Schöne Aussichten

Titelbild: Keith Gonzalez, pixabay, bearbeitet von Sven Rottner.

Lesedauer: 8 Minuten

Die goldenen 20er, wie sie noch vor knapp einem Jahr beschworen wurden, hätten mieser nicht beginnen können. Eine Pandemie stellt viele Länder seit Monaten vor gewaltige Probleme. Die Menschen werden krank, Geschäfte müssen schließen, Existenzen gehen kaputt. Das nächste Jahr kann nur besser werden.

Jahresrückblick besonderer Art

2020 neigt sich dem Ende. “Endlich!“ werden da einige erleichtert rufen. Sie haben allen Grund dazu: Ein Virus, vor dem wir vor zwölf Monaten noch absolut sicher schienen, hält die ganze Welt weiter in Atem. Nachdem sich Corona im Frühjahr auch hierzulande breitgemacht hatte, folgte der erste Lockdown. Geschäfte mussten schließen, Klopapier war knapp, die Menschen hatten Angst. Währenddessen übertraf sich die Zahl der Neuinfektionen und der Todesfälle von Tag zu Tag. Länder wie Italien und Spanien, aber auch die USA waren mit dieser Entwicklung heillos überfordert.

Es folgte eine kurze Zeit der Entspannung. Im Sommer gingen die Fallzahlen spürbar nach unten. Ein Sonnenanbeter ist das Virus nicht. Die Menschen schöpften wieder Hoffnung. Vielleicht gehörten Abstand und Maske bald der Vergangenheit an? Doch es kam anders: Der Herbst war mehr als ernüchternd. Die zweite Welle der Pandemie war heftiger als die erste. Wieder schlossen Geschäfte, Hotels und Kultureinrichtungen.

Was kam dann? Unsereins kann diese Frage noch nicht beantworten. Aber es gibt Menschen, die über eine spezielle Gabe verfügen. Viele tun Hellseher als esoterische Spinner oder geldgierige Scharlatane ab. Die Glaubwürdigkeit einer kanadischen Hellseherin wurde aber jüngst durch einen Zwischenfall mitten in Deutschland untermauert. Ihre Vorhersagen deckten sich mit den Aussagen eines jungen Mannes, der behauptete, ein Zeitreisender zu sein.

Überraschende Trendwende?

Seine Herkunft belegte der 26-jährige Osnabrücker mit einigen Ankündigungen, die wenige Tage später genau so in den Nachrichten kamen. Diese Trefferquote hatte nicht einmal die Hellseherin, die sich selbst Madame Futura II. nennt (The One Who Will Have Been). In einigen Punkten waren sich die beiden aber doch einig. So erklärten sie unabhängig voneinander, dass das Virus mit Gongschlag 2021 auf mysteriöse Art und Weise verschwinden würde. Der deutsche Zeitreisende Robert T. (Name von der Redaktion geändert) konnte sogar konkreter werden. Weltweit gäbe es in den ersten Januartagen nur noch wenige Hundert Neuinfektionen pro Tag, bevor sich am 14. Januar der letzte Fall nachweisen lassen würde. T. wusste sogar, dass dieser Tag ein Donnerstag sein würde.

Doch der Besucher aus der Zukunft konnte noch mehr spektakuläres berichten. Noch in der Nacht auf den 1. Januar erlebten tausende Menschen weltweit eine regelrechte Spontanheilung von dem hartnäckigen Virus. Er erzählte von Intensivpatienten, die die Stationen noch vor Morgengrauen verlassen konnten. Besonders für das Klinikpersonal war das eine glückliche Fügung. Erneut würden nämlich wieder zahllose Opfer von Pyrotechnik die Intensivstationen fluten.

