Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


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Munteres Farbenspiel

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Die Causa Hessen könnte Schule machen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) will mit der SPD koalieren. Diese ist nach zig GroKos auf Bundesebene und einer Endlosschleife an Wahlniederlagen auf Landesebene so beliebig und profillos geworden, dass niemand aus der Partei ernsthaft Bedenken gegen diese absurde Zusammenarbeit anmeldet. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Experimentierfreude an Koalitionsmöglichkeiten entstanden. Es mangelt an aufrechten Politikern, denen Rückgrat und Anstand nicht fremd sind. Stattdessen setzt sich der Typus Berufspolitiker immer weiter durch. Genutzt hat das fast ausschließlich der extremen Rechten.

Ein flaues Gefühl

Die Ergebnisse der beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen vom Oktober haben niemanden wirklich überrascht: Die CSU verharrt in ihrem Allzeittief, die AfD ist im Höhenflug und die SPD liegt in beiden Flächenländern am Boden. Umso erstaunter waren Berichterstatter, Medien und Öffentlichkeit, dass sich Boris Rhein (CDU) ausgerechnet für eine Koalition mit den Sozialdemokraten entschieden hat. Der bisherige Koalitionspartner war sowieso nie der Wunschkandidat gewesen und außerdem haben die Grünen in Hessen deutlich an Rückhalt verloren. Dass das auch bei der SPD der Fall ist, hindert den Ministerpräsidenten nicht daran, dieses politische Wagnis einzugehen.

Auch wenn die Grünen einst als Gegenpol zu konservativer und wirtschaftsliberaler Politik gegründet wurden: In den letzten Jahren hat man sich an das Zusammenspiel aus Christdemokraten einerseits und den Bündnisgrünen andererseits gewöhnt. Eine solche Konstellation stand nach der Bundestagswahl 2013 zumindest zur Debatte, in Baden-Württemberg regiert Grün-Schwarz seit mehreren Jahren. Eine Koalition aus CDU und SPD hingegen bereitet vielen weiterhin ein flaues Gefühl.

Selbst als die beiden Parteien noch in der Liga der Volksparteien spielten und sich unter Kanzlerin Merkel mehrfach in Großen Koalitionen zusammenfanden, war das Regierungsbündnis vielen ein Dorn im Auge. Und tatsächlich warnen nicht wenige Politikwissenschaftler vor den Risiken einer Regierungszusammenarbeit der beiden mandatsstärksten Fraktionen. Wichtige Wählerinteressen könnten hinten runterfallen und letzten Endes die politischen Ränder stärken.

Dafür oder dagegen

Nun handelt es sich bei einer Koalition von CDU und SPD auf Landesebene in vielen Fällen nicht mehr um eine Große Koalition. Gerade deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, dass die beiden Parteien eine Regierung bilden. Eigentlich sollten sie gegensätzliche politische Strömungen repräsentieren. Doch zur Wahrheit gehört: Sie tun es schon lange nicht mehr.

Die beiden ehemaligen Volksparteien haben sich gegenseitig kaputtkoaliert. Keiner kann mehr sagen, für was die beiden Parteien eigentlich stehen. Die ständigen GroKos unter Angela Merkel haben ein politisches Vakuum hinterlassen, dass andere Parteien vzu füllen versuchen. Besonders profitiert hat davon bisher die AfD.

Gerade weil es sich bei einer Großen Koalition um ein Regierungsbündnis der beiden Parteien mit der größten Wählerzustimmung handelt, ist es enorm schwierig, zu einem Kompromiss zu finden. Denn eigentlich ist eine Stimme für die stärkste Partei immer auch eine Stimme gegen die zweitstärkste und andersrum. Und tatsächlich hat die dauerhafte Suche nach Kompromissen bei beiden Parteien Spuren hinterlassen: Ihre Profile sind heute dermaßen ausgeleiert, dass sie grundsätzlich mit fast jeder anderen Partei koalieren könnten.

Opposition unerwünscht

Offensichtlich hat die Freude an der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner auf die anderen Parteien abgefärbt. Immer abenteuerlicher werden die Regierungsbündnisse, immer weniger unterscheidbar die Parteien. In Sachsen-Anhalt regiert seit über zwei Jahren eine Deutschlandkoalition, obwohl die FDP rein rechnerisch für eine Mehrheit gar nicht nötig wäre. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwafelt von einem Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik und möchte am liebsten auch den Oppositionsführer in die Regierungsarbeit einbinden. Wie wenig selbstbewusst und wie sehr zerstritten kann eine Koalition denn sein?

Harte und konstruktive Oppositionsarbeit scheint aber sowieso nicht mehr im Trend zu liegen. Nach der Kommunalwahl in Sonneberg im Juni riet FDP-Chef Lindner sogar dazu auf, aus Protest lieber Die Linke statt der AfD zu wählen. Opposition ja, aber nur, wenn sie schön handzahm ist. Ein Armutszeugnis für die sterbende Fraktion.

