Wunsch nach Stärke

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Es gab Hoffnung, es gab Mut und es gab die Möglichkeit – am Ene jedoch konnte Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl in der Türkei für sich entscheiden. Damit bleibt ein Mann an der Macht, der mit Demokratie nichts so recht anfangen kann und Menschenrechte für überbewertet hält. Besonders in Deutschland feiern viele Wahlberechtigte den Wahlsieg des türkischen Präsidenten. Man kann ihnen einerseits zugutehalten, dass sie von den Auswirkungen der Wahl nur indirekt betroffen sind. Andererseits ist ihr Hang zum Autokraten mehr als bedenklich.

Erfolgsserie

Recep Tayyip Erdoğan bleibt Staatspräsident der Türkei. Mit etwas über 50 Prozent der Stimmen konnte er die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Sein Herausforderer, der als gemäßigt geltende Kemal Kılıçdaroğlu, unterlag dem amtierenden Präsidenten nur knapp. Das Wahlergebnis sorgte weltweit für Aufsehen. In der deutschen Politik kritisierte Cem Özdemir (Bündnis ´90/Die Grünen) die Wiederwahl besonders heftig. Dem Bundesumweltminister ist es ganz und gar unverständlich, weswegen sich besonders die in Deutschland lebenden Wahlberechtigten zur Wahl eines lupenreinen Autokraten konnten hinreißen lassen.

Mit einem Stimmenanteil von fast zwei Dritteln fiel das Votum unter den Deutsch-Türken tatsächlich sehr deutlich aus. Ohne die loyale Stammwählerschaft aus Deutschland wäre die Entscheidung wahrscheinlich noch knapper ausgefallen. Eventuell hätte Erdoğan die Wahl sogar verloren.

Trotz allem verfügt der wiedergewählte Präsident auch in der Türkei über ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Auch wenn sein erneuter Wahlsieg vielen sauer aufstoßen dürfte – aus heiterem Himmel kam er sicherlich nicht. Erdoğan machte im Grunde das, was allen Autokraten zur Macht verhilft: Er nutzt die wirtschaftlich schwierige Situation des Landes zu seinem Vorteil. In typischer Diktatoren-Manier führt er den verunsicherten Menschen ein Horrorszenario vor Augen, welches unweigerlich eintreten würde, verließe man sich wieder auf Werte wie Menschlichkeit und Demokratie.

Die Türkei ist seit vielen Jahren ein Land, welches wirtschaftlich alles andere als gut dasteht. Horrende Inflationsraten haben die Menschen dort nachhaltig traumatisiert. Deswegen ist eine Gefahr wie Erdoğan nicht zu unterschätzen. Selbst wenn er die Wahl verloren hätte: Seine Niederlage wäre denkbar knapp ausgefallen. Auch wenn der schwindende Rückhalt für Erdoğan ein gutes Zeichen ist – seine Stärke ist weiterhin alarmierend und hätte auch bei einem Sieg von Kılıçdaroğlu erheblichen Schaden anrichten können.

Wahlkampf unter der Hand

Besorgniserregend ist Erdoğans starker Rückhalt in Deutschland allemal. Für die zahlreichen Stimmen der Deutsch-Türken gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Einerseits hat sich der türkische Präsident auch hierzulande um einen intensiven Wahlkampf bemüht. Eigentlich sind ihm direkte Wahlkampfauftritte untersagt. Trotzdem fand er Möglichkeiten, diese sinnvolle Regelung zu umgehen und in Deutschland vor seinen Anhängern zu sprechen – immer unter dem Deckmantel anderer Themen.

Auch die Anhänger von Kılıçdaroğlu machten hierzulande jede Menge inoffiziellen Wahlkampf. Massenhaft standen seine Anhänger in den Einkaufsstraßen der Republik bereit, verteilten Flyer und führten Gespräche, um den Menschen die Augen über den gefährlichen amtierenden Staatspräsidenten zu öffnen.

