Was heißt hier krank?

Lesedauer: 6 Minuten

Es ist ein Anschlag auf eine zentrale Errungenschaft des Sozialstaats: Wer krank ist, soll in Zukunft sofort ein ärztliches Attest vorlegen müssen, sonst droht die Streichung des Lohns. Zumindest schwebt das besonders radikalen Wirtschaftsliberalen und dem Chef der AOK vor. Dass die Abschaffung der Attestfreiheit an den ersten beiden Krankheitstagen alles andere als geeignet ist, die Krankenstände zu drücken und sogar zu noch mehr Erkrankungen führen wird, blenden die Profittreiber aus.

Es ist Wahlkampf und die Parteien übertrumpfen sich mit Forderungen und Ideen, wie es mit unserem Land weitergehen soll. Es wird viel geredet über Krieg und Frieden, die Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie und natürlich über die Vorstellungen einer geordneten Asyl- und Migrationspolitik. Viel zu kurz kommen dabei soziale Überlegungen. Fast komplett verschwunden aus der Debatte ist ein Vorschlag, der zu Jahresbeginn kurzzeitig für viel Wirbel gesorgt hat: die Eingrenzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Neues von den Wirtschaftsradikalen

Dieser unverhohlene Anschlag auf eine großartige Errungenschaft unseres Sozialstaats passt leider in die Zeit. Ähnlich wie beim Bürgergeld wurde die Debatte zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall völlig eindimensional geführt. Beschwert wurde sich über viel zu hohe Krankenstände, die eine Gruppe von schlecht planenden Arbeitgebern in der kalten Jahreszeit anscheinend völlig überrumpelt haben.

Das Obskure daran: Die gleichen Leute, die sonst Schnappatmung bekommen, wenn man über Minderheiten spricht, haben in diesem Fall ihr Herz für eben eine solche Minderheit entdeckt. Nach Ansicht dieser Typen werden Regelungen wie die Attestfreiheit an den ersten Krankheitstagen in großem Stil zum Blaumachen ausgenutzt.

Nur zu gerne griffen daher wirtschaftsliberale Fürsprecher wie der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen die Diskussion um eine Abschaffung dieser arbeitnehmerfreundlichen Regelung auf und höhlen damit die Akzeptanz für den Sozialstaat weiter aus. Aus Sorge darüber, als faule Socke und Arbeitsschwänzer unter die Räder zu kommen, hält die anständige Mehrheit den Mund und erträgt diesen neuen Anflug an sozialer Kälte still.

Nachhaltiges Risiko

Dabei ist der Vorstoß, die Lohnfortzahlung einzuschränken, nicht nur ein neues Meisterwerk der Profitbesessenen, sondern auch vollkommen unmenschlich und kurzsichtig. Wer eine faktische Lohnkürzung fürchtet, weil er sich mit der Erkältung eben nicht in die vollgestopfte Arztpraxis schleppen will, geht im Zweifelsfall lieber krank zur Arbeit. Damit gefährden Arbeitnehmer nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die ihrer Kollegen, die dann mit einer potenziellen Virenschleuder konfrontiert sind – zumal Home Office in vielen Berufen gar nicht möglich ist.

Und weil es sich in vielen Betrieben und Unternehmen noch nicht herumgesprochen hat: Auch Home Office ist Arbeit. Zwar erspart man sich den Arbeitsweg, die körperliche und geistige Belastung ist aber die gleiche. Arbeitnehmer, die sich nicht wohlfühlen, brauchen weder Baustelle, Ladentheke noch den heimischen Schreibtisch, sie brauchen Behandlung, Tee und Ruhe.

Wer dennoch arbeiten geht, zum Beispiel weil zwei Tage Lohn oder Gehalt zur Debatte stehen, gefährdet seine Gesundheit auch nachhaltig. Eine verschleppte Grippe kann schwerwiegende Folgen für die Erkrankten haben. Im besten Falle fallen sie vier statt zwei Wochen aus, im schlimmsten kommen sie nie mehr zur Arbeit. Um angebliche Blaumacher zur Arbeit zu disziplinieren, nimmt man ein solches Risiko in Kauf.

