Pathologische Undemokraten

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Demokratie geht schrittweise verloren. Der selbsternannten demokratischen Mitte ist das anscheinend nicht schnell genug. Mit einem Blankoscheck für Aufrüstung haben sie gerade einmal drei Wochen nach der Bundestagswahl ein wahres Meisterstück des Wahlbetrugs abgeliefert. Sie haben dazu nicht nur ihre Wahlversprechen in Rekordtempo gebrochen. Die erforderlichen Mehrheiten dazu haben sie sich aus dem abgewählten Bundestag geliehen. Dass nach der Bundestagswahl knapp zwei Dutzend Wahlkreise nicht ordentlich repräsentiert werden, verkommt dabei fast zur Nebensache. Es steht nicht gut um die Demokratie im Land.

Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 23. Februar ist nicht schön. Die AfD hat ihr Ergebnis von 2021 verdoppelt, ein Black-Rock – Lobbyist wird nächster Bundeskanzler, gleich zwei Parteien sind mit einer 4 vorm Komma am Einzug ins Parlament gescheitert. Die vielbeschworene demokratische Mitte ist kleiner geworden. Union, SPD und Grüne können nach dem letzten Wahlsonntag nur noch rund 66 Prozent der Sitze im Plenarsaal für sich beanspruchen. Das reicht für eine passable Regierungsmehrheit – nicht jedoch für eine Zweidrittelmehrheit, um zum Beispiel das Grundgesetz zu ändern.

Ohne Speichern weitermachen

Union und SPD passt das so gar nicht. In mühseligen Beratungen haben sie sich auf eine Reform der Schuldenbremse geeinigt, die einseitig Rüstungsausgaben begünstigt. Ein unspezifisches und ungedecktes Milliardenpaket für Infrastruktur gab es als Feigenblatt dazu. Weil den Architekten dieses XXL-Schuldendeals nach der Wahl die erforderlichen Mehrheiten im Parlament fehlen, haben sie sich etwas ganz besonderes ausgedacht: die Einberufung des alten Bundestags, mit den alten Abgeordneten und den alten Mehrheiten.

Die Neukoalitionäre machen sich dabei eine lange vorhandene rechtliche Lücke zunutze. So heißt es in Art.39,  Abs. 2 des Grundgesetztes:

Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen

Dieser kurze Satz ermöglicht zwar, dass der neugewählte Bundestag auch vor Ablauf von 30 Tagen erstmalig zusammentreten kann, er schließt aber auch nicht aus, dass vor der Konstituierung des neuen Bundestags der abgewählte Bundestag noch tagen kann.

Groß angelegter Wahlbetrug

Diese Regelungslücke im Grundgesetz ist zutiefst undemokratisch und ruft zurecht bei jedem aufrechten Demokraten ein Gefühl der Empörung aus. Da hilft es auch wenig, dass es Möglichkeiten gibt, die Konstituierung des neuen Bundestags vorzuziehen. Dieses Szenario sollte die Regel und nicht die Ausnahme sein, die an Bedingungen geknüpft ist.

Selbst wenn man die Einberufung des alten Bundestags nach der Wahl gesetzlich unterbinden würde, wäre das Parlament im Krisenfall voll handlungsfähig: Ein neuer Bundestag ist gewählt und kann zusammentreten. Er muss sogar – nach spätestens 30 Tagen. Wieder einmal haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Dreistigkeit der nachnachfolgenden Generation gründlich unterschätzt.

Auch wenn es in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrfach zu einem solchen Szenario kam, ist dieser Vorgang angesichts der tektonischen Kräfteverschiebungen durch die Wahl am 23. Februar eine niederträchtige und beispiellose Unverschämtheit. Noch nie in der demokratischen Geschichte unseres Landes wurde den Wählerinnen und Wählern so heftig ins Gesicht geschlagen wie in diesen Tagen.

Durch besonders restriktive Regelungen hinsichtlich direktdemokratischer Formate haben die Bürgerinnen und Bürger sowieso nur alle vier Jahre die Möglichkeit, ihren politischen Willen ernsthaft und nachhaltig zu artikulieren. Dieser dokumentierte Wählerwille gilt unverzüglich nach Feststellung des Wahlergebnisses und nicht erst 30 Tage später!