Die Wählerinnen und Wähler in der Türkei und in Deutschland eint, dass sie Erdoğan als starke Persönlichkeit wahrnehmen, dem sie die Führung eines Landes zutrauen. In ihren Augen ist er jemand, der die Dinge beim Namen nennt und Missstände nicht duldet. Die Nachteile seiner Präsidentschaft dürften aber zumindest in Deutschland, einem Land mit unabhängiger und freier Presse, offensichtlich sein. Es ist wahrscheinlich die räumliche Distanz, die den Wählerinnen und Wählern in Deutschland dabei hilft, über die Risiken hinwegzusehen. Sie haben nicht unter ihm zu leiden, wenn sie einer Minderheit angehören oder bestimmte Dinge anders sehen. Die Staatsführung der Türkei erleben sie in Deutschland aus sicherer Entfernung. Sie mögen sich Erdoğan verbunden fühlen – ihr Alltag ist er aber mit Sicherheit nicht.

Autokratenwunsch

Die Sehnsucht nach einer Persönlichkeit, die durchgreift und die Probleme wieder in Ordnung bringt, kann aber auch eine andere Ursache haben. Die Lebensrealität in Deutschland mit politischen Entscheidungen, die trotz demokratischer Wahlen und Ausdruckmöglichkeiten immer häufiger dem Willen der Mehrheit entgegenlaufen, schürt eine Stimmung, die Autokraten geschickt für sich nutzen können. Mit der Wahl Erdoğans haben die Deutsch-Türken ein weiteres Ventil, um diesem Frust luftzumachen. Dieses Potenzial darf man nicht unterschätzen.

Denn die Wahl Erdoğans hat nicht nur Auswirkungen auf die Türkei. Es ist auch ein schrilles Alarmsignal für die deutsche Politik. Auch wenn die Regierung an vielen Stellen versagt – türkische Verhältnisse haben wir noch lange nicht. Deutschland kann sich weiterhin mit Fug und Recht einen Rechtsstaat nennen. Alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben verbriefte Grundrechte, die ihnen anderswo verwehrt werden.

Verrat am Rechtsstaat

Trotz dieser verfassungsrechtlichen Garantien geben viele Menschen in Deutschland einem Mann ihre Stimme, der Werte wie Gleichberechtigung und Demokratie mit Füßen tritt. Obwohl diese Menschen jeden Morgen in einem funktionierenden Rechtsstaat wachwerden, verraten sie mit ihrer Stimme für Erdoğan die Demokratie.

Sie machen das nicht grundlos. Auch in Deutschland läuft einiges schief – inzwischen sogar schon so schief, dass ein beträchtlicher Teil der Deutsch-Türken quasi remote einen Autokraten an der Macht hält. Natürlich kann man das zum Anlass nehmen, um Auslandswahlen grundsätzlich zu kritisieren, weil die Wählenden aus der Ferne ganz anders geprägt sind als vor Ort. Andererseits gab die Wahl Erdoğans Aufschluss über den Zustand der deutschen Demokratie. Alle diese Menschen sind bereit dazu, einen Gegner der Menschenrechte im Ausland ins Amt zu hieven. Wenn ähnliche Stimmen nicht auf den deutschen Wahlzetteln landen sollen, muss die Regierung dringend ihre Politik überdenken. Die Wahl in der Türkei hat auf jeden Fall eines gezeigt: Mitreden wollen viele der Deutsch-Türken.

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Ein demokratisches Desaster

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Corona ist jetzt eine Endemie. Trotzdem wird es ein Zurück nie geben. Zu viel Schaden hat das Virus dafür angerichtet. Vieles, was wir als selbstverständlich erachteten, wurde in Frage gestellt, zahllose Menschen sind dem Virus zum Opfer gefallen. Ein noch tieferer Riss geht seit der Pandemie durch unsere Gesellschaft. Die gesellschaftliche Stigmatisierung Ungeimpfter hat auch in Deutschland Spuren hinterlassen. Eine Diskussion über mögliche Impfschäden wird das nicht kitten.

Es war im Frühjahr 2020, als Deutschland und die Welt glaubte, bald wieder zum Normal zurückkehren zu können. Das neuartige Coronavirus hatte die Menschen zutiefst entsetzt und ihnen gezeigt, dass vieles, was sie für selbstverständlich halten, brüchig und instabil ist. Auch wenn sich damals viele darüber im Klaren waren, dass sie noch lange an das Virus denken würden, waren die langfristigen Folgen der Pandemie kaum abzusehen. Erst nach und nach wurde den Menschen bewusst, dass Corona viele Bereiche des Lebens nachhaltig beeinflussen würde.