Der Zeitreisende zitierte außerdem aus einer Presseerklärung der Kanzlerin vom Januar 2021. In dieser zog sie einerseits die Ladenschließungen zurück und beendete andererseits die Maskenpflicht. Eine Welle der Erleichterung ging in der Folge durch das Land. Die Menschen konnten endlich wieder das tun, worauf sie ein knappes Jahr so eisern verzichtet hatten. Robert T. erzählte von gleich drei Partys, die er an einem Wochenende besuchte. Er berichtete: „Es war eine so große Freude, das erste Mal nach einem Jahr ausgiebig shoppen zu gehen. Die Läden hatten zwar zeitweise bereits 2020 geöffnet, aber wie wir wissen, ging keiner hin.“ Etwas ernster sprach er Umzüge und Demonstrationen an: „Es war für viele natürlich nicht leicht, nach einem Jahr der demokratischen Enthaltsamkeit, laut auf der Straße die Meinung zu sagen. Einige mussten das Demonstrieren erst wieder lernen.“

Der Duft der Geselligkeit

In andere vorpandemische Gepflogenheiten rutschte T. leichter wieder rein. „In Zeiten von Abstand und Maske kam man sich beim Einkaufen regelrecht vereinsamt vor. Als ich das erste Mal wieder den warmen Atem meines Hintermanns im Nacken spürte – was für ein Moment.“ Andere drückten ihre Freude über die zwischenmenschliche Wärme an der Supermarktkasse noch deutlicher aus. T. erzählte von einer Frau, die sich dreimal hintereinander genüsslich in die Arme des Mannes hinter ihr fallen ließ, bevor die eilige Kassiererin ihr Bad in der Menge abrupt beendete.

Ein ganz besonderes Phänomen erläuterte Robert T. mit einem Schmunzeln: „Nach monatelangem Maskentragen wusste ich nicht einmal mehr, ob meine Nase überhaupt noch ihren Dienst tut. Die Zweifel waren schnell ausgeräumt, als ich mich Anfang Januar in eine vollgepackte Bahn zwängte. Der durchgeschwitzte Herr neben mir kam wohl gerade aus dem Fitnessstudio. Ich fand es schade, dass er bereits an der nächsten Station ausstieg.“

Rundum gut versorgt

Robert T. gab an, am 10. November 2021 in seine Kapsel gestiegen zu sein. Die Aussage der kanadischen Madame Futura II. konnte er also leider nicht bestätigen. Sie sah voraus, dass die Weihnachtsmärkte im kommenden Jahr ein voller Erfolg werden würden. In ihrer Ekstase konnte sie den Duft von Glühwein, Rostbratwurst und heißen Maroni förmlich riechen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Heerscharen an Menschen, die selig und zufrieden von Stand zu Stand zogen. Alle lachten und jeder genoss das Beisammensein, auf das im Vorjahr verzichtet werden musste.

Madame Futura II. wurde aber noch konkreter. Sie sagte rosige Aussichten für die Wirtschaft auch in Deutschland voraus. Immerhin umtrieb die Wirtschaftslage viele Menschen bereits im Jahr 2020. Die Hellseherin konnte die Menschen aber beruhigen. Das Ende der Pandemie bedeutete auch ein Ende der Kurzarbeit und eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Der Zeitreisende Robert T. bestätigte ihre Angaben. Er selbst wäre nie an Corona erkrankt, wusste aber von den katastrophalen Zuständen in den Krankenhäusern aufgrund der steigenden Fallzahlen. „Im Sommer 2021 war ich einige Tage in stationärer Behandlung. Ich fühlte mich rundum gut versorgt. Während ich mit einer Schwester über Urlaubspläne sprach, fand eine andere sogar die Zeit, mir die Füße zu massieren. Von Überlastung keine Spur mehr.“

Auch die Zustände in Fleischereibetrieben entspannten sich spürbar. Weil kein einziger Corona-Fall mehr nachgewiesen werden konnte, kehrten die Arbeiterinnen und Arbeiter namhafter Betriebe wieder in ihre gewohnte Umgebung zurück. T. zitierte einen befreundeten Mitarbeiter von Tönnies: „Ich genieße es, endlich wieder mit meinen Freunden in einem Zimmer zu leben. Die dauerhafte Quarantäne war eine schlimme Erfahrung.“