Selbsterfüllende Prophezeiung

Die Taktik der etablierten Parteien degradiert das Wahlergebnis zu einer Verhandlungsmasse, die nach Gutdünken innerhalb einer 30-Tages – Frist hin- und herverschoben werden kann. Sie können sich nicht eingestehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die alten Mehrheiten satthatten und sich eine andere Politik wünschen. Das Gebaren der Abgestraften erinnert eher an einen Verschiebebahnhof von Mehrheiten als an Demut vor dem Wählerwillen.

Es gab eine Zeit, da hat es die etablierten Parteien gestört, die Projektionsfläche von Unzufriedenheit und Hass zu sein. Heute ist das anders. So wie die Etablierten sich aufführen, könnte man meinen, sie genießen es regelrecht, von einer immer größeren Gruppe in der Bevölkerung verabscheut zu werden. Als täten sie alles dafür, dem Bild zu genügen, das andere von ihnen zeichnen.

Besonders verlogen zeigen sich wieder einmal Grüne und Linke. Die einen inszenieren ein medienwirksames Tamtam, um dem Paket ihren ideologischen Stempel aufzudrücken, die anderen kneifen, wenn sich Möglichkeiten ergeben, die Einberufung des alten Bundestags zu verhindern. Besonders letztere brauchen sich nicht zu wundern, mittlerweile als fester Bestandteil eines kungelhaften Parteienkartells wahrgenommen zu werden.

Krankhaft undemokratisch

Die alten Parteien haben ein Problem, das immer stärker pathologisch zutagetritt. Sie sind einem Machtwahn, einer regelrechten Regierungssucht verfallen und können es nicht ertragen, dass die Wähler ihnen am 23. Februar einen gewichtigen Teil ihrer Handlungsgrundlage entzogen haben. Sie verfügen im Bundestag nicht mehr über die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Ideen dürfen sie weiter haben, nur umsetzen können sie sie nicht mehr. Indem sie dennoch herumtricksen und den abgewählten Bundestag einberufen, verhalten sie sich wie die Autokraten, die sie angeblich bekämpfen wollen.

Die Auswirkungen dieser vereinbarten Rekordschulden werden die Bürgerinnen und Bürger in den nächsten Jahren deutlich zu spüren bekommen. Aber selbst wenn die volle Entfaltung einige Zeit auf sich warten lässt, steht für viele Wählerinnen und Wähler eines schon heute fest: 23 Wahlkreise stehen heute ohne Direktkandidaten da, vier davon sogar ganz ohne parlamentarische Vertretung. Die Anliegen der Menschen dort werden in den nächsten vier Jahren keine Rolle spielen.

Schuld daran ist die Wahlrechtsreform, welche die Ampel in ihrer Zeit verbrochen hat. Dass damit die meisten Stimmen in einem Wahlkreis kein Ticket mehr in den Bundestag sind, ist für sich schon sehr fragwürdig. Dass aber Wahlkreise komplett verwaist sind, ist eine erschreckende Entwicklung.

Verschwörungstheorie trifft Realität

Selbst die Kandidatur für aussichtsreiche Parteien wie die CSU in Bayern garantiert nach der aktuellen Regelung nicht den Einzug in den Bundestag. Es dürfte bei der nächsten Bundestagswahl für Parteien mit traditionell vielen Direktmandaten daher schwierig werden, ausreichend Kandidaten zu finden, die sich die Strapazen des Wahlkampfs dennoch antun.

Auch die Wählerinnen und Wähler werden sich in vier Jahren zweimal überlegen, ob sie den Weg zur Wahlurne antreten oder nicht. Immerhin wird an Hundertausenden von ihnen faktisch vorbeiregiert. Das ist inzwischen keine Schwurbelei mehr, sondern empirisch nachweisbar. Die Beteiligung von über 83 Prozent bei der letzten Wahl wird auf jeden Fall ein Ausrutscher bleiben.


Demokratie lebt von engagierten Demokraten. Auch wenn die aktuellen Entwicklungen viele Menschen an Staat und Demokratie verzweifeln lassen, ist Resignation ein Geschenk für die Totengräber der Demokratie. Um ihre fatale Politik fortzuführen, müssen sie schon heute zu Maßnahmen greifen, die in die Geschichtsbücher eingehen werden. Sie dürfen damit nicht durchkommen!