Viraler Katalysator

Dass SARS-Cov-2 mehr als nur ein Virus war, wurde schnell offensichtlich. Schon in den ersten Monaten der Pandemie war die Brennglas-Metapher so oft benutzt worden, dass es verwundert, dass es dafür nicht auch eine Inzidenz gab. Corona zeigte schonungslos auf, welche Bereiche des öffentlichen Lebens in den Jahren zuvor besonders sträflich vernachlässigt worden waren. Mehr als je zuvor waren die Krankenhäuser am Limit, an vielen Schulen ließen sich nicht einmal die Fenster öffnen, die Abhängigkeit von ausländischen Importen rächte sich bitter.

All diese Probleme hätten ohne das Virus sicher noch eine Weile gemütlich vor sich hingeschwelt, Corona hat deren Entwicklung nur beschleunigt. Auch in anderen Bereichen wirkte das Virus als Verstärker vorhandener Trends. Während man auf den Digitalisierungsschub seit 2020 fast stolz sein kann, war die Pandemie sicher kein Glücksfall für die Demokratie.

Querdenker sind out

Das Virus und die damit einhergehenden Maßnahmen seien eine „demokratische Zumutung“. So fasste es die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) treffend zusammen. Corona brachte eine neue Dimension des Protests zum Vorschein: Sogenannte Querdenker versammelten sich monatelang regelmäßig und skandierten in den Straßen. Beim Anblick dieser wütenden Menge aus Ex-Pegisten, Verschwörungstheoretikern und Für-dumm-Verkauften war den meisten Fensterzuschauern dieses Mal bestimmt nicht nach Klatschen zumute.

Seit vergangenem Jahr sind die Proteste leiser geworden. Mit Omikron ging die akute Pandemie in eine Endemie über. Wer 2022 auf die Straße ging, ist nicht einfach verschwunden: Diese Menschen gibt es noch immer. Sie sind nicht still geworden, weil sie ihren Irrweg eingesehen haben oder weil sie von der Ampel bekehrt wurden. Ihren Frust leben sie nun wieder im Verborgenen aus. Das Problem für die Demokratie ist weniger offensichtlich geworden, aber es ist noch immer da.

Mit der Dominanz der Omikronvariante und dem Wegfall weitreichender Schutzmaßnahmen hat sich der aktive und laute Protest erübrigt. Inzwischen diskutiert sogar der Mainstream über Impfkomplikationen und -schäden nach einer Coronaimpfung. Wer diese Schicksale noch vor einigen Monaten ansprach, dem wurden die schlimmsten Unterstellungen gemacht: Solche Menschen galten als unbelehrbare Coronaleugner, sie wurden als Querdenker und Verschwörungstheoretiker diffamiert, die überfüllten Intensivstationen waren ihnen egal.

Nichts begriffen

Zum Glück ist man inzwischen weiter. Die Debatte um die Nachteile der neuartigen Corona-Impfstoffe hat eine rationale und sachliche Ebene erreicht. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Wind hat sich jedoch sehr schnell gedreht. Der Sinneswandel von vielen ist eher auf Gruppendynamiken und weniger auf Überzeugung und Glaubwürdigkeit zurückzuführen.

Auch in der öffentlichen Diskussion über den Umgang mit Ungeimpften in der Pandemie gibt es Lücken. So hinterfragt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zwischenzeitlich die Sinnhaftigkeit von Lockdowns und 2G. Es wird darüber geredet, dass es falsch war, Ungeimpften den Zutritt zu Restaurants, Kinos und Friseursalons zu verwehren – und bestenfalls einen marginalen Einfluss auf die Pandemiebekämpfung hatte. Die gesellschaftliche Stigmatisierung, die Ungeimpfte über sich ergehen lassen mussten, wird jedoch kaum erwähnt. Noch immer wird viel zu wenigen zugebilligt, sich aus rationalen Gründen gegen eine Coronaimpfung entschieden zu haben. Sie erfahren auch heute keine Rehabilitierung. Wie schon 2021 sind sie unsichtbar.