Schöne Aussichten

Lobend hob T. außerdem die Bundesregierung hervor. Weil diese im Jahr 2020 ausnahmsweise die Schuldenbremse gelockert hatte, konnten nachhaltige wirtschaftliche Schäden größtenteils abgewendet werden. „Weil der Staat in den Jahren zuvor so sparsam war, musste nicht einmal mehr die Mehrwertsteuer erhöht werden. Sie blieb bei maximal 16 Prozent“, berichtet T.. Er kündigte außerdem an, dass fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit deutlich höheren Löhnen in den Folgejahren rechnen könnten. Er selbst hätte gerade damit begonnen, ein Haus zu bauen, als er im Garten die Zeitkapsel fand.

Das kanadische Medium hatte außerdem noch einen Tipp für Anleger und Sparer: Das Jahr 2021 würde wohl ein sehr lukratives Jahr werden. Weil Banken und Sparkassen nach Jahren endlich wieder die Sparzinsen anhöben, würden sich private Investitionen besonders lohnen. In diesem Moment leuchtete ihre Kristallkugel hell auf. Sie erklärte das folgendermaßen: „Anscheinend ist die Netzabdeckung im nächsten Jahr so gut, dass selbst ich aus der Vergangenheit etwas davon mit meiner Kugel empfangen habe.“

T.s Aufenthalt in unserer Zeit war allerdings nur von kurzer Dauer. Nach zwei Tagen musste er wieder ins Jahr 2021 zurückkehren. Bevor er ging, hatte er noch eine weitere ermunternde Botschaft: „Das Klimaproblem wird deutlich kleiner. Weil fast ein Jahr lang alle so diszipliniert zu Hause blieben und kein Auto fuhren, sinkt die Verschmutzung der Luft im nächsten Jahr deutlich.“ Mit diesen Aussichten können wir dem kommenden Jahr alle beruhigt entgegensehen. Vielleicht treffen wir ja sogar den zeitreisenden Robert T. – er soll ziemlich charmant sein.

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Ein schmaler Grat

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Die beschlossenen Lockerungen der Sicherheitsmaßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von Covid-19 lösten eine Welle der Erleichterung aus. Nach Wochen der Isolation und der Einschränkung nehmen viele Menschen die wiedergewonnenen Freiheiten nur all zu gerne an. Konkret sollen ab Anfang Mai kleinere Geschäfte wieder öffnen, dazu zählen offiziell auch Autohäuser. Das Aufatmen der Menschen ist verständlich, die Hintergründe der Lockerungen allerdings nicht zu unterschätzen. Wer glaubt, nun läuft wieder alles wie gehabt, sitzt einem gewaltigen Irrtum auf.

Anfang mit Ende

Nach dem allgemeinen Entsetzen über die rasche Ausbreitung des Corona-Virus und den strengen Sicherheitsmaßnahmen hat die öffentliche Debatte ein neues Lieblingsthema gefunden. Es sind die Lockerungen von Kontaktverboten und Ladenschließungen, die derzeit heiß diskutiert und vereinzelt bereits umgesetzt werden. Noch vor einigen Tagen wiesen vor allem Politiker diese Debatten als zu früh ab. Sie zeigten Verständnis für die Belastung der Bevölkerung, riefen aber gleichzeitig zu Zuversicht und Geduld auf. Heute hat sich der Wind gedreht und das Thema Lockerungen scheint in aller Munde zu sein.

Die Diskussion über etwaige Lockerungen wurde über Wochen unterdrückt. Es ist also überhaupt kein Wunder, dass nun so leidenschaftlich darüber debattiert wird. Ausgangssperren wie in Italien gab es kaum in Deutschland. Die getroffenen Maßnahmen waren allerdings einschneidend genug, um die Menschen mürbe zu machen. Dass in diesem Zuge keine Aussicht auf Lockerung oder gar Rücknahme der Verordnungen gegeben wurde, belastete viele zusätzlich. Dabei wäre es dringend geboten gewesen, nicht nur über Einschränkungen und Verbote, sondern auch über deren Ende zu sprechen. Und zwar von Anfang an.

