie sich immer geriert oder sie aufgrund innerparteilicher Querelen in diesem Leben nicht mehr aus dem Quark kommt. Wer nicht davor schon Nichtwähler war, der ist es dafür heute.

Einzig Die Linke würde gemäß ihrem Parteiprogramm eine politische Vertretung für diese Menschen sein. Sie ist es aber nicht. Viel lieber begnügen sich die demokratischen Sozialisten damit, die sozialeren Grünen zu sein. Seit sie in der Regierung sitzen, ist es bei den Grünen mit sozialen Vorhaben nämlich auch nicht mehr weit her. Und so erlebt die Bundesrepublik gerade etwas, was in ihrer Geschichte noch nicht vorkam: Eine Partei gibt sich komplett auf.

Eine exklusive Demokratie

Die sozialen Forderungen der Linken sind zwischenzeitlich nur noch Beiwerk einer Partei, die sich mit bestimmten personellen Entscheidungen längst mit der Rolle als Steigbügelhalter der Grünen abgefunden hat. Dieser Verrat an den Grundwerten und der Stammwählerschaft der Partei schlägt sich auch in deren Wahlergebnissen nieder. Die Linke kann sich anstrengen, wie sie will: Sie wird von den Wählerinnen und Wählern nicht mehr als die soziale Opposition wahrgenommen.

Dem vorausgegangen ist ein jahrelanger Kraftakt des politischen Zerstörungswillens, um das einzureißen, was andere über lange Zeit aufgebaut hatten. Man überließ manche Politikfelder komplett den Rechten und schlug den Wählern damit sprichwörtlich ins Gesicht. Wenn sich eine Partei so verhält, beschädigt sie die Demokratie enorm. Sie lässt es sehenden Auges zu, dass ein großer Teil der Bevölkerung ohne politische Vertretung im Parlament bleibt oder zwingt diese Menschen regelrecht, sich Parteien zuzuwenden, die ganz sicher nicht in ihrem Sinne agieren.

Seit Jahren ist Die Linke fleißig damit beschäftigt, ihrer Parteigeschichte einen Sargnagel nach dem anderen zu verpassen. Die SPD hat sich mal wieder in einer Regierung verheddert, in der sie viele sinnvolle Ziele nicht umsetzen kann. Mit der FDP auf den Regierungsbänken wird es keinen sozialen Aufschwung in unserem Land geben. Es scheint allmählich Normalität zu werden, dass manche Menschen politisch den Kürzeren ziehen. Eine Demokratie darf sich so etwas nicht erlauben. Die Bundesrepublik Deutschland darf kein Land werden, indem sich nur noch die Bessergestellten einbringen und eine Stimme haben.


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