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Es ist ein Anschlag auf eine zentrale Errungenschaft des Sozialstaats: Wer krank ist, soll in Zukunft sofort ein ärztliches Attest vorlegen müssen, sonst droht die Streichung des Lohns. Zumindest schwebt das besonders radikalen Wirtschaftsliberalen und dem Chef der AOK vor. Dass die Abschaffung der Attestfreiheit an den ersten beiden Krankheitstagen alles andere als geeignet ist, die Krankenstände zu drücken und sogar zu noch mehr Erkrankungen führen wird, blenden die Profittreiber aus.
Es ist Wahlkampf und die Parteien übertrumpfen sich mit Forderungen und Ideen, wie es mit unserem Land weitergehen soll. Es wird viel geredet über Krieg und Frieden, die Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie und natürlich über die Vorstellungen einer geordneten Asyl- und Migrationspolitik. Viel zu kurz kommen dabei soziale Überlegungen. Fast komplett verschwunden aus der Debatte ist ein Vorschlag, der zu Jahresbeginn kurzzeitig für viel Wirbel gesorgt hat: die Eingrenzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Neues von den Wirtschaftsradikalen
Dieser unverhohlene Anschlag auf eine großartige Errungenschaft unseres Sozialstaats passt leider in die Zeit. Ähnlich wie beim Bürgergeld wurde die Debatte zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall völlig eindimensional geführt. Beschwert wurde sich über viel zu hohe Krankenstände, die eine Gruppe von schlecht planenden Arbeitgebern in der kalten Jahreszeit anscheinend völlig überrumpelt haben.
Das Obskure daran: Die gleichen Leute, die sonst Schnappatmung bekommen, wenn man über Minderheiten spricht, haben in diesem Fall ihr Herz für eben eine solche Minderheit entdeckt. Nach Ansicht dieser Typen werden Regelungen wie die Attestfreiheit an den ersten Krankheitstagen in großem Stil zum Blaumachen ausgenutzt.
Nur zu gerne griffen daher wirtschaftsliberale Fürsprecher wie der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen die Diskussion um eine Abschaffung dieser arbeitnehmerfreundlichen Regelung auf und höhlen damit die Akzeptanz für den Sozialstaat weiter aus. Aus Sorge darüber, als faule Socke und Arbeitsschwänzer unter die Räder zu kommen, hält die anständige Mehrheit den Mund und erträgt diesen neuen Anflug an sozialer Kälte still.
Nachhaltiges Risiko
Dabei ist der Vorstoß, die Lohnfortzahlung einzuschränken, nicht nur ein neues Meisterwerk der Profitbesessenen, sondern auch vollkommen unmenschlich und kurzsichtig. Wer eine faktische Lohnkürzung fürchtet, weil er sich mit der Erkältung eben nicht in die vollgestopfte Arztpraxis schleppen will, geht im Zweifelsfall lieber krank zur Arbeit. Damit gefährden Arbeitnehmer nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die ihrer Kollegen, die dann mit einer potenziellen Virenschleuder konfrontiert sind – zumal Home Office in vielen Berufen gar nicht möglich ist.
Und weil es sich in vielen Betrieben und Unternehmen noch nicht herumgesprochen hat: Auch Home Office ist Arbeit. Zwar erspart man sich den Arbeitsweg, die körperliche und geistige Belastung ist aber die gleiche. Arbeitnehmer, die sich nicht wohlfühlen, brauchen weder Baustelle, Ladentheke noch den heimischen Schreibtisch, sie brauchen Behandlung, Tee und Ruhe.
Wer dennoch arbeiten geht, zum Beispiel weil zwei Tage Lohn oder Gehalt zur Debatte stehen, gefährdet seine Gesundheit auch nachhaltig. Eine verschleppte Grippe kann schwerwiegende Folgen für die Erkrankten haben. Im besten Falle fallen sie vier statt zwei Wochen aus, im schlimmsten kommen sie nie mehr zur Arbeit. Um angebliche Blaumacher zur Arbeit zu disziplinieren, nimmt man ein solches Risiko in Kauf.
Toxische Debatte
Eigentlich ist es völlig unerheblich, ob diese Neuregelung tatsächlich realisiert wird. Sie hat eine Debatte um die Sinnhaftigkeit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall entfacht und diese Debatte wird Folgen haben. Sie wird unweigerlich zu strengeren Regeln in vielen Betrieben führen. Anstatt die Lohnfortzahlung direkt einzuschränken, könnten viele Arbeitgeber die Attestfreiheit an den ersten beiden Krankheitstagen kippen. Arbeiter und Angestellte werden dadurch dazu gezwungen, direkt am ersten Krankheitstag zum Arzt zu gehen. Was das für die sowieso schon überlasteten Praxen bedeutet, dürfte auf der Hand liegen.
Den Befürwortern dieser arbeitnehmerfeindlichen Überlegung geht es angeblich darum, die Krankenstände zu drücken. Das ist plausibel. Es geht ihnen aber bestimmt nicht darum, Erkrankungen von Arbeitskräften zu verhindern. Dann wären nämlich andere Maßnahmen angezeigt.
Denn abgesehen von ein paar real existierenden Blaumachern sind die Krankmeldungen durchweg gerechtfertigt. Genau so gut sind sie aber in vielen Fällen vermeidbar. Wer wirklich etwas gegen die hohen Krankenstände und längerfristigen Ausfälle von Arbeitnehmern tun will, der muss an die Ursachen ran. Und die liegen häufig in Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen.
Motivation statt soziale Kälte
Dabei spielen nicht nur die unmittelbaren Zustände in einzelnen Betrieben eine Rolle. Ein tyrannischer Chef oder ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum sind zwar auch alles andere als gesundheitsfördernd, viel wichtiger sind aber die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Kettenbefristungen beispielsweise sind ein vielfach genutztes Instrument, um Arbeitnehmer zu disziplinieren und kurzfristig zu hoher Leistung zu motivieren. Auf lange Sicht allerdings führen solche Unzumutbarkeiten zwangsläufig zu Frust, Unzufriedenheit und nicht selten zu seelischen Erkrankungen.
Auch die um sich greifende Lohndrückerei und schwindende Tarifbindung sind ein Problem für die Gesundheit vieler Arbeiter und Angestellter. Wem ständig die Angst im Nacken sitzt, durch eine billigere Arbeitskraft ersetzt zu werden, kann gar nicht lange gesund bleiben. Die Aussicht auf beruflichen Aufstieg mitsamt einer steigenden Bezahlung wirken da schon wesentlich motivierender.
An all diesen Stellschrauben könnten Arbeitgeberverbände drehen, anstatt sich in völlig abwegigen und teilweise unmenschlichen Fantastereien zu ergehen. Dieser schamlose Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein weiterer Beleg für die soziale Kälte in Deutschland, der die scheidende Mitte-links – Regierung nichts entgegenzusetzen vermochte.