Pathologische Undemokraten

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Demokratie geht schrittweise verloren. Der selbsternannten demokratischen Mitte ist das anscheinend nicht schnell genug. Mit einem Blankoscheck für Aufrüstung haben sie gerade einmal drei Wochen nach der Bundestagswahl ein wahres Meisterstück des Wahlbetrugs abgeliefert. Sie haben dazu nicht nur ihre Wahlversprechen in Rekordtempo gebrochen. Die erforderlichen Mehrheiten dazu haben sie sich aus dem abgewählten Bundestag geliehen. Dass nach der Bundestagswahl knapp zwei Dutzend Wahlkreise nicht ordentlich repräsentiert werden, verkommt dabei fast zur Nebensache. Es steht nicht gut um die Demokratie im Land.

Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 23. Februar ist nicht schön. Die AfD hat ihr Ergebnis von 2021 verdoppelt, ein Black-Rock – Lobbyist wird nächster Bundeskanzler, gleich zwei Parteien sind mit einer 4 vorm Komma am Einzug ins Parlament gescheitert. Die vielbeschworene demokratische Mitte ist kleiner geworden. Union, SPD und Grüne können nach dem letzten Wahlsonntag nur noch rund 66 Prozent der Sitze im Plenarsaal für sich beanspruchen. Das reicht für eine passable Regierungsmehrheit – nicht jedoch für eine Zweidrittelmehrheit, um zum Beispiel das Grundgesetz zu ändern.

Ohne Speichern weitermachen

Union und SPD passt das so gar nicht. In mühseligen Beratungen haben sie sich auf eine Reform der Schuldenbremse geeinigt, die einseitig Rüstungsausgaben begünstigt. Ein unspezifisches und ungedecktes Milliardenpaket für Infrastruktur gab es als Feigenblatt dazu. Weil den Architekten dieses XXL-Schuldendeals nach der Wahl die erforderlichen Mehrheiten im Parlament fehlen, haben sie sich etwas ganz besonderes ausgedacht: die Einberufung des alten Bundestags, mit den alten Abgeordneten und den alten Mehrheiten.

Die Neukoalitionäre machen sich dabei eine lange vorhandene rechtliche Lücke zunutze. So heißt es in Art.39,  Abs. 2 des Grundgesetztes:

Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen

Dieser kurze Satz ermöglicht zwar, dass der neugewählte Bundestag auch vor Ablauf von 30 Tagen erstmalig zusammentreten kann, er schließt aber auch nicht aus, dass vor der Konstituierung des neuen Bundestags der abgewählte Bundestag noch tagen kann.

Groß angelegter Wahlbetrug

Diese Regelungslücke im Grundgesetz ist zutiefst undemokratisch und ruft zurecht bei jedem aufrechten Demokraten ein Gefühl der Empörung aus. Da hilft es auch wenig, dass es Möglichkeiten gibt, die Konstituierung des neuen Bundestags vorzuziehen. Dieses Szenario sollte die Regel und nicht die Ausnahme sein, die an Bedingungen geknüpft ist.

Selbst wenn man die Einberufung des alten Bundestags nach der Wahl gesetzlich unterbinden würde, wäre das Parlament im Krisenfall voll handlungsfähig: Ein neuer Bundestag ist gewählt und kann zusammentreten. Er muss sogar – nach spätestens 30 Tagen. Wieder einmal haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Dreistigkeit der nachnachfolgenden Generation gründlich unterschätzt.

Auch wenn es in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrfach zu einem solchen Szenario kam, ist dieser Vorgang angesichts der tektonischen Kräfteverschiebungen durch die Wahl am 23. Februar eine niederträchtige und beispiellose Unverschämtheit. Noch nie in der demokratischen Geschichte unseres Landes wurde den Wählerinnen und Wählern so heftig ins Gesicht geschlagen wie in diesen Tagen.

Durch besonders restriktive Regelungen hinsichtlich direktdemokratischer Formate haben die Bürgerinnen und Bürger sowieso nur alle vier Jahre die Möglichkeit, ihren politischen Willen ernsthaft und nachhaltig zu artikulieren. Dieser dokumentierte Wählerwille gilt unverzüglich nach Feststellung des Wahlergebnisses und nicht erst 30 Tage später!

Selbsterfüllende Prophezeiung

Die Taktik der etablierten Parteien degradiert das Wahlergebnis zu einer Verhandlungsmasse, die nach Gutdünken innerhalb einer 30-Tages – Frist hin- und herverschoben werden kann. Sie können sich nicht eingestehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die alten Mehrheiten satthatten und sich eine andere Politik wünschen. Das Gebaren der Abgestraften erinnert eher an einen Verschiebebahnhof von Mehrheiten als an Demut vor dem Wählerwillen.