Ein Leben mit dem Virus

Die aktuelle Krise legitimiert die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen. Es ist richtig, dass in Geschäften großer Wert auf einen Mindestabstand von zwei Metern gelegt wird. Es ist genau so richtig, dass öffentliche Großveranstaltungen auf Monate abgesagt sind. Es ist richtig, dass Gottesdienste nicht mehr dicht an dicht in Kirchen stattfinden.

Fast noch richtiger wäre es allerdings gewesen, man hätte von Anfang an auch darüber geredet, wie sich solche Maßnahmen zurücknehmen lassen, ohne ein deutlich erhöhtes gesundheitliches Risiko für die Bevölkerung einzugehen. Das Virus hat Zeit, das haben wir in den letzten Wochen gesehen. Die Infektionszahlen in Deutschland steigen zwar langsamer an, allgemeine Entwarnung kann aber noch lange nicht gegeben werden. Wir müssen uns darauf einstellen, eine ganze Zeit lang MIT dem Virus, aber OHNE Medikamente zu leben.

Ein solches kann nur gelingen, wenn die viel beschworenen Lockerungen nicht postwendend zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen führen. Das gilt es allerdings zu befürchten, wenn kleine Geschäfte wieder öffnen dürfen, die Versorgung der Bevölkerung mit Schutzmasken allerdings nicht gewährleistet werden kann. Stattdessen gibt es eine dringende Mahnung, die Masken in geschlossenen Räumen zu verwenden. Im Notfall können auch Schals als viraler Schutzschild herhalten. In diesem Punkt bietet unsere Regierung ein blamables Bild.

Maskenpflicht nur so halb

In der Krise lernen wir immer wieder dazu. Wir lernen beispielsweise dieser Tage, wie wichtig es ist, gewisse Sicherungsmaßnahmen frühzeitig einzuleiten und nicht erst dann darüber zu diskutieren, wenn der Unmut in der Bevölkerung wächst. Es muss außerdem regelmäßig geprüft werden, ob die getroffenen Maßnahmen überhaupt noch verhältnismäßig sind. Es heißt nicht umsonst, dass sich ein funktionierender Rechtsstaat am ehesten in seinen dunkelsten Stunden bewährt.

Deswegen verstehe ich die Skepsis und die Empörung mancher Menschen angesichts der Einschränkungen der letzten Wochen. Es ist für die meisten einfach nicht verständlich, warum die Krise in Bayern anders gemanaged wird als in NRW. Warum gibt es in Sachsen eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, bundesweit aber lediglich einen Appell an die Bevölkerung? Wieso tritt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz regelmäßig mit einer Schutzmaske vor die Presse, während sich Angela Merkel noch nie mit einem solchen Teil hat sehen lassen?

All diese Widersprüche verunsichern die Menschen. Sie kosten Vertrauen und sie erinnern an Willkür. Vor allem lassen sie aber die Unkoordiniertheit in dieser Krise offen zu Tage treten. Viele sorgen sich um die Grundrechte. Es geht bei manchen sogar die Angst um, die Krise könne dazu genutzt werden, ihnen diese Rechte dauerhaft zu entziehen. Eine Corona-App stößt bei vielen auf Ablehnung, weil datenschutzrechtliche Bedenken nicht von der Hand gewiesen werden können. Die Datenskandale und Leaks jüngerer Zeit sind dabei nicht gerade vertrauensbildende Maßnahmen gewesen.

Lockerungen einfach so?!

Völlig zurecht werden die harten Einschnitte in das persönliche Leben eines jeden einzelnen kritisch hinterfragt. Deswegen verwundert es auch besonders, dass die gleiche Skepsis nicht bei den aktuellen Lockerungen an den Tag gelegt wird. Klar, man will kein Spielverderber sein und es wäre so viel bequemer, wenn der Biergarten um die Ecke wieder aufhätte. Während sich ein Großteil der Bevölkerung allerdings fragt, wer von den Beschränkungen eventuell profitieren könnte, bleibt eine ähnliche Weitsichtigkeit beim Thema Lockerungen bisher auf der Strecke.