Toxische Debatte

Eigentlich ist es völlig unerheblich, ob diese Neuregelung tatsächlich realisiert wird. Sie hat eine Debatte um die Sinnhaftigkeit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall entfacht und diese Debatte wird Folgen haben. Sie wird unweigerlich zu strengeren Regeln in vielen Betrieben führen. Anstatt die Lohnfortzahlung direkt einzuschränken, könnten viele Arbeitgeber die Attestfreiheit an den ersten beiden Krankheitstagen kippen. Arbeiter und Angestellte werden dadurch dazu gezwungen, direkt am ersten Krankheitstag zum Arzt zu gehen. Was das für die sowieso schon überlasteten Praxen bedeutet, dürfte auf der Hand liegen.

Den Befürwortern dieser arbeitnehmerfeindlichen Überlegung geht es angeblich darum, die Krankenstände zu drücken. Das ist plausibel. Es geht ihnen aber bestimmt nicht darum, Erkrankungen von Arbeitskräften zu verhindern. Dann wären nämlich andere Maßnahmen angezeigt.

Denn abgesehen von ein paar real existierenden Blaumachern sind die Krankmeldungen durchweg gerechtfertigt. Genau so gut sind sie aber in vielen Fällen vermeidbar. Wer wirklich etwas gegen die hohen Krankenstände und längerfristigen Ausfälle von Arbeitnehmern tun will, der muss an die Ursachen ran. Und die liegen häufig in Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen.

Motivation statt soziale Kälte

Dabei spielen nicht nur die unmittelbaren Zustände in einzelnen Betrieben eine Rolle. Ein tyrannischer Chef oder ein kaum zu bewältigendes Arbeitspensum sind zwar auch alles andere als gesundheitsfördernd, viel wichtiger sind aber die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Kettenbefristungen beispielsweise sind ein vielfach genutztes Instrument, um Arbeitnehmer zu disziplinieren und kurzfristig zu hoher Leistung zu motivieren. Auf lange Sicht allerdings führen solche Unzumutbarkeiten zwangsläufig zu Frust, Unzufriedenheit und nicht selten zu seelischen Erkrankungen.

Auch die um sich greifende Lohndrückerei und schwindende Tarifbindung sind ein Problem für die Gesundheit vieler Arbeiter und Angestellter. Wem ständig die Angst im Nacken sitzt, durch eine billigere Arbeitskraft ersetzt zu werden, kann gar nicht lange gesund bleiben. Die Aussicht auf beruflichen Aufstieg mitsamt einer steigenden Bezahlung wirken da schon wesentlich motivierender.

An all diesen Stellschrauben könnten Arbeitgeberverbände drehen, anstatt sich in völlig abwegigen und teilweise unmenschlichen Fantastereien zu ergehen. Dieser schamlose Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein weiterer Beleg für die soziale Kälte in Deutschland, der die scheidende Mitte-links – Regierung nichts entgegenzusetzen vermochte.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


Mehr zum Thema:

Die Lückenschließerin

Rechtes Überangebot

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Klare Kante gegen rechts?

Lesedauer: 7 Minuten

Von der Flüchtlingskrise hat keine andere Partei so sehr profitiert wie die AfD. Auch die Debatte um die Klimakrise konnte die nationalistische Partei nutzen, um sich über Wasser zu halten. Seit Corona schwächelt die Partei zwar, es gibt aber weiterhin eine beträchtliche Zahl an Menschen, die ihr die Stimme geben würde. Viele sind entsetzt darüber, dass eine inzwischen so offen rechtsextreme Partei so viele potentielle Wähler anzieht und sich gleichzeitig bürgerlich nennt. Die Reaktion der wirklich bürgerlichen Parteien ist verhalten bis destruktiv. Anstatt klare Kante gegen rechts zu zeigen, verbrüderten sich Union und FDP in Thüringen mit der AfD. Gemeinsamer Feind ist Rot-Rot-Grün. Immer offener treten Ähnlichkeiten zwischen den drei Parteien auf, die über eine Ablehnung des progressiven Lagers hinausgehen.

Nach der skandalösen Wahl des FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 bezeichnete AfD-Chef Alexander Gauland seine Partei als eine bürgerliche Partei. Er wird seitdem nicht müde, diese Behauptung immer wieder zu wiederholen. Auch als die Personalie Bernd Höcke in den vergangenen Monaten wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, bezeichnete er den offiziellen Faschisten als die Mitte der Partei, auch wenn er sich damit oftmals missverstanden fühlte. Der leidenschaftliche Hundekrawattenträger schwadronierte und träumte von einer in seinen Augen bürgerlichen Mehrheit, die den verhassten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu Fall bringen würde. Nun wissen wir alle in der Zwischenzeit, dass Gaulands feuchte Träume nicht ganz aufgingen: Ramelow ist weiter Ministerpräsident, wenn auch nur auf Abruf, und Höckes Flügel musste sich zumindest pro forma auflösen.