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Vertane Chancen

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Die Bundestagswahl steht an, dabei sind die Ergebnisse der drei Landtagswahlen im Osten nur halb verdaut. In allen drei Bundesländern sind die Regierungen zwar vereidigt, trotzdem sehen sich die Parlamente dort mit einer beängstigend starken AfD konfrontiert. Einmal mehr heißt es: Der Osten ist extrem. Diese Extremismuserzählung greift aber zu kurz. Sie verschleiert, welchen enormen Umbrüchen die östlichen deutschen Bundesländer ausgesetzt waren und wie viel demokratisches Potenzial auf dem Weg verlorenging.

2013 war alles besser?

Die AfD ist Volkspartei im Osten. Die jüngsten Wahlergebnisse lassen gar keinen anderen Schluss zu. In Thüringen liegt die Höcke-Partei sogar gut 10 Prozent vor der zweitplatzierten CDU. In mehreren ostdeutschen Bundesländern verfügt die AfD mittlerweile über eine Sperrminorität, mit der sie wichtige Entscheidungen empfindlich mitbeeinflussen kann.

Vor knapp zwölf Jahren hätte das niemand für möglich gehalten. Der damals neuen Alternative für Deutschland mit ihren wenig opportunen Ideen und Konzepten sagte man ein Schicksal voraus wie vielen neuen Parteien. Sie würde sich innerhalb kurzer Zeit selbst zerlegen und nach ein paar wenigen aufsehenerregenden Wahlerfolgen wieder in der Versenkung verschwinden. Irgendwie hatte man damit auch recht: Die AfD von 2013 hat sich zerlegt und ist in der Versenkung verschwunden. Zurückgeblieben ist eine schwer kontrollierbare rechte Bestie, die unsere Demokratie bei jeder Gelegenheit zu destabilisieren versucht.

Gar nicht so demokratisch

Schnell zeichnete sich der Trend ab, dass die AfD besonders im Osten punkten konnte. Immerhin zog sie dort in die ersten Parlamente ein. Das lag sicher nicht nur an günstig gelegten Wahlterminen, sondern auch an dem demokratischen Aufbruch, den die noch junge Partei simulierte.

Von Anfang an setzte sie auf eine äußerst zugespitzte Rhetorik, die anscheinend in manchen Bundesländern besser ankommt als in anderen. Die Ansprache allein macht’s aber nicht, andere Faktoren spielen ebenso eine Rolle. Politische Ränder hatten in den neuen Bundesländern aber erwiesenermaßen leichteres Spiel: Die Zustimmung zu Parteien wie der DVU, der NPD, aber auch zur PDS sind mehr als nur ein Trend.

Und bevor das ganze in einen weiteren Text ausufert à la „Ich erkläre euch, warum der Osten so extrem ist“, haben reale Wahlergebnisse längst bewiesen, dass die AfD ein gesamtdeutsches Problem ist. Trotzdem trägt sie ihr extremistisches Potenzial im Osten besonders ungeniert zur Schau. Als der CDU-Abgeordnete Andreas Bühl die Vorgänge bei der Konstituierung des Thüringer Landtags als versuchte Machtergreifung einordnete, mag das polemisch gewesen sein, im Wesentlichen aber zutreffend.

Kapitalismus zum Anfassen

Noch heute gilt es als chic, das starke Abschneiden extremer Parteien und die immanente Unzufriedenheit im Osten mit dem Strukturwandel zu erklären. Und es stimmt: Die Abwicklung eines wesentlichen Teils existenzsichernder Wirtschaftszweige in der ehemaligen DDR hat die Menschen dort nachhaltig verunsichert. Die Heilsversprechen aus dem Westen waren kaum ausgesprochen, schon lagen die Träume in Trümmern.

Es greift aber zu kurz, ein paar Werkschließungen zur Mutter aller Probleme zu erklären. Mindestens genau so ernüchternd wird gewesen sein, dass auf diesen harten Schnitt zu Beginn der 1990er Jahre nie eine echte Erholung folgte. Im Gegenteil: Trotz eines nicht gekannten Ausmaßes an politischer Partizipation fielen viele Selbstverständlichkeiten weg. Arbeitsplätze waren plötzlich nicht mehr sicher, die Suche nach einem geeigneten Kita-Platz für den Nachwuchs gestaltete sich auf einmal nervenaufreibend und zäh und echte Obdachlose kannte man sonst bestenfalls aus dem Westfernsehen.