Dabei ist doch völlig offensichtlich, weswegen die ersten Lockerungen nun doch so rasch kommen. Der wirtschaftliche Druck ist einfach zu groß geworden. Wirtschaftsnahe Gesellschaften wie die Leopoldina dominieren die Debatte. Wie eine viel zu laute konstante Begleitmusik mischten sie sich immer wieder in das Management der Krise ein.

Selbstverständlich ist es richtig und wichtig, auch wirtschaftliche Interessen im Blick zu haben. Es kann nicht sein, dass zigtausende von Menschen die nächsten Monate in Kurzarbeit oder im Zwangsurlaub fristen müssen und die Produktion stillsteht. Dass sich aber kaum jemand ernsthaft fragt, warum der Ausstieg aus der Quarantäne nun doch so zügig vonstattengeht, verwundert doch sehr. Um demokratieschonende Maßnahmen geht es zumindest nicht. Das tut sich nur gut als Legende, um andere Interessen zu kaschieren.

Wenn der Lieferant zehnmal klingelt

Wenn man dennoch einmal aus dem Haus geht und die Leute genau beobachtet, dann wird man schnell feststellen, dass die angekündigten Lockerungen bereits jetzt für viele zu gelten scheinen. Masken werden immer mehr zum Mainstream, also warum nicht selbst eine aufsetzen? Viele scheinen dabei aber leider zu vergessen, dass eine solche Atemschutzmaske keinen Universalschutz bietet. Sie schützt eigentlich sogar nur sehr unzureichend vor einer eigenen Infektion mit was auch immer. Ihr Zweck ist viel mehr, andere zu schützen. Das Robert-Koch – Institut wird nicht müde, diesen Fakt zu kommunizieren und trotzdem legen viele ihre Achtsamkeit und Rücksicht in dem Moment ab, wenn sie die Schutzmasken anlegen. Als würde ein Sicherheitsgurt rücksichtsloses Fahren provozieren…

So sind immer wieder kleine Gruppen zu beobachten, die nach erledigtem Großeinkauf nicht etwa vor den Supermarktpforten oder auf dem Parkplatz ein Schwätzchen halten. Ihr ununterdrückbarer Drang, den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen überkommt sie, sobald die Kassiererin die Kasse zugeklappt hat. Wer niemanden zum Quatschen hat, der verweilt auch schon einmal eine knappe Stunde in der Textilabteilung von Warenhäusern. Die anderen Läden haben ja schließlich alle dicht. Und immerhin schützen Handschuhe und Maske zuverlässig vor Corona, Filzläusen und braunem Gedankengut.

Hochkonjunktur feiert derzeit auch der Online-Versand. Das Online-Einkaufsverhalten mancher Mitbürgerinnen und Mitbürger erreicht zur Zeit obsessive Ausmaße. Wenn der digitale Kaufrausch einmal so richtig zuschlägt, bleibt kein Wunsch unerfüllt, kein Sparstrumpf voll – und kein Lieferant gesund. Es ist schlichtweg unsolidarisch, seine Einkäufe nun über Gebühr in den digitalen Raum zu verlagern. Von A nach B kommen diese Waren nämlich nur durch die Mitarbeiter eines Subsubsubunternehmens. Und die kratzen auch ohne Corona schon ordentlich am Burn-Out. Und von dem verprassten Geld sehen die … nichts.


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Hamsterkäufe und anderer Volkssport

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Solidarität und Krise – ein politischer Kreislauf

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Vom linken Spielfeldrand aus, und leider nur leicht verfälscht, beobachtet.