Es gab eine Zeit, da hat es die etablierten Parteien gestört, die Projektionsfläche von Unzufriedenheit und Hass zu sein. Heute ist das anders. So wie die Etablierten sich aufführen, könnte man meinen, sie genießen es regelrecht, von einer immer größeren Gruppe in der Bevölkerung verabscheut zu werden. Als täten sie alles dafür, dem Bild zu genügen, das andere von ihnen zeichnen.

Besonders verlogen zeigen sich wieder einmal Grüne und Linke. Die einen inszenieren ein medienwirksames Tamtam, um dem Paket ihren ideologischen Stempel aufzudrücken, die anderen kneifen, wenn sich Möglichkeiten ergeben, die Einberufung des alten Bundestags zu verhindern. Besonders letztere brauchen sich nicht zu wundern, mittlerweile als fester Bestandteil eines kungelhaften Parteienkartells wahrgenommen zu werden.

Krankhaft undemokratisch

Die alten Parteien haben ein Problem, das immer stärker pathologisch zutagetritt. Sie sind einem Machtwahn, einer regelrechten Regierungssucht verfallen und können es nicht ertragen, dass die Wähler ihnen am 23. Februar einen gewichtigen Teil ihrer Handlungsgrundlage entzogen haben. Sie verfügen im Bundestag nicht mehr über die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Ideen dürfen sie weiter haben, nur umsetzen können sie sie nicht mehr. Indem sie dennoch herumtricksen und den abgewählten Bundestag einberufen, verhalten sie sich wie die Autokraten, die sie angeblich bekämpfen wollen.

Die Auswirkungen dieser vereinbarten Rekordschulden werden die Bürgerinnen und Bürger in den nächsten Jahren deutlich zu spüren bekommen. Aber selbst wenn die volle Entfaltung einige Zeit auf sich warten lässt, steht für viele Wählerinnen und Wähler eines schon heute fest: 23 Wahlkreise stehen heute ohne Direktkandidaten da, vier davon sogar ganz ohne parlamentarische Vertretung. Die Anliegen der Menschen dort werden in den nächsten vier Jahren keine Rolle spielen.

Schuld daran ist die Wahlrechtsreform, welche die Ampel in ihrer Zeit verbrochen hat. Dass damit die meisten Stimmen in einem Wahlkreis kein Ticket mehr in den Bundestag sind, ist für sich schon sehr fragwürdig. Dass aber Wahlkreise komplett verwaist sind, ist eine erschreckende Entwicklung.

Verschwörungstheorie trifft Realität

Selbst die Kandidatur für aussichtsreiche Parteien wie die CSU in Bayern garantiert nach der aktuellen Regelung nicht den Einzug in den Bundestag. Es dürfte bei der nächsten Bundestagswahl für Parteien mit traditionell vielen Direktmandaten daher schwierig werden, ausreichend Kandidaten zu finden, die sich die Strapazen des Wahlkampfs dennoch antun.

Auch die Wählerinnen und Wähler werden sich in vier Jahren zweimal überlegen, ob sie den Weg zur Wahlurne antreten oder nicht. Immerhin wird an Hundertausenden von ihnen faktisch vorbeiregiert. Das ist inzwischen keine Schwurbelei mehr, sondern empirisch nachweisbar. Die Beteiligung von über 83 Prozent bei der letzten Wahl wird auf jeden Fall ein Ausrutscher bleiben.


Demokratie lebt von engagierten Demokraten. Auch wenn die aktuellen Entwicklungen viele Menschen an Staat und Demokratie verzweifeln lassen, ist Resignation ein Geschenk für die Totengräber der Demokratie. Um ihre fatale Politik fortzuführen, müssen sie schon heute zu Maßnahmen greifen, die in die Geschichtsbücher eingehen werden. Sie dürfen damit nicht durchkommen!


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Gottlose Typen

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Am 13. Dezember gab es im Plenum des Deutschen Bundestags eine vortreffliche Gelegenheit, die Demokratie gegen die extreme Rechte zu verteidigen. Sie wurde nicht genutzt. Stattdessen verbündeten sich CDU und CSU mit der AfD, um eine unliebsame Vizepräsidentin zu stürzen. Das unverblümte Paktieren mit den Feinden der Demokratie hat damit endgültig den Bundestag erreicht. Wieder einmal betätigen sich konservative Kräfte als Steigbügelhalter von Hass und Hetze.