Zerrissene Gesellschaft

Auch wenn viele heute zurückrudern: Der Umgang mit Ungeimpften in der Pandemie war eine Sternstunde der Demokratiefeindlichkeit. In der Bundesrepublik wurde eine Bevölkerungsgruppe niemals zuvor in vergleichbarer Art und Weise ausgeschlossen und mit latenter Feindseligkeit überzogen. Alle Mechanismen, die so etwas verhindern sollten, haben versagt.

Offene Demokratiefeinde rieben sich die Hände. Sie boten vielen Ungeimpften weit mehr als eine neue politische Heimat. Sie gaben ihnen das Gefühl, sie zu verstehen und bestärkten sie in ihrer Wut auf den Rest der Gesellschaft. Auf beiden Seiten entstand ein Teufelskreis, der die Gesellschaft entzweite.

Nicht demokratiefähig?

Corona hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass es Grenzen der Demokratiefähigkeit in der Bevölkerung gibt. Das Virus war ein weiterer Beleg dafür, dass die beste aller Regierungsformen in der Krise schwieriger funktioniert. Schon in weitaus beruhigteren Zeiten ist das Ringen um eine gemeinsame Lösung alles andere als leicht. Das Virus verstanden viele zurecht als existenziellen Angriff – und der Mensch schaut naturgemäß zuerst nach sich und erst dann nach den anderen.

In der Retrospektive sind viele sicher bestürzt über den Schaden, den die Demokratie in der Coronazeit genommen hat. Doch die Pandemie ist vorbei, die Angelegenheit kann leicht totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden. Eine breite Debatte darüber, wie groß und nachhaltig der Schaden an Rechtsstaat und Demokratie jenseits von Querdenkern und Co. ist, fand bis heute nicht statt. Andere Krisen haben Corona überlagert. Sie setzen fort, was Corona erst richtig zum Laufen brachte: Die Einteilung der Bürger in Gut und Böse.


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Demokratisches Long Covid

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Weniger Demokratie auf Raten

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Deutschland verroht. Die Kultur der sachlichen Diskussion ist vom Aussterben bedroht. Immer mehr gewöhnen wir uns an eine gesellschaftliche und politische Polarisierung und übersehen, was wir dabei opfern. Gesprochen wird von eingeschränkter Meinungsfreiheit, Demokratieabbau und Diktatur. Währenddessen macht sich eine Stimmung der moralischen Überheblichkeit breit, die Widerspruch nur in kleinen Dosen duldet und jeden aus dem Diskurs ausschließt, der zu sehr vom vorherrschenden Narrativ abweicht. Immer klarer wird, dass das Ende einer Demokratie nicht zwangsläufig eine gewaltsame Diktatur sein muss.

Vortrag mit Nachwehen

Vergangenen Monat hat die ehemalige ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz einen Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen gehalten. Thema war das Verhältnis zu Russland, insbesondere angesichts des Kriegs in der Ukraine. Die Zeitungen waren tagelang voll davon. Auch heute wirkt der Auftritt der Russlandexpertin in Reutlingen noch nach. Wie konnte es dazu kommen?

In ihrem Vortrag warb Krone-Schmalz dafür, den Dialog mit Russland zu suchen, um ein Ende des Kriegs herbeizuführen. Sie plädierte außerdem für Sicherheitsgarantien im Interesse Russlands. Die Situation in der Ukraine sei auch deshalb eskaliert, weil man einen NATO-Beitritt des souveränen Staats nicht klar zurückgewiesen habe. Die Thesen von Frau Krone-Schmalz waren zweifellos provokativ. Sie boten aber auch ausreichend Stoff für eine kontroverse demokratische Debatte zum Thema.

Shitstorm mit Methode

Doch genau diese Debatte blieb aus. Stattdessen sah sich Gabriele Krone-Schmalz einer vernichtenden Kritik ausgesetzt, die jede sachliche Diskussion augenblicklich abwürgte. Schon vor ihrem Auftritt in Reutlingen war die 73-jährige eine umstrittene Persönlichkeit. Die Vehemenz der Reaktionen auf ihre jüngsten Ausführungen sprengten aber endgültig den Rahmen des Anständigen. Nicht nur Gabriele Krone-Schmalz wurde öffentlich für ihre Ansichten quasi geschlachtet, auch gegen die Volkshochschule Reutlingen entbrannte ein regelrechter Shitstorm. Andere Institutionen werden sich künftig sehr gut überlegen, welche Gäste sie einladen werden und wie weit sie vom vorherrschenden Narrativ abweichen werden.