Es ist Krieg! [Andere größere Katastrophen würden auch taugen, z.B. eine Hungersnot, weil die letzten zwölf Jahre die Sommer zu kalt und nass waren, wodurch auf den Feldern alles verschimmelt ist (ob das von diesem „Klima“ kommt, von dem sie im Fernsehen so oft geredet hatten? Dabei hatte der AfD-Bundeskanzler doch versichert, dass es den Klimawandel gar nicht gebe!). Oder ein anständiger Vulkanausbruch, der die Erde in Staub hüllt; und dann wächst auf den Feldern gar nicht erst etwas, das verschimmeln könnte.
Aber Krieg funktioniert ganz wunderbar, ohne dass sich die Natur besonders anstrengen muss. Dazu reicht eine Kombination aus Egoismus, Dummheit und Testosteron – davon gibt es überall genug.]


Für Familie Schmalberg-Neidhardt, wohnhaft in einem hübschen Villenviertel am Rande der Metropole Harsewinkel, kommt der Krieg relativ ungelegen. Eigentlich war vorgesehen, dass der älteste, Frédéric-Noel, im Herbst an die LMU München geht, um Wirtschaftsingenieurwesen zu studieren, mit einem vor-reservierten MBA-Platz in Boston. Das war wichtig, um die Ehre zu retten, denn die mittlere, Lea-Katharina, hatte sich peinlicherweise zu einem freiwilligen ökologischen Jahr gemeldet, um am Bodensee mit muffig riechenden Umweltschützern Vögel zu zählen – und wie soll man das den Nachbarn bloß erklären.

Jetzt ist Frédéric-Noel jedoch nicht auf Mentoren-Treffs, Karriere-Networking – Seminaren oder bei der politischen Arbeit mit den Julis, sondern kämpft in der Armee. Auch ein Attest auf eingebildeten Keuchhusten im rechten Ohrläppchen (beschafft von einem befreundeten Arzt) konnte das Kriegsamt nicht überzeugen, und so wurde der wertvolle Filius eingezogen und dem 37. Infanterie-Regiment zugeteilt. Aus der Schlacht um Bielefeld erreicht die Familie eine Feldpost; darin berichtet er, dass die Hornbrille zwar die Sicht zur Seite hin etwas störe, der Feind aber bisher dankenswerterweise nur von vorn angegriffen habe – auch seien Kopf und Glieder noch alle in ursprünglicher Zahl vorhanden.

Daheim im beschaulichen Harsewinkel, das mit der Front bereits früher in Berührung gekommen war, steht das fette SUV der Schmalberg-Neidhardts, das wegen seines bulligen Formats und des aggressiven Spritverbrauchs auf Holzvergaser umzurüsten leider nicht möglich war, derweil verstaubt im Carport, denn die Straßen sind in eher zertrümmertem Zustand und höchstens noch mit Fahrrädern oder Schubkarren befahrbar, nicht jedoch von Geländewagen, die nicht im Gelände fahren können. Auch gibt die Tankstelle nur noch kleine Portionen Benzin aus, und die Preise findet selbst Vater Schmalberg-Neidhardt „sportlich“. Ohnehin muss der jüngste, Yannick-Leon, zur Zeit nicht zum Vorschul-Kindergarten gefahren werden. Anstatt dort Kurse in Business English und Advanced Management zu besuchen, fährt der Kleine früh morgens mit dem Rad los, stopft in einer improvisierten Fabrik am Stadtrand Zündhütchen und fegt nach Schichtende in der Produktion aus; dabei hat er erst zwei Finger verloren (zum Glück an der linken Hand).

Die wertvollen Travertinplatten vom Gartenweg wurden von der Stadtverwaltung eingezogen, um einige der größten Schlaglöcher in den Militärstraßen zu stopfen, und der Chef-Grill mit drei Ebenen und Brennstoffzellenantrieb konnte bei einem Metallhändler gegen zwei Laibe Brot eingetauscht werden. Gerade letztens hat auch noch der vor nur wenigen Monaten mit der Post aus Amerika bestellte Dyson-Zirkulationsfön den Dienst quittiert. Die Stromversorgung ist ohnehin seit Monaten eher brüchig – nun jedoch ist ein kleines Plastikteil im Inneren gebrochen, und der Händler im Gemischtwarenladen hat gesagt, er empfehle, die Haare für die nächste Zeit mit dem Handtuch zu trocknen.