Nebenschauplätze

Widerspruch ist inzwischen bei vielen bedeutenden Themen nicht mehr angesagt. Wird über den Sonderhaushalt für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro diskutiert, müssen die wenigen wahrnehmbaren Gegenstimmen übelste Diffamierungen über sich ergehen lassen. Wer heute nicht mehr Geld für Aufrüstung ausgeben will, ist fast automatisch ein Putin-Freund. Harte Kontroversen gibt es stattdessen fast ausschließlich bei softeren Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz und der Legalisierung des Containerns.

Dieser latente Kuschelkurs hat den etablierten Parteien viel an Glaubwürdigkeit und Zustimmung gekostet. Doch reicht ein Programm allein nicht aus, eine Partei zu prägen. Letztendlich sind es die Personen, welche das Programm umsetzen – oder vorgeben es zu tun. In dieser Hinsicht taumelt insbesondere die SPD an der Schwelle zur Lächerlichkeit. Die künftige Koalition mit der CDU in Hessen ist nur eines von vielen Beispielen. Während Altkanzler Schröder nach seiner Wahlniederlage 2005 niemals in ein Kabinett Merkel eingetreten wäre, konnte sein Nachnachnachfolger Schulz mit Müh‘ und Not davon abgehalten werden, nicht doch noch Minister unter Mutti zu werden.

Verrat an der Demokratie

Ein ähnlich schamloses Verhalten legte jüngst Bundesinnenministerin Nancy Faeser an den Tag. Als Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen bescherte sie ihrer Partei eine krachende Niederlage und verspielte damit ihre komplette Glaubwürdigkeit als führende Politikerin. Doch von persönlichen Konsequenzen keine Spur. Stattdessen bleibt sie auf ihrem Posten im Bundeskabinett als wäre nichts gewesen. Man stelle sich vor, ein arbeitender Bürger hätte sich ein so unverschämtes doppeltes Spiel erlaubt.

Der erste Platz im Wettbewerb um den dreistesten weil folgenlosen Gesichtsverlust geht aber eindeutig an Franziska Giffey. Die ehemalige Erste Bürgermeisterin Berlins macht zuerst Wahlkampf gegen die CDU, um nach absehbarer Niederlage auf den Rang einer Senatorin degradiert zu werden. Scheinbar hat die Frau ein Faible für ehrloses Verhalten.

All diese Personen haben eines gemeinsam: Sie kleben an der Macht und an ihren Posten. Das Streben nach Einfluss und Ministersesseln hat sie blind gemacht für Anstand und Moral. Vielleicht ist der Ausgang der Sondierungen in Hessen daher doch keine so große Überraschung.

Es wird nicht lange dauern, bis die extreme Rechte daraus macht: Der Ausgang der Wahl stand schon vorher fest. Die haben sich alle abgesprochen. Und leider muss man sagen: Sie haben das Publikum dafür. Der Vertrauensverlust in die Politik und die Demokratie ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass dieses verschwörerische Geraune die Stimme der Vernunft immer häufiger übertönt. Immer mehr Menschen treten beiseite, weil sie der rechten Hetze nichts entgegenzusetzen haben. Politiker wie Faeser, Giffey und Co. ziehen den aufrechten Demokraten den Boden unter den Füßen weg. Der Fall wird lang und schmerzhaft.

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Überzeugungstäter

Lesedauer: 8 Minuten

Wer hat recht und wer liegt falsch? Für viele ist diese Frage immer öfter bereits beantwortet, bevor das Gespräch losgeht. An der Überlegenheit der eigenen Überzeugung besteht kein Zweifel und auch noch so gute Gegenargumente können daran nichts ändern. Die Menschen sprechen zwar noch miteinander, aber sie hören einander nicht mehr zu. Die Fähigkeit, sich auf sein Gegenüber einzulassen, ist dem Auftrag gewichen, sein Gegenüber rhetorisch zu vernichten. Die Debatten rund um Corona und die Impfung haben diesen Trend nur verstärkt. Immer seltener geht es um einen fairen Austausch, sondern um bloßes Rechthaben.

Polarisierter Zweikampf

Die Demokratie ist der Wettstreit der Meinungen. Sie lebt davon, dass Menschen miteinander diskutieren und um die besten Lösungen ringen. Das ist nicht allein Aufgabe von Politikerinnen und Politikern. Um zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen, sollten alle Menschen in einem Land die Möglichkeit haben, daran mitzuwirken. Sie müssen den gewählten Abgeordneten signalisieren, was in ihrem Interesse ist und was nicht. Nur so können tragbare Mehrheiten entstehen.

Seit einigen Jahren gerät dieser gesunde Meinungsstreit aber mehr und mehr aus den Fugen. Die öffentliche Debatte zu wichtigen Themen erinnert immer weniger an einen fairen Streit, sondern ähnelt immer mehr einem regelrechten Zweikampf. In der polarisierten Gesellschaft geht es kaum noch darum, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Im Vordergrund steht viel mