Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


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Rechtes Überangebot

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Die autoimmune Gesellschaft

Lesedauer: 9 Minuten

Die zweite deutsche Republik ist eine Geschichte der großen Erfolge. Nach vielen Jahren Nazi-Terror, einem zerstörerischen Krieg und einer Schuld für Generationen war es nicht selbstverständlich, dass auf deutschem Boden je wieder eine Demokratie blühen würde. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung und die Demokratie in Deutschland erlebte viele stabile Jahre. Die Erfolgsgeschichte gipfelte schließlich in der Wiedererlangung der deutschen Einheit. Nach Jahrzehnten der funktionierenden Demokratie haben sich viele allerdings an ein gutes Leben gewöhnt. Manche Dinge werden nicht mehr hinterfragt und auch die Grenzen des demokratisch Zumutbaren werden immer häufiger übertreten. So wird die Demokratie von innen ausgehöhlt und existiert plötzlich nur noch formell.

Eine wehrhafte Demokratie

In den letzten Jahren war oft davon die Rede, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr wäre. Manche gingen sogar einen Schritt weiter und behaupteten, die Demokratie sei längst von einer Merkel-Diktatur abgelöst worden. Mit schrillen Stimmen und kompromittierenden Plakaten versuchten diese Menschen, ihre Botschaften auf Demonstrationen an den Mann zu bringen. Auf der anderen Seite war man fast genau so felsenfest davon überzeugt, dass diese Menschen eine Gefahr für unsere pluralistische Ordnung wären. Man beschwor, dass unsere Demokratie wehrhaft genug sei, um solchen Menschen die Stirn zu bieten.

Das Bild der funktionierenden und wehrhaften Demokratie darf seitdem in keiner Debatte mehr fehlen. Selbst wenn es nicht um die vermeintliche Einschränkung demokratischer Grundrechte geht – ein Spezialist findet sich immer, der mit der Demokratiekeule um die Ecke kommt. Es lasse sich nur mit einer ausgesprochen dynamischen Demokratie erklären, warum inzwischen nicht nur zwei Kandidaten, sondern stolze drei um den Einzug ins Kanzleramt streiten.

Wenn zwei sich streiten…

Schaut man aber genauer hin, so wird schnell deutlich, dass viele der Befragten keinem der drei Kandidierenden das Amt des Regierungschefs zutraut. Olaf Scholz stellt seine beiden Mitbewerber zwar in den Schatten, geeignet scheint er für viele aber trotzdem nicht.

Scholz‘ großer Trumpf ist seine lange politische Erfahrung und sein staatsmännisches Auftreten. Auch wenn er manchmal aus der Wäsche schaut wie ein zufriedener Meister Propper, ein Fauxpas wie Armin Laschet nach der Flutkatastrophe wäre ihm nie passiert.

Sein Vorsprung gegenüber Baerbock und Laschet wurde in den vergangen Tagen immer größer. Trotzdem bleibt auch Olaf Scholz für breite Wählerschichten als Kanzler unattraktiv. Selbst seine Befürworter nennen ihn häufig nur deswegen, weil seine Konkurrenz so desaströs ungeeignet ist. Eine gute Referenz für’s Kanzleramt ist das mit Sicherheit nicht.

Die halbe Wahrheit

Olaf Scholz wäre nichts weiter als ein Notkanzler. Ähnlich wie Angela Merkel profitiert er fast ausschließlich von der Schwäche seiner Herausforderer. Einen echten Neuanfang würde es mit ihm nicht geben. Das wissen auch die Menschen im Land. Immerhin blieb eine Wechselstimmung wie zur Bundestagswahl 2017 mit Kanzlerkandidat Martin Schulz bislang aus.

Das ist auch überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass die wirklich Enttäuschten selten an derartigen Befragungen teilnehmen. Besonders die SPD hat viele Wähler an die AfD, aber auch ins Nichtwählerlager verloren. Es ist fraglich, ob die Menschen aus diesem Lager nun in großer Zahl für Scholz votieren. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Leute alle drei Kanzlerkandidaten ablehnen oder überhaupt keine Antwort geben. Das verfälscht das Stimmungsbild, welches uns die Medien seit Monaten weismachen wollen.

Vom Hörsaal an die Basis

Die Entfremdung und Nicht-Teilnahme an Politik sieht man aber auch an weniger entscheidenden Fragen. Die Debatte um gendergerechte Sprache ist und bleibt ein Thema für Menschen, die sich solche Sorgen leisten können. Es ist bezeichnend, dass diese Debatte fast ausschließlich aus den Hörsälen und Universitäten kommt. An solchen Orten treiben sich für gewöhnlich Menschen herum, deren Zukunftsaussichten äußerst vielversprechend sind. Selten beteiligen sich Menschen an der Genderdebatte, die bereits am 15. eines Monats finanzielle Abstriche machen müssen oder die mit zwei Jobs und Familie heillos überfordert sind.

Rassismus, Frauenfeindlichkeit und eine fehlende Sensibilität für Minderheiten spielen für diese Menschen selten eine Rolle. In ihren Jobs sind nationale und kulturelle Vielfältigkeit längst realisiert. Wenn ihnen Menschen mit völlig anderen Lebensrealitäten nun vorschreiben wollen, wie sie zu leben oder sogar zu sprechen haben, dann empfindet das der Paketbote, die Krankenpflegerin oder der Lieferando-Mann völlig zurecht als Affront.

Charakteristisch für diese Debatte ist, dass sie ihre Kritiker in aller Regel rigoros ausschließt. Wer mit Gendersternchen und woker Sprache fremdelt, der ist im besten Fall zu dumm, um das wahre Anliegen zu erkennen oder im schlimmsten Fall selbst ein rassistischer Aggressor. Dadurch stößt die Debatte all diejenigen vor den Kopf, die sie kritisieren. Die Zahl der Menschen, die dagegen sind, wird immer kleiner, weil sie an der Debatte überhaupt nicht mehr teilnehmen dürfen. Das Verhältnis der Befürworter hingegen wird bis über alle Maße verzerrt. So entsteht der Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit jedes dritte Wort mit einem Sternchen versehen will. Mit der Realität hat das dann wenig zu tun.

Gute Miene zum bösen Spiel

Dabei ist die Debatte um inklusive Sprache keine schlechte. Es ist gut, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie man mit seinen Worten möglichst viele Menschen mitnehmen kann. Die wenigsten haben damit ein Problem. Viel zu einfach befindet man sich dann im Reich des Unmoralischen und des Verwerflichen, wenn man an dieser guten Grundintention rüttelt. Die Menschen stehen einfach nicht auf Bevormundung. Ihre Kritik daran münzen die Befürworter geschickt an eine Kritik am großen Ganzen um und stellen die Aufbegehrenden auf diese Weise leicht in die rechte Ecke.

In der Konsequenz befinden sich viele Kritiker gendergerechter Sprache in einer Position, in der man sie leicht zum Schweigen bringen kann. Ihre Stimmen werden nicht mehr gehört, vernehmbar sind fast ausschließlich die schrillen Töne der Befürworter. Mit einer solchen Dynamik verhilft man Debatten wie der inklusiven Sprache zur Unsterblichkeit, obwohl ein beträchtlicher Teil der Menschen sie ablehnt.

Auch eine angeblich gut funktionierende Demokratie kann mit einem solchen Mechanismus lange auf dem Papier existieren. Entschieden wird über Fragen, die mit der Wirklichkeit von vielen wenig zu tun haben. Eine Ablehnung verbietet sich aus moralischen Gründen. Lieber lässt man das Trauerspiel über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten. Diese resignierende Haltung ist Gift für die Demokratie.

Auf der richtigen Seite

In einer solchen Gesellschaft hat sich irgendwann eine kleine Gruppe zu moralisch Überlegenen aufgeschwungen. Sie haben es besonders leicht, weil man sie nicht kritisieren kann, ohne selbst als unmoralisch zu gelten. Diese neue Art der Selbstprofilierung machte alsbald Schule. Heute wünscht sich jeder insgeheim, zu dieser exklusiven Runde der unantastbaren Moralapostel zu gehören.

Auf der anderen Seite stehen zwangsläufig die Menschen, die trotz allem Kritik üben und darum ausgeschlossen werden müssen. Auch diese Gruppe wuchs von einem überschaubaren Pulk von Pegisten und Flüchtlingsgegnern 2015 zu einer immer größeren heterogenen Masse heran. Mit der systematischen Diskriminierung von Ungeimpften erreichte diese Entwicklung ihren bisherigen Höhepunkt.

Freund oder Feind?

Bei keinem anderen Thema zeigt sich die moralische Auf- und Abwertung so deutlich wie bei der Frage nach dem Impfstatus. In nie dagewesener Aggressivität wird Stimmung gegen Menschen gemacht, die sich der Impfung gegen das Coronavirus verweigern. Viele Geimpfte stimmen mit der möglichen Einführung einer 2G-Regelung zwar auch nicht überein, da sie als Geimpfte aber von jedem Verdacht reingewaschen sind, möchten sie lieber keine ernstzunehmende Kritik an der Coronapolitik äußern. Zu leicht finden sie sich in einem Topf mit den Unmoralischen, in den sie sicher nicht gehören.

Und obwohl die Impfquote seit Frühsommer in die Höhe geschnellt ist, ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht geimpft. Von einer klassischen Minderheit lässt sich da nicht sprechen. Die Runde der Ausgeschlossenen wird immer größer und intransparenter. Die Gegenseite wird immer weniger greifbar, die Übergänge zwischen Gut und Böse sind inzwischen fließend. Das Gespenst der Französischen Revolution liegt in der Luft, als ein an und für sich gutes Anliegen völlig eskalierte und Jagd auf ehemals Verbündete gemacht wurde.


Die Demokratie ist in ernsthafter Gefahr. Anders als zu Weimarer Zeiten steht der Gegner aber nicht nur außerhalb des demokratischen Spektrums. Mit der AfD hat es zwar eine demokratiefeindliche Gruppierung in den Bundestag geschafft und versucht seitdem, unser System mit demokratischen Mitteln zu unterwandern, aber auch aus dem innersten Kern der Demokratie versuchen einige, die Demokratie auszuhöhlen. In ihrem schier unendlichen Drang nach grenzenloser Freiheit und Egalität reißen sie mit dem Hinterteil ein, was ihre Vorfahren mit den Händen aufgebaut haben. Ein Stück weit leidet unsere Demokratie an einer Autoimmunerkrankung, weil viele zwischenzeitlich blind sind für den Wert von Freiheiten, für die sie nie kämpfen mussten.

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Noch ganz dicht?

Lesedauer: 9 Minuten

Mit ihrer Aktion #allesdichtmachen haben 52 Künstlerinnen und Künstler einen Shitstorm erster Güte losgetreten. Mit einer kontroversen Debatte über ihre Videos haben sie mit Sicherheit gerechnet, mit solch vernichtender Kritik bestimmt nicht. Über die Inhalte der Kurzclips spricht kaum jemand. Immerhin waren sich die Medien und weite Teile der Öffentlichkeit schnell einig, dass es den Darstellerinnen und Darstellern nicht zusteht, auf diese Weise Kritik zu üben. Von dem künstlich erzeugten Scharmützel zwischen Befürwortern und Gegnern profitieren vor allem diejenigen, die die unhaltbaren Zustände in Krankenhäusern mitzuverantworten haben.

Einig wie selten

Seit Böhmermanns Ziegenficker-Affront aus dem Jahr 2016 schlug wohl keine satirische Überspitzung so hohe Wellen wie die Aktion #allesdichtmachen. Mehr als 50 Künstlerinnen und Künstler aus dem deutschsprachigem Raum üben mit der Aktion Kritik an dem gefühlt endlosen Lockdown, den die Regierung immer wieder verlängert. Die Promis bezweifeln in ihren Kurzvideos, dass die harten Maßnahmen gegen die Pandemie noch verhältnismäßig sind. Die Diskussion über diese Aktion erinnert in Teilen tatsächlich an den Vorwurf der Majestätsbeleidigung, der seinerzeit gegen Jan Böhmermann im Raum stand. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied: Während sich 2016 die öffentliche Meinung über Böhmermanns Schmähgedicht in zwei mehr oder weniger ausgeglichenen Lagern verortete, ist im Falle der Aktion #allesdichtmachen für die Medien die Sache klar: Das geht gar nicht. Es ist absolut deplatziert und verachtenswert.

Die deutschen Leitmedien sind sich bei der Einschätzung des satirischen Fehlgriffs einig wie selten. Die Kritik, die über die Aktion hereinbrach, kam wie aus einem Guss. Unerbittlich verurteilten die großen Nachrichtensender, namhafte Zeitungen und andere Medien die Videoclips, die ihr Anliegen in etwa einer Minute deutlich machen. Zumindest dieses Ziel haben die Macher hinter der Aktion erreicht. Jeder redet darüber. Die Öffentlichkeit für das Thema ist definitiv hergestellt.

Steilvorlage für Rechts

Ein weiteres und weitaus wichtigeres Ziel haben die Initiatoren allerdings auch erreicht. Sie haben bravourös dargestellt, wie eingeengt der geduldete Diskurs in unserem Land zwischenzeitlich ist. Die Kritik an den Videos fiel mitunter so heftig und vernichtend aus, dass die Sachlichkeit an vielen Stellen darunter litt. Mit teilweise brachialer verbaler Gewalt rückte man die Künstlerinnen und Künstler unreflektiert in die Nähe der Querdenkerszene, die sich hauptsächlich aus Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen formatiert. Es geht daneben leicht unter, dass das in Kauf genommene Horrorszenario, in der Folge von der AfD vereinnahmt zu werden, ebenfalls eingetreten ist.

Die reflexartige Ausgrenzung der 52 Promis lässt den Rechten doch auch überhaupt keine andere Wahl, als deren Aktion für sich zu vereinnahmen. Erneut hat eine blauäugige und naive Weltsicht der AfD ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema auf dem Silbertablett serviert. In einem schier neurotischen Distanzierungswahn von der AfD haben bestimmte Meinungsmacher die Promis aus den Videos und deren wichtiges Anliegen auf dem Altar des Nicht-Sagbaren geopfert. Es ist völlig richtig, dass die AfD manche der angesprochenen Maßnahmen ebenfalls kritisiert. Das nun zum Maßstab des Tolerierbaren zu machen, übersteigert die Relevanz dieser rechten Gruppierung allerdings bis ins Wahnwitzige. Bloß weil die AfD auf Sonnenschein hinweist, ist das noch lange kein Grund, trotz frühlingshaften Wetters Regen zu propagieren.

Über’s Ziel hinaus

Einige der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits laut gefragt, ob Ironie und Sarkasmus die richtigen Stilmittel für die Botschaft der Aktion gewesen wären. Tatsächlich kann man über die Geschmackhaftigkeit der Aktion streiten. Auch dass sich einige mit den Videos vor den Kopf gestoßen fühlen, war ein kalkulierbares Risiko. Hier kann man den Machern sicher noch zugutehalten, dass jede Form der Kunst, wenn sie gut gemacht ist, unbequeme Ausmaße für bestimmte Personen annimmt. Der Kreis dieser Personen ist in diesem Fall unerwartet groß und auch der Zeitpunkt der Aktion war zeitlich bestimmt nicht optimal. Auch vor einigen Wochen und Monaten lebten wir in einem gefühlt ewigen Lockdown bei zwischenzeitlich moderat anmutenden Infektionszahlen. Solche Videos zu verbreiten, wenn die Zahl der Infizierten wieder ganz knapp an der 30.000 kratzt, war auf keinen Fall ein Geniestreich.

Man kann den Künstlerinnen und Künstlern darum durchaus vorwerfen, über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Mit diesem überambitionierten Gebaren sind sie mit ihren Kritikern aber in allerbester Gesellschaft. Die Herabwürdigung der Aktion reichte von Rückzugsforderungen über persönliche Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen. Das geht so einfach nicht. Das ist nicht die logische Antwort auf etwas, was man als unangebracht und geschmacklos empfindet.

Besonders erschütternd ist aber der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus. So wirft Meron Mendel, Direktor des Zentrums für politische Bildung, den Darstellerinnen und Darstellern vor, sie würden eine Verharmlosung der NS-Verbrechen befördern und damit Geschichtsrevisionismus betreiben. Mit dieser infamen Unterstellung wird die in weiten Teilen berechtigte Kritik in selbstgerechter und verantwortungsloser Weise sogleich in Grund und Boden gestampft. Es ist doch genau andersrum: Nicht die Kritik an der Regierung entspricht Nazi-Methoden, sondern die Gleichsetzung von kritischem Zeitgeist mit den Methoden der extremen Rechten.

Schneller Rückzug

Leider ließen sich von dieser regelrechten Hetzkampagne inzwischen einige der Künstlerinnen und Künstler beeindrucken. Bei manchen blieb es nicht bei hilflosen Erklärungs- und Distanzierungsversuchen. Sie nahmen die Videos gefolgsam vom Netz. Die Feierstimmung darüber in der AfD-Parteizentrale soll angeblich alle Ausmaße bisher dokumentierter Corona-Partys gesprengt haben.