Eine bürgerliche Partei?

Gaulands Behauptung, die AfD sei eine bürgerliche Partei, ist natürlich vollkommener Schwachsinn. Wenn die AfD tatsächlich eine bürgerliche Partei ist, steppe ich nackt durch die Straße und singe Loblieder auf den Kapitalismus. Beide Szenarien sollten uns besser erspart bleiben. Aber Klartext: Die AfD ist eine nationalistische, rückwärtsgewandte und zum Teil offen rechtsextreme Partei. Das hindert die Rechtsaußen-Partei allerdings nicht daran, sich das Gewand des Bürgertums überzuziehen und auch immer mehr Wähler aus diesem Spektrum zu gewinnen.

Denn von manchen inhaltlichen Ansichten her ist die AfD tatsächlich nicht so anders als die Parteien, die ihnen bei der Sitzverteilung in den Parlamenten am nächsten sind. Gerade im bürgerlichen und wirtschaftsliberalen Lager kann die AfD immer mehr punkten. Nicht nur die FDP spinnt fleißig die Legende vom faulen Hartz-IV – Empfänger, der den wahren Leistungsträgern der Gesellschaft auf der Tasche liegt. Sie sehen das Problem weniger im System des Arbeitslosengelds II, sondern viel mehr in dessen Empfängern. Bei der AfD kommt meistens noch die Komponente des Migrationshintergrunds dazu, wenn sie den Begriff Hartz-IV in den Mund nimmt.

Herrenüberschuss und Kinderfeinde

Ähnliches gilt für das Frauenbild, welches in allen Parteien rechts der Grünen vorherrscht. Union und FDP halten sich mit antifeministischen Äußerungen zurück, doch es sind gerade die drei Parteien aus Gaulands bürgerlichem Lager, welche an einem chronischen Mangel an Frauen leiden. So kommen Union und FDP auf nur etwas mehr als 20 Prozent Anteil von Frauen in den Bundestagsfraktionen. Bei der AfD sind es gerade einmal kümmerliche 11 Prozent. Wie kann auch nur eine dieser Parteien es wagen, sich als Volkspartei zu bezeichnen, wenn Frauen, immerhin die Mehrheit in der Bevölkerung, nur so unzureichend vertreten sind?

Auch auf die Fridays-for-Future – Demos im letzten Jahr fanden die drei angeblich bürgerlichen Parteien sehr ähnliche Antworten. Der Kanon des rechten Teils des Parlaments war stets der Vorwurf, es handle sich durch die Reihe um notorische Schulschwänzer. Mit ihren wenigen Jahren an Lebenserfahrung könnten die Kiddies bei dieser hochkomplizierten Debatte überhaupt nicht mitreden, das sei eine Sache für Experten. Man zweifelte außerdem die Ernsthaftigkeit der Bewegung an, weil sich ja angeblich kein einziger dieser Schüler in seiner Freizeit für dieses Thema einsetzte. Beinahe einstimmig kamen Union, FDP und AfD zu dem Ergebnis, die FFF-Demos seien ein Ergebnis einer linksrotgrün-versifften Jugend, die nur so großmaulig auf die Straße ging, weil sie in ihrem Leben noch keinen Cent an Steuern gezahlt hatte. Manche konnten diese Meinung diplomatisch ausdrücken, manche nicht.

Beleidigte Leberwürste

All diese Beispiele zeigen, dass Gauland mit einer Behauptung recht hatte: Die AfD steht Union und FDP tatsächlich näher als dem rot-rot-grünen Lager. Und auch nur so ist zu erklären, warum die Thüringer CDU und FDP so offen mit der Höcke-AfD kooperierte. Denn anders als SPD, Linke und Grüne sind Union und FDP nicht entsetzt über den Aufstieg der AfD – sie sind neidisch.

Apropos Neid: Kürzlich brachte die FDP-Fraktion im Bundestag einen Antrag ein, in dem sie für virtuelle Gerichtsverhandlungen warb. Sie hatte dabei alle anderen Fraktionen gegen sich, keine andere Fraktion konnte dem Antrag etwas abgewinnen. Anscheinend ging der Neid der FDP sogar so weit, dass sie wenigstens einmal anstelle der AfD erleben wollte, wie alle anderen Fraktionen gegen sie sind.