Brüder im Geiste

Die Brandmauer der CDU gegen die AfD – Es wird viel über sie geredet, aber bis zum heutigen Tage hat sie niemand jemals gesehen. Seit dem 13. Dezember 2023 gehört sie endgültig ins Reich der Märchen und Mythen. Denn an diesem Tag kam es auch im Bundestag zum Dammbruch bei der Unionsfraktion. Zum ersten Mal machten die Abgeordneten von CDU und CSU gemeinsame Sache mit der AfD. Auf der Tagesordnung stand: Absetzung der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Der Vorstoß der rechten Seite des Parlaments war durchsichtig und schamlos. Auch zwei separate Anträge ändern an der geistigen Nähe der beiden Parteien nichts. Nach wiederholten rhetorischen Ausfällen von Parteichef Friedrich Merz in diversen Talkshows ist diese ideologische Verwandtschaft nun auch auf Bundesebene protokolliert.

Die Zusammenarbeit von CDU und AfD reicht schon einige Jahre zurück. Bereits Anfang 2020 geriet die ehemalige Volkspartei in die Kritik, weil sie Thomas Kemmerich von der FDP mithilfe der AfD ins Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen hievte. Damals wie heute ging es nicht um die Sache. Auch vor knapp vier Jahren war es das einzige Ziel der Rechtsextremen und ihrer willigen Helfer, einen linken Politiker aus dem Amt zu drängen. Nur die Mehrheitsverhältnisse des 20. Deutschen Bundestags verhinderten diesmal das Gelingen dieses perfiden Plans.

Es war das erste Mal, dass die Union auf Bundesebene mit der AfD gemeinsame Sache machte. Und auch wenn sie einen eigenen Antrag einbrachte und sich damit nur indirekt zum Vorstoß der AfD bekannte: Es ging nicht um ein Sachthema, bei dem es zufällige Schnittmengen gab. Es ging nicht um Migrationspolitik, bei der die Haltung der CDU schon lange vor Entstehen der AfD klar war. Es ging auch nicht um den Bau von Windkrafträdern, bei dem die Union schon immer eine ähnlich kritische Position einnimmt wie die extreme Rechte. Es ging nicht um Steuersenkungen oder Sozialabbau. Es ging um das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag und dessen Konzeption. Gemeinsam mit der AfD wagte die Union einen Angriff darauf, um der politischen Linken eins auszuwischen.

Petra Pau bleibt

Während die AfD erwartungsgemäß hart auf die Tränendrüse drückte und sich wieder einmal darüber beschwerte, dass sie seit nunmehr sechs Jahren keinen Vizepräsidenten entsenden darf, berief sich die Union auf eine angebliche Regelungslücke in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags. Diese biete keine Handhabe für den Fall, dass eine Fraktion sich auflösen muss wie es bei der Linken momentan der Fall ist.

Beide Argumentationen sind hanebüchener Blödsinn. Keine Fraktion wird bevorzugt oder benachteiligt und auch die Geschäftsordnung des Bundestags ist im vorliegenden Fall eindeutig: Die Vizepräsidenten werden für die gesamte Wahlperiode gewählt. Ihre Amtszeit endet mit der Neuwahl des Bundestags. Für eine erfolgreiche Wahl ist in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute und ab dem dritten Wahlgang eine relative Mehrheit nötig. Was die Union mit ihrem Antrag also anstrebt, ist keine notwendige Ergänzung zur Geschäftsordnung, sondern eine zusätzliche Regelung. Ob das in der laufenden Legislatur überhaupt möglich ist, bleibt fraglich.

Stilloser Grenzübertritt

Es ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass Petra Pau im Amt bleibt. Ihre Wiederwahl am 26. Oktober 2021 reicht dazu aus. Es ist aber auch aus menschlicher Sicht ein Unding, ihr die Legitimation für eines der höchsten Staatsämter im Land abzusprechen. Sie gehört dem Bundestag seit 1998 ununterbrochen an, hat sechsmal ein Direktmandat erworben und ist seit siebzehn Jahren Parlamentsvizepräsidentin.

Die Umstände ihrer ersten Wahl in dieses Amt 2006 spielen ebenfalls eine Rolle. Nachdem ihr Fraktionskollege Lothar Bisky in vier Wahlgängen durchfiel, erhielt sie beim ersten Anlauf die benötigte Stimmenzahl – möglicherweise auch aus den Reihen von CDU und CSU. Keine andere Politikerin der Linken bekommt so häufig Applaus der konservativen Fraktion wie Petra Pau. Wie tief die Gräben zwischen Union und der Linken weiterhin verlaufen, überrascht also schon sehr.