Die Verärgerung über den Vortrag in Reutlingen weckte bei vielen ungute Erinnerungen ans Frühjahr 2021. Damals sprach sich ein Künstlerkollektiv auf satirische Weise gegen einen weiteren Lockdown zur Bekämpfung der Pandemie aus. Die Aktion #allesdichtmachen fiel vielen der 50 Künstlerinnen und Künstler böse auf die Füße. Angesichts des enormen Drucks aus Forschung, Politik und Teilen der Gesellschaft ruderten manche erschrocken zurück. Mit einem solch vernichtenden Urteil hatte keiner von ihnen gerechnet. So geschmacklos einige die Aktion auch fanden, der Zerstörungswille der Empörung darüber stand in keinem Verhältnis dazu.

Eine demokratische Katastrophe

In den letzten Jahren wurde viel und oft darüber gesprochen, was man in Deutschland noch sagen dürfte, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Zur Diskussion lud man meist Vertreter der entgegengesetzten Pole. Während die einen die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit in Deutschland über den grünen Klee lobten, ließen sich andere über diktatorische Verhältnisse á la DDR aus. Eine vernünftige Debatte fand auch hier viel zu selten statt.

Tatsächlich haben inzwischen rund 50 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger die ernsthafte Sorge, sie könnten nicht mehr all das sagen, was sie wollten, ohne deswegen in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen. Diese Angst gilt explizit auch für Äußerungen, die in einem funktionierenden Rechtsstaat eindeutig von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Zusammen mit einer sinkenden Beteiligung an Wahlen, besonders auf Landes- und Kommunalebene, sollten solche Tendenzen jeden echten Demokraten in blankes Entsetzen stürzen.

Romantisches Diktaturverständnis

Es hilft dabei wenig, wenn man reflexartig von einer Diktatur redet, weil die Meinungsfreiheit in Zweifel steht. Im Sommer 2019 stellte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Ein AfD-Anhänger meldete sich und warf der Kanzlerin vor, das Land in eine Diktatur umgebaut zu haben, in der er nicht mehr das sagen könnte, was er gerne wollte. Merkel entgegnete ihm, dass sein Auftritt bester Beleg dafür sei, dass wir eben nicht in einer Diktatur lebten.

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Angela Merkel im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern: Wir leben nicht in einer Diktatur.

Sie hatte damit vollkommen recht. Kein Mensch wird in Deutschland dafür eingesperrt, weil er seine Meinung sagt. Das sind Methoden, die wir aus Ländern wie Russland oder China kennen. Eine Diktatur existiert in Deutschland formal nicht. Das Problem ist, dass viele Menschen eine viel zu naive Vorstellung davon haben, was eine Diktatur ist und wie sie entsteht.

In nahezu grenzenloser moralischer Überlegenheit warten manche heutzutage auf eine Partei oder auf eine Bewegung, die sie aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen bekämpfen können. In der AfD haben viele dieser Moralisten Sinn und Grund für diesen Kampf erkannt. Und tatsächlich ist die AfD eine Partei, die mit Verfassungstreue und Demokratie wenig am Hut hat. Sie ist aber weit davon entfernt, einen echten Umsturz herbeizuführen oder dem Land eine Diktatur überzustülpen. Wer sich ausschließlich auf diese Kämpfer verlässt, die das Problem exklusiv außerhalb eines bestimmten Spektrums sehen, der wird früher oder später in ebendieser unfreien Gesellschafft erwachen, die er immer beseitigt sehen wollte.

Die halbdemokratische Gesellschaft

Der größte Feind der Demokratie ist nämlich nicht die Diktatur. Es ist die Ignoranz und die Gleichgültigkeit, mit der sich immer mehr Menschen von einer demokratischen Gesellschaft abwenden. Die Geschichte zeigt genügend Beispiele dafür, wie eine Diktatur gegen den Willen der Bevölkerung und manchmal auch gewaltsam eingeführt wurde. Die DDR war ein System, das keiner wollte, aber in dem viele sich notgedrungen eingerichtet hatten. Der Machtübernahme der Nazis gingen zwar demokratische Wahlen voraus, der letztendliche Umsturz gelang aber nur durch den exzessiven Einsatz von Gewalt, der sich in den Folgejahren weiter steigern sollte.