So standfest und überzeugt die Darstellerinnen und Darsteller zunächst schienen, so umfallerisch wirken sie nun, nachdem sie ihre Videos zurückgezogen haben. Die heftige Kritik auf ihre Aktion hat alle Dimensionen des Denkbaren in den Schatten gestellt. Nun aber Videos tatsächlich zu löschen, gibt die Aktion dem Verdacht des Opportunismus und der Selbstdarstellung preis. Die Künstler ziehen dabei selbst in Zweifel, wie ernst es ihnen mit der Aktion war. Bemerkenswert ist dabei, wie rasant schnell einige der Videos verschwunden waren.

Das Unsagbare

Ein besonders beliebtes Totschlagargument, um die unliebsame Kritik am Corona-Management der Bundesregierung moralisch zu entmündigen, kam auch in diesem Fall zum Einsatz. Mit ihrer Aktion würden die Promis die Pandemie verharmlosen und die Maßnahmen ins Lächerliche ziehen. Außerdem würden sie sich über die zahlreichen Opfer der Erkrankung lustig machen, ungeachtet dessen, ob diese die Krankheit überlebt haben oder nicht. Diese Unterstellung ist so bösartig, dass spätestens jetzt klar wird, dass es nicht um sachliche Kritik, sondern um die öffentliche Demontage und Vernichtung der Künstlerinnen und Künstler geht.

Denn mit keiner Silbe stellen die Darsteller die Gefährlichkeit der Krankheit in Abrede. Sie bezweifeln lediglich die Verhältnismäßigkeit und die Zielgenauigkeit der geltenden Maßnahmen. Sie legen damit den Finger in eine offene Wunde. Nach über einem Jahr Pandemie gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse darüber, wo die Infektionsherde liegen. Jedem dürfte klar sein, dass das Infektionsrisiko in überfüllten Bahnen und Bussen viel höher liegt, als wenn zwei Personen ein Picknick unter freiem Himmel abhalten. Aber selbst dazu gibt es kaum verwertbare Zahlen.

Natürlich war es im Frühjahr 2020 richtig, provisorisch alles dichtzumachen. Wir hatten es mit einem unbekannten Virus zu tun, dessen Folgen nicht abschätzbar waren. Die gleiche Aktion hätte die Opfer der Pandemie vor einem Jahr tatsächlich verachtet, weil sie den gesunden Menschenverstand ins Lächerliche gezogen hätte. Diesen Job hat die Bundesregierung mit ihrem kläglichen Krisenmanagement in der Zwischenzeit aber selbst übernommen.

Rabatz auf dem Nebenschauplatz

Mit der ausufernden Kritik an der Aktion erweisen die Empörten der Bundesregierung übrigens einen großen Dienst. Erneut ist es der Politik gelungen, die Menschen an einen Nebenschauplatz zu verweisen, um sie von den wirklichen Problemen fernzuhalten. Getreu dem Motto „Zerfleischt euch gegenseitig, dann haben wir den Rücken frei“ sprechen die wenigstens über die Gründe dafür, warum ein anhaltender Lockdown leider nötig ist.

Lange vor der Pandemie war der Gesundheitssektor so heruntergewirtschaftet, dass er selbst bei gewöhnlichen Grippewellen an seine Grenzen stieß. Die Gesundheitsämter sind seit Jahren so kaputtgespart, dass es auch nach mehr als einem Jahr Corona kaum verwundert, dass niemand so recht weiß, wo die Infektionen eigentlich herkommen. Wer nun aber glaubt, dieser Missstand stagniert seit der Pandemie, der irrt gewaltig. Tatsächlich mussten im vergangenen Jahr zwanzig Krankenhäuser ihre Pforten für immer schließen. Das ist der Grund dafür, warum die Politik die Pandemie nicht unter Kontrolle bekommt. Das ist der Grund dafür, warum viele Menschen erkranken und die meisten Geschäfte weiterhin zuhaben.

Währenddessen lassen sich viele börsennotierte Unternehmen mit krisengeschüttelten Zwei-Mann – Betrieben gleichstellen und kassieren freudig die Coronahilfen ab. Dieses hart erwirtschaftete Steuergeld fließt dann fast ohne Umwege in Form von Dividenden an die Aktionäre. Die Kritik an diesem unhaltbaren Zustand schimpft sich dann Neiddebatte. In Wahrheit ist es allerdings genau diese Praxis, die die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und in den Heimen verhöhnt. Es ist genau dieser Umgang mit Steuergeld, der die Menschen fassungslos zurücklässt. Es ist genau diese falsche Prioritätensetzung, die der Pandemie Tür und Tor öffnet.


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