Thüringen 2.0

Eines ist jedoch völlig klar: Seit der Vorstellung des BSW um Sahra Wagenknecht war es nur eine Frage der Zeit, bis die AfD die Auflösung der Linksfraktion ausnutzt, um sich einmal mehr als Opfer der bösen Demokraten zu inszenieren. Erneut hatten es die Rechtsextremen auf lupenrein demokratische Verfahren abgesehen, um diese zu dekonstruieren und letztendlich zu delegitimieren. Sie halten nichts von fairen Wahlen und Abstimmungen. Ginge es nach der AfD würde der Parlamentsvorsitz künftig nach Gutdünken berufen und abgesetzt werden – je nach politischer Wetterlage.

Es ist erschreckend, dass sie dabei so engagierte Schützenhilfe von der Union bekommen haben. Dieses beherzte Nachtreten der Konservativen ist fast noch schlimmer als der Erstangriff der extremen Rechten. Anders als in Thüringen 2020 musste die AfD dieses Mal nicht einmal eine Falle stellen, um die Union zu ködern.


Mit der Debatte am Abend des 13. Dezembers haben sich CDU und CSU eindeutig positioniert. Um den politischen Gegner zu schwächen, sind sie im Zweifelsfalle dazu bereit, demokratische Grundsätze zu unterwandern und sich mit den schlimmsten Feinden der rechtsstaatlichen Grundordnung gemeinzumachen. Sollten sich die aktuellen Umfragewerte für die ostdeutschen Bundesländer bei den Landtagswahlen im Herbst bewahrheiten, sieht es zapfenduster aus für unser Land.

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Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

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Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Seit Jahren liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, wie der XXL-Bundestag wieder auf eine nachvollziehbare Größe geschrumpft werden kann. Die Regierungen der letzten Jahre waren allesamt nicht in der Lage, auch nur eines der Konzepte umzusetzen. Die Ampelkoalition hat nun eine konkrete Reform vorgelegt. Die Pläne sind mehrheitsfähig und werden den Bundestag wahrscheinlich auch verkleinern. Mit einer repräsentativen Demokratie sind sie nicht vereinbar.

In der laufenden Wahlperiode beherbergt die Reichstagskuppel 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Die Zahl an sich ist absurd hoch. Indessen wird auch den Abgeordneten das Problem immer klarer, weil ihnen allmählich der Platz ausgeht. Zu den Sitzen im Plenarsaal kommen nämlich auch die Büros, die den Volksvertretern zustehen. Die GroKo hat echte Anstrengungen zur Verkleinerung des Parlaments eher blockiert als aktiv daran mitgewirkt. Nun will die Ampelregierung ihr Glück versuchen und eine wirksame Wahlrechtsreform zustandebringen. Als Grüne und FDP noch in der Opposition waren, klangen ihre Ideen zumindest vielversprechend.

Schwarzer Peter für die CSU

Davon geblieben ist kaum etwas. Die vorgelegte Reform benachteiligt eine Partei ganz besonders und ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu stärken. Denn im Kern wollen die Regierungsfraktionen sämtliche Überhangmandate abschaffen. Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, soll sie fortan auf die Zusatzmandate verzichten. Ausgleichsmandate erübrigen sich bei dieser Sitzezuteilung.

Den schwarzen Peter zieht dabei die CSU. Es verwundert daher kaum, dass gerade diese Partei gegen die Pläne von SPD, Grünen und FDP auf die Barrikaden geht. Es ist fraglich, ob sie das auch tun würde, wenn einer anderen Partei so übel mitgespielt würde. Dennoch ist der Protest der bayrischen Volkspartei berechtigt.

Die Abschaffung der Überhangmandate bedeutet im Zweifel nämlich, dass nicht mehr der stimmenstärkste Kandidat eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht. Ein starkes Erststimmenergebnis wäre fortan keine Eintrittskarte ins Parlament mehr. In einem mittlerweile so diversifizierten Spektrum von Parteien, die Aussichten auf einen Einzug in den Bundestag haben, ist diese Entscheidung völlig verfehlt. Manche Wahlkreise gelten schon bei Ergebnissen von um die 20 Prozent als gewonnen. Mit der vorgelegten Reform könnten sogar Kandidaten mit noch niedrigerem Ergebnis als Gewinner hervorgehen, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Repräsentanz kann man so etwas dann nicht mehr nennen.