Zu verlockend war der Ruf des Kapitalismus, der über die Mauer schallte. Mit Chiffren wie Fernsehern, Autos und Reisefreiheit versprach er allgemeinen Wohlstand, ein Versprechen, das selbst im Westen dieser Zeit nicht mehr haltbar war. Als sich angesichts dieser Zustände allmählich Widerstand formierte, folgte die westdeutsche Antwort prompt: Ihr wolltet die D-Mark, jetzt lebt auch mit den Nachteilen. In bemerkenswert überheblicher Manier verdrehte man die Tatsachen und unterstellte den ostdeutschen Mitbürgern, sie würden sich über ihr selbstgewähltes Schicksal erheben. So kann Integration und Wiedervereinigung nicht funktionieren. Weder gesellschaftlich noch politisch.

Wege zur Demokratie

Der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) ließ sich einmal zu der Bemerkung hinreißen, der Osten des Lands sei nicht demokratiesozialisiert. Das ist nicht nur ein heftiger Punsh ins Gesicht jedes Ostdeutschen, diese bodenlose Frechheit verkennt auch die Realität. Denn die Wege zur Demokratie verliefen für Ost und West völlig unterschiedlich.

Dem Westen der Republik wurde die Demokratie von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg quasi übergestülpt. Was beim ersten Mal nicht funktioniert hat, sollte nun beim zweiten Anlauf erfolgreicher sein. Und tatsächlich stieß die Idee einer neuen deutschen Demokratie auf fruchtbaren Boden. Das blanke Entsetzen über die Gräueltaten in der NS-Zeit und das Wirtschaftswunder in den 1950er und 1960er Jahren taten dann ihr Übriges, um die Demokratie in der Gesellschaft zu verankern. Mit den Jahren wurde sie aber immer mehr zum Selbstläufer. Die Menschen richteten sich in ihr ein und hörten auf, sie zu hinterfragen.

Der Preis für demokratische Verhältnisse war im Osten deutlich höher. Nach vierzig Jahren Fremdbestimmung setzten die Menschen dort der Diktatur ein Ende. Sie wollten einen Staat, der demokratisch verfasst war und der dieses Wort nicht nur zum Schein im Namen trug. Als die Mauer gefallen war, endete die Aufbruchstimmung abrupt. Die westdeutsche Politik verstand es meisterlich, sich wie eine Löschdecke über den Ruf nach Mitbestimmung zu werfen und damit ihre liebgewonnene Wohlfühl-Demokratie zu verteidigen.

Geplantes Problemkind

Dabei wäre von der ostdeutschen Erhebung so viel zu lernen gewesen. Die bewährte westdeutsche Demokratie hätte wieder an Fahrt aufnehmen und sich durch die Übernahme bestimmter Strukturen aus dem Osten sogar fortentwickeln können. Wie wäre die weitere deutsche Geschichte wohl verlaufen, wäre es nicht beim Beitritt des Ostens zur Bundesrepublik geblieben, sondern hätte sich stattdessen ein neuer deutscher Staat mit einer eigenen Verfassung gebildet? Stattdessen bremste man eine echte Wiedervereinigung vorschnell aus. Dass ostdeutsche Parteien bei der Bundestagswahl 1990 besonders berücksichtigt wurden, tröstet über diesen Zustand kaum hinweg.

Man war nicht ernsthaft bereit dazu, sich aufeinander zuzubewegen und voneinander zu lernen. Dabei hätte es so viel zu entdecken gegeben. Eine gemeinsame Verfassung hätte der Demokratie einen neuen Push geben können. Der Dornröschenschlaf der Kontroverse ab den 00er-Jahren wäre höchstwahrscheinlich ausgeblieben. Stattdessen hätte man weiter leidenschaftlich miteinander gerungen. Und auch wenn im Meinungsstreit hin und wieder die Fetzen fliegen: Extremistische Kräfte hätten es schwerer gehabt fußzufassen.

Doch man ging einen anderen Weg. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurde die nachrangige Stellung der ostdeutschen Bundesländer manifestiert. Formal gab es sie nie, aber schon in den nächsten Jahren zeigte sich immer deutlicher, wer Gewinner und wer Verlierer des wiedervereinigten Deutschlands war. Der Osten wurde perfekt auf seine Rolle als Problemkind vorbereitet, dabei ist völlig klar: Dem Osten musste Demokratie nie beigebracht werden.