Angebot und Nachfrage

Trotzdem ist die AfD viel mehr als nur abgewanderte Wähler, denen die anderen Parteien nicht mehr bürgerlich genug sind. Die Wählerschaft der AfD ist nicht so homogen wie das bei anderen Parteien der Fall ist. Dennoch lassen sich im groben zwei Gruppen an Wählern ausmachen, welche der AfD ihre Stimmen geben. Da sind zum einen solche Wähler, denen FDP und vor allem die Union nicht mehr konservativ und wirtschaftsliberal genug ist. Wie unzufriedene Kunden haben sie sich ein neues Geschäft gesucht, weil die Qualität im alten nicht mehr gestimmt hat.

Und dann sind da noch solche Wähler, die immer wieder als die „Abgehängten“ von sich reden machen. Das sind die Menschen, die schon lange nicht mehr im Blickwinkel der Politik stehen. Teilweise schuften sie schwer und haben am Ende des Monats trotzdem nicht genug Geld in der Tasche, um sich einen gewissen Lebensstandard zu sichern. Es wird oft über sie gesprochen, wenn sie Glück haben auch zu ihnen, aber seit langem schon nicht mehr mit ihnen. Sie sind wie Kunden, die zigmal in ein Geschäft gingen und dann feststellten, dass das Regal mit ihren Waren stets leer war. Natürlich wandern sie dann zur Konkurrenz ab.

Genau dieser Wählergruppe gilt es ein Angebot zu machen. Wenn man deren Sorge und Nöte, ihre Lebensrealitäten mit allen Widrigkeiten endlich wieder ernstnähme, dann hätten sie auch keinen Grund mehr, einer Partei hinterherzulaufen, die Faschisten und Chauvinisten beherbergt. Ja, es sind Wähler abgewandert, weil die Union nicht mehr konservativ genug ist. Die AfD suggeriert das oft genug als den Schlüssel zu ihrem Erfolg. Das ist er aber nicht. Die AfD lebt davon, abgehängte Wählerschichten ein Angebot zu machen und für sich einzunehmen. Gewinnt man diese Wähler zurück, so haben die wenigsten der Konservativen noch einen Grund, der AfD die Treue zu halten. Mit einer Partei, die mit Müh‘ und Not dann vielleicht noch über die Fünf-Prozent – Hürde käme, könnten diese Wähler nichts mehr reißen.

Ein Bollwerk aus Enttäuschten

Es bringt also nichts, die AfD zu kopieren und eine härtere Gangart im Umgang mit Flüchtlingen anzukündigen. Wäre das der Fall, wäre die Rechtsaußen-Partei längst passé. Viel zu leicht lassen sich andere Parteien einreden, der große Fehler wäre fehlender Konservatismus und eine Abkehr vom Nationalstaat. Diese falschen Ansichten ermöglichen es den wirtschaftsliberalen Kräften in der AfD, die Protestwähler wie ein Bollwerk vor sich herzutreiben. Die neoliberalen Fantasien lassen sich am besten umsetzen, wenn die Partei von möglichst vielen gewählt wird, egal ob sie im Endeffekt von einer Entfesselung des Markts profitieren oder nicht. Würde man die wenigen ernsthaften sozialpolitischen Forderungen der AfD umsetzen, würde das definitiv zulasten derer gehen, die sich von der Politik der letzten Jahre im Stich gelassen fühlen. Solange sie das nicht durchschauen, wird sich an ihrer Situation nichts grundlegendes ändern. Und auch nicht an ihrem Grund, AfD zu wählen.

Jede Partei folgt einer Ideologie. Leider heiligt dabei viel zu oft der Zweck die Mittel. Wähler werden über vieles im unklaren gelassen, nur damit sie einer Partei ihre Stimme geben. Das ist grundsätzlich falsch. Bestimmt gibt es auch bei der Union eine ganze Reihe an Punkten, die einem Großteil der Bevölkerung zugutekommen. Doch gerade markthörige Parteien wie Union und FDP hatten es oftmals schwerer, alle Karten auf den Tisch zu legen, ohne Wähler zu vergraulen. Die AfD kann das besser. Und daher kommt der Neid.


Mehr zum Thema:

Radikalisierung als Selbstzweck

Die Dritten werden die Ersten sein

Rechte Strippenzieher

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!