Das Ende der zwei Stimmen?

Einerseits bringt diese Methode das Gleichgewicht von Erst- und Zweitstimme aus der Balance. Andererseits nimmt sie potenziell Einfluss auf die Wahlentscheidung des Einzelnen. Künftig werden sich die Wählerinnen und Wähler genauer überlegen, ob sie dem Kandidaten ihres Vertrauens die Stimme geben oder lieber dem Vertreter einer anderen Partei, weil ihre erste Wahl wahrscheinlich sowieso nicht in den Bundestag einziehen wird.

Die aktuelle Wahlrechtsreform ist daher unvollständig. Die Abgeordneten in Berlin sollten sich ehrlichmachen und in diesem Zuge das Zwei-Stimmen – Wahlsystem komplett über Bord werfen. Damit würde die Repräsentanz des Wahlergebnisses wiederhergestellt werden, weil der Kandidat der stärksten Partei aus einem Wahlkreis wahrscheinlich in den Bundestag einziehen würde.

Kleine Parteien im Nachteil

Doch ein Wahlsystem mit nur einer Stimme ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar würde weiterhin die Parteienstimme die Sitzverteilung im Bundestag bestimmen und auch die Zustimmung in den jeweiligen Wahlkreisen für die Abgeordneten eine Rolle spielen, unter der Methodik würde aber die Bindung zwischen Wähler und Mandatsträger leiden. Als „Gewählte“ könnte man die Abgeordneten dann nur noch mit zwei zugedrückten Augen bezeichnen, immerhin standen sie persönlich nie zur Wahl. Sie profitieren andererseits auch indirekt von der Zustimmung zu ihrer Partei aus anderen Wahlkreisen. Läuft eine Partei in einem Wahlkreis mit einem besonders beliebten Politiker auf und wählen dort überdurchschnittlich viele Menschen diese Partei, dann hat das auch Auswirkungen auf mögliche Abgeordnete in weit entfernten Wahlkreisen.

Auch wenn das Ein-Stimmen – Wahlrecht die Repräsentanz im Bundestag weniger verzerren würde als die vorgelegte Wahlrechtsreform, hat es noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Makel. Es würde nämlich besonders die kleineren Parteien benachteiligen. Die Linke beispielsweise profitiert von jeher von einer hohen Zustimmung in einzelnen Wahlkreisen. Mehr als einmal hat die Grundmandatsklausel der Partei den Einzug in den Bundestag gesichert. Solche Parteien hätten es künftig schwerer, authentische Kandidaten aufzustellen, wenn ein Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist.

Symptombekämpfung

Will die Regierung die repräsentative Demokratie nachhaltig erhalten, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben als über einen Neuzuschnitt der Wahlkreise nachzudenken. Zugegeben platzen viele Wahlkreise schon heute aus allen Nähten, aber zumindest ließe sich auf diese Weise am ehesten die Repräsentanz im Bundestag beibehalten. Sicher ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zwangsläufig zurückginge, weil weniger Wahlkreise vertreten werden müssten. Gleichzeitig ließe sich so das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten lösen: Wenn es weniger Wahlkreise zu gewinnen gibt, können auch weniger von ihnen zusätzliche Mandate erzeugen.

Das Herumdoktern an Wahlrechtssystemen ist und bleibt aber reine Symptombekämpfung. Die Politiker in Berlin sollten sich lieber darauf konzentrieren, die weitere Diversifizierung des Parteienspektrums zu bremsen. Es ist nämlich maßgeblich die steigende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien, die das stetige Anwachsen des Parlaments maßgeblich begünstigen. Sahnt eine Partei regional ab, könnte ihr die bittere Konkurrenz mit einer anderen Partei in anderen Wahlkreisen schwer auf die Füße fallen.


Die Pluralität von Meinungen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Solange die Regierung aber keine Politik aus einem Guss liefert, werden sich manche Menschen immer benachteiligt fühlen. Grenzt man bestimmte Sichtweisen zusätzlich aus, schafft man neue Parteien, deren Bestehen auf mehreren Ebenen schädlich für die Demokratie ist. Es gibt einen Grund dafür, warum es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag gab. Keiner will in die 60er oder 70er Jahre zurück. Aber vielleicht täte uns ein politischer Stil ganz gut, der an die erfolgreichsten Jahre der zweiten deutschen Demokratie angelehnt ist.


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