Den Todesstoß versetzten Weimar allerdings die vielen Menschen, die mit Sicherheit keine diktatorische Gewaltherrschaft unter Hitler im Sinn hatten, den Glauben in die Demokratie aber lange aufgegeben hatten. Auch heute befinden wir uns in einer Situation, in der immer weniger Menschen, der Demokratie zutrauen, mit den Krisen unserer Zeit fertigzuwerden. Fast die Hälfte der Deutschen glaubt nicht mehr an die Meinungsfreiheit, einen Grundpfeiler jeder Demokratie.

Ohne Sinn und Verstand

Wenn Menschen den Leitspruch „Nie wieder“ hören, dann denken sie daran, sich Naziaufmärschen entgegenzustellen und Zivilcourage zu beweisen, wenn Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund drangsaliert werden. Das ist mutig und richtig. Dieses Engagement leistet einen wichtigen Beitrag zu einem gesunden Rechtsstaat. Trotzdem werden diese Menschen nicht so schnell das Zepter übernehmen. Eine Gewaltherrschaft wie im Dritten Reich ist heute eine Dystopie. Sie war aber möglich – und dafür gab es Gründe. Die Methoden der Nazis von damals funktionieren heute nicht mehr. Dafür waren ihre Taten zu grauenvoll. Die Mechanismen, wie es zu einer unfreien Gesellschaft kommen kann, bestehen aber weiterhin.

In der krisengeschüttelten Zeit, in der wir leben, ist die Angst unser ständiger Begleiter. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Besonders die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig Verlass auf den gesunden Menschenverstand ist, wenn eine existenzbedrohende Angst um sich greift. Die Hamsterkäufe im ersten Pandemiejahr, die massenhaften Aufmärsche selbsternannter Querdenker und die gefühlte Impfpflicht sind sicher keine Meisterleistungen menschlicher Intelligenz.

Im Laufe des Jahres 2021 ist die Stimmung bedenklich gekippt. Die ersten Dosen der neuen Impfstoffe waren kaum an ein paar ausgewählte Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen verabreicht, da kamen manche Politiker schon mit Privilegien für Geimpfte und Sanktionen für Ungeimpfte um die Ecke. Das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung wurde auch dann konsequent infrage gestellt, als immer klarer wurde, dass die viel angepriesenen Wundermittel Grenzen in ihrer Wirkung und Effektivität hatten.

Eine neue Superwaffe

Für viele Ungeimpfte war der Herbst 2021 eine schwere Zeit. Sie waren durch 2G nicht nur von vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, sie spürten eine latente Feindseligkeit, die ihnen aus dem Rest der Bevölkerung entgegenschlug. Forscher, Politiker und Prominente schürten eine Stimmung, die bei Betroffenen das Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat. Spätestens seitdem den Ungeimpften die Verantwortung für überfüllte Intensivstationen zugeschoben werden sollte, ist klar, dass die Demokratie nicht naturgegeben ist.

Möglich ist das, weil sich viele antidemokratische Strömungen heute eine neue Superwaffe zu eigen gemacht haben: die Moral. Lange in der Politik verpönt und belächelt, läuft sie in diesem Geschäft inzwischen zur neuen Höchstform auf. Gegen Widerspruch jedweder Form scheint sie gefeit. Jeder, der sich ihr widersetzt, steht sogleich im Verdacht, etwas Böses im Schilde zu führen. Ehe man sich versieht, ist man AfD-nah, ein Covidiot oder ein Kremlpropagandist. Die Moralisierung der Debatte teilt die Lager in Gut und Schlecht. Es ist absolut menschlich, dass man auf der guten Seite stehen möchte. Den Mut, die moralische Seite zu verlassen und für sich in Anspruch zu nehmen, eben nicht zu den Bösen zu gehören, haben nicht viele. Sie bleiben lieber stumm. Zu bequem ist es doch, auf der richtigen Seite zu stehen. Unsere Vorfahren werden das ähnlich gesehen haben. Demokratisch ist das nicht.

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Gabriele Krone-Schmalz an der VHS Reutlingen


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