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Ernstfall Demokratie

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Es ist seit Wochen in Stein gemeißelt: Am 23. Februar wird ein neuer Bundestag gewählt. Kanzler, Oppositionsführung und ein Ex-Koalitionär haben so entschieden. Der Zeitplan ist zwar weiterhin knapp, aber für jeden bleibt gerade so genug Zeit, um sich auf den vorgezogenen Wahlkampf vorzubereiten. In Zeiten politischer Umbrüche und großer Unzufriedenheit genießt man lieber weiter die liebgewonnene Wärme im Elfenbeinturm. Dass Demokratie unbequem sein muss, um zu funktionieren, findet bei der gut durchorchestrierten Bundestagswahl kaum Beachtung.

Vertuschter Formfehler

Deutschland bekommt einen neuen Bundestag. Der Wahltermin am 23. Februar ist schon heute in aller Munde. Das Problem dabei: Es gibt überhaupt keine Rechtsgrundlage für diesen Termin. Denn ausgerufen werden kann die Neuwahl erst dann, wenn der Bundespräsident den Bundestag aufgelöst hat. Das wird erst dann der Fall sein, wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verliert. Diese Möglichkeit hat er aber erst, nachdem er sie überhaupt gestellt hat. Außer einer Ankündigung dieses gewagten Schritts liegt bislang nichts vor.

Der 23. Februar ist also kein zwangsläufiger Termin. Er ist das Produkt eines Kompromisses, welches die Opposition dem scheidenden Kanzler abrang, nachdem dieser die Vertrauensfrage am liebsten bis in den Januar hinausgezögert hätte. Diese anfängliche Empörung über die Hinhaltetaktik von Olaf Scholz (SPD) wich auch bei der Opposition schnell einem Konsens über den anvisierten Wahltermin.

Demokratisches Planspiel?

Die Damen und Herren in den blauen Sesseln scheinen dabei zu vergessen, dass sie ihre herausgehobene Position nicht der gönnerhaften Haltung eines wackeligen Regierungschefs zu verdanken haben, sondern dem Willen der Bürgerinnen und Bürger. Es waren die Wählerinnen und Wähler, welche in einem demokratischen Akt über die Zusammensetzung des Bundestags und damit mittelbar der Bundesregierung entschieden haben.

Nun ist die Bundesregierung zerbrochen und kann sich nicht mehr auf eine Mehrheit im Parlament stützen. Die logische Konsequenz daraus wäre die unverzügliche Anberaumung der Vertrauensfrage gewesen und keine strategischen Spielchen, welche die Bürgerinnen und Bürger über Wochen der demokratischen Teilhabe berauben.

Denn bei der Festsetzung des provisorischen Wahltermins fand der Wählerwille keine Berücksichtigung. Es ging in erster Linie darum, den anstehenden Wahlkampf so günstig wie möglich zu platzieren. Der aufbrandende Wahlkampf ist schon mehr als zwei Monate vor der Wahl genau getaktet, die Umfragewerte werden immer ernsthafter als Richtwert eines Wahlergebnisses interpretiert. So entsteht der Eindruck eines demokratischen Planspiels, bei dem die Wähler kaum eine Rolle spielen. Das ist nicht nur riskant, sondern auch konträr zum Sinn und Zweck einer Demokratie: Sie lässt sich nicht planen.

Oppositionsversagen

Insgeheim würde wahrscheinlich jede Regierung ihre Vorhaben am liebsten völlig ungestört in die Tat umsetzen – wäre da nicht das Parlament mitsamt der Opposition, die ihr immer wieder auf die Finger klopft und die stressfreie Verwirklichung ihrer Pläne vereitelt. In den letzten Wochen jedoch hat diese Opposition kläglich versagt. Nach einer kurz aufflammenden Empörung über die verschleppte Vertrauensfrage, ist heute selbst Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) d’accord damit, sich an das Drehbuch des Kanzlers zu halten.

Die anfängliche Fundamentalblockade der Union wich einem allgemeinen Kanzlerkonsens. Zwar verhindert sie die Realisierung rot-grüner Minderheitsfantastereien, sie unterdrückt aber auch die Bildung möglicher anderer Mehrheiten, um neue Projekte an den Start zu bringen. Ein Teil des Plenums wird dabei völlig außen vor gelassen: Nach neuer Lesart gehören AfD, Linke und BSW dem Bundestag bis auf Weiteres nicht mehr an.