In Momenten wie diesen beginnt Familie Schmalberg-Neidhardt zu zweifeln, ob denn politisch in letzter Zeit wirklich immer alles richtig gelaufen sei.

Ein paar Jahre später ist der Krieg vorbei. Jetzt wird aufgebaut und links gewählt! Auch der letzte Normalschnösel hat verstanden, dass es Aufgaben gibt, die sich anzupacken lohnen, obwohl sie nicht ausschließlich auf den eigenen Vorteil (oder den der Familie) ausgerichtet sind. Die Großschnösel, die auf Grund von Landbesitz, Anlagen in Wertgegenstände oder Vermögen im Ausland nur geringfügige Einbußen erlitten haben, halten sich taktisch bedeckt. Der Wiederaufbau wird genutzt, um einige längst überfällige Entscheidungen zu treffen, z.B. ein Grundeinkommen, das eine halbwegs würdevolle Existenz ermöglicht, eine einheitliche Krankenversicherung für alle, eine Steuer auf Vermögen und Einkommen aus Finanzgeschäften und ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr.

Einige Querulanten erinnern daran, dass andere fortschrittliche Dinge, wie z.B. ein allgemeines Wahlrecht (jawohl – selbst für Frauen!) früher auch nur unter dem Eindruck alles vernichtender Katastrophen eingeführt werden konnten, und sorgen sich schon wieder um die Zukunft.

Was sich alles erreichen lässt, wenn die Prioritäten einmal etwas umsortiert wurden, und wenn den Leuten klar wird, dass Solidarität auch gegenüber Mitbürgern empfunden werden kann, nicht nur gegenüber großen Unternehmen, die wegen idiotischer Managemententscheidungen in Schieflage geraten sind und ihren Hauptzweck, nämlich das Generieren von Rendite für die Anteilseigner, nicht mehr länger erfüllen können. Und augenscheinlich ist es am Ende doch ein Unterschied, ob eine Regierung soziale Reformen deswegen durchführt, weil sie das Richtige tun will, oder eher deswegen, weil sie verhindern möchte, dass es zu Unruhen kommt, die die Eigentumsverhältnisse ihrer Wählerschaft, oder (noch wichtiger) den Zugang zu lukrativen Posten in der Wirtschaft für Parteimitglieder und ehemalige Amtsträger, einschränken oder gefährden könnten.

Ein bis zwei Jahrzehnte später: Jetzt geht es uns wieder gut! Der Staat stellt diverse Annehmlichkeiten bereit, niemand muss hungern, jeder hat eine Wohnung, und sogar die Bahn fährt – und ist obendrein bezahlbar. Für viele Familien hat sich die Situation erheblich verbessert. Auch Frédéric-Noel, jetzt Familienoberhaupt bei den Schmalberg-Neidhardts, ist fast zufrieden. Er hatte sich nach dem Krieg mit einigen riskanten Anlagegeschäften in Südamerika schnell saniert, konnte seinen MBA nachholen und als Alumnus sogar dem kleinen Bruder Yannick-Leon für dessen BWL-Studium an der LMU einen Platz in der Verbindung Superbia sichern, wo sich seit jeher exzellente Kontakte fürs spätere Berufsleben knüpfen lassen.

Was Frédéric-Noel jedoch inzwischen entschieden nervt, ist die hohe Steuerlast, die seine zahlreichen Einkommen mindert. Dabei unterhält sich eine Vorstadtvilla nicht von allein, und auch die Platzmiete im Yachthafen von Monaco will bezahlt sein. Dass die Abgaben zu großen Teilen für gesamtgesellschaftliche Projekte verplant sind, ficht ihn dabei nicht an, denn die Straßen sind inzwischen längst saniert, und er fährt wieder standesgemäß mit dem Auto – daher hat er gar kein Interesse an einem kostenlosen Nahverkehr, wo man neben stinkenden Mitmenschen auf einer abgewetzten Sitzbank Platz nehmen muss, um morgens zur Arbeit zu kommen. Im Gegenteil empfindet er die Steuern zunehmend als Strafe. Dafür, dass er erfolgreich ist, wo andere gescheitert sind. Dass von seinem hart verdienten Geld (bei dieser Formulierung muss er sich schon länger nicht mehr vor Lachen verschlucken) Hungerleider und Proleten in ihren sozialen Hängematten alimentiert werden, findet er unausstehlich.

Deswegen wählt Frédéric-Noel nun wieder rechts. Da trifft es sich hervorragend, dass der Spitzenkandidat der Union die Öffnung der Krankenversicherung für private Unternehmen angekündigt hat; auch der Spitzensteuersatz soll gesenkt werden. Außerdem ist eine Erhöhung der Pendlerpauschale (jedoch nur für Kfz-Besitzer) im Gespräch. Die Einnahmen hierfür sollen aus einer groß angelegten Privatisierungswelle stammen, bei der Wohnungsgesellschaften, die Bahn, die Post, die städtischen Unternehmen und die Energiewirtschaft wieder in die Hände von Investoren gegeben werden; davon verspricht man sich solideres Haushalten und höhere Rendite. Ein Bürokratie-Abbaugesetz soll zahlreiche Umweltvorschriften, Mieter- und Arbeitnehmerrechte streichen, die momentan noch den Fortschritt behindern. Aber nicht mehr für lange Zeit!

Die linken Querulanten von damals nach dem Krieg hatten offenbar doch Recht, nur dass ihnen das jetzt kaum noch Freude bereitet – denn die von ihnen favorisierten Parteien erleiden eine Wahlschlappe nach der anderen.


Wieder nur wenige Jahrzehnte später: Der Lebensstandard für Menschen mit geringem Einkommen (und das sind nicht wenige!) ist spürbar gesunken. Der Schmalberg-Neidhardt AG geht es allerdings prächtig, nicht zuletzt wegen diverser kreativer Methoden der Steuergestaltung, und wegen guter Kontakte zu wichtigen Stellen im Finanz- und Wirtschaftsministerium. Auch bei der letzten Novelle des Aktienrechts sowie beim Erbschaftsbesteuerungsänderungsgesetz hat man kräftig mitgeschrieben. Frédéric-Noel, inzwischen über 80 Jahre, ist zufrieden, denn für seine Familie, einschließlich sämtlicher Nachkommen für die nächsten zwölf Generationen, ist bestens vorgesorgt. Beruhigt verabschiedet er sich aus dem Vorstandsgeschäft, um sich von nun an besser um den Stiftungsvorsitz und die zahlreichen Aufsichtsratsposten kümmern zu können.

Am Horizont taucht eine Partei auf, die so weit rechts ist, dass das sogar Frédéric-Noel ein wenig unanständig findet. Man munkelt, dort gebe es Stimmen, die eine Rückgewinnung der verloren gegangenen Gebiete aus dem letzten Krieg fordern. Und überhaupt sei das Problem im Staat ja nicht, dass man sich zuwenig umeinander kümmere, sondern dass scharenweise Ausländer in die Sozialsysteme einwanderten und es sich dort gut gehen ließen. Genügend Menschen glauben das.


Noch einige Jahre später: Der neue Kanzler kündigt „einschneidende Veränderungen“ an, jedoch „zum Wohl des Vaterlandes und seiner wunderbaren Bürger“. Es sei an der Zeit, historisches Unrecht wieder auszubügeln!


[Zum weiteren Verlauf der Geschichte bitte ab Zeile 1 weiter lesen.]


Dieser Text ist ein Gastbeitrag von Anonymer Schreiberling. Er freut sich bestimmt über positives Feedback. 🙂

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