Taktische Verschleppung

Die Union hat ihren Kontrollauftrag verraten und gibs sich der hemmungslosen Hinhaltetaktik der Resteregierung hin. Sie spielt dabei eine unrühmliche Doppelrolle: Einerseits lässt sie sich als die Retterin vor Rot-Grün abfeiern, andererseits vermeidet sie es tunlichst, selbst Farbe zu bekennen. In einem intakt laufenden Parlamentsbetrieb müsste sich die Union ständig dafür rechtfertigen, warum sie bestimmte potenzielle Mehrheiten nutzt – oder eben nicht. Das passt der künftigen Kanzlerpartei so gar nicht ins Konzept.

Da ist es doch wesentlich bequemer, die Pause zwischen Auflösung des Bundestags und Neuwahlen ein wenig zu verlängern, damit dem Wahlkampf nicht die Realität in die Quere kommt. In exklusiver Runde hat man die Termine für Vertrauensfrage und Neuwahl so ausgekungelt, dass sie für manche Beteiligten ganz besonders günstig liegen. Die Vertrauensfrage galt schon vor ihrer Anberaumung als verloren. Dieses Szenario ist zwar sehr wahrscheinlich, seine unwidersprochene Voraussetzung jedoch zutiefst undemokratisch.

Auf Demokratie schlecht vorbereitet

Noch müssen sich alle Wählerinnen und Wähler bei der offiziellen Ausrufung von Neuwahlen gedulden. Diese Verzögerung wird mit teilweise fadenscheinigen Ausflüchten unterfüttert. So warnte die Bundeswahlleiterin vor dem enormen Verwaltungsaufwand, der mit vorgezogenen Neuwahlen einherginge. Sie gab sogar zu bedenken, dass bei einer unverzüglichen Vertrauensfrage gegebenenfalls nicht ausreichend Papier für Wahlzettel zur Verfügung stünde. Die Demokratie scheint in Deutschland schon an den einfachsten Bedingungen zu scheitern.

Auch kleine Parteien verweisen immer wieder auf den kaum zu bewältigenden Aufwand, vor dem sie bei einem knapp angesetzten Wahltermin stehen. Immerhin können sie die fristgerechte Aufstellung geeigneter Listen, die Bestellung von Wahlkampfmaterial und die Organisation publikumsstarker Wahlkampfauftritte nicht so locker aus dem Handgelenk schütteln wie Parteien, die schon seit Jahrzehnten im Bundestag sitzen. Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Das Recht der Bürgerinnen und Bürger, über die Zusammensetzung des Bundestags zu bestimmen, wiegt im Zweifelsfall aber schwerer.

Ein demokratisches Lehrstück

Trotzdem stellen rasche Neuwahlen alle Beteiligten vor enorme Härten. Um diese möglichst geringzuhalten, gibt es die Fristen, die gerade bis zur Unkenntlichkeit ausgeleiert werden. Zwischen der Vertrauensfrage und den Neuwahlen liegen nicht mehr als 81 Tage. Auch wenn vorgezogene Bundestagswahlen nicht die Regel werden sollten: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Möglichkeit von Neuwahlen ganz bewusst vorgesehen, man muss sich dieser Möglichkeit also jederzeit bewusst sein.

Aus heiterem Himmel kam das Ampel-Aus schließlich auch nicht. Es ist daher ein Unding, dass die Organisation von Neuwahlen plötzlich alle Beteiligten derart überrumpelt. Überraschend kommt diese Entwicklung jedoch auch nicht. Sie reiht sich ein in einen wohlfeilen Politikstil, der aktive Basisdemokratie bislang nur gestreift hat und turnusmäßige Wahlen eher als notwendiges Übel erachtet.

Es ist daher gut, dass die nun anstehenden Neuwahlen den Politikbetrieb gehörig durcheinanderwirbeln und sowohl den Abgeordneten als auch den Wählerinnen und Wählern ganz genau vor Augen führen, wer im Staat die Hosen anhat. Die Wahlen am 23. Februar können durchaus als Lehrstück dienen, um künftig auf den Ernstfall Demokratie vorbereitet zu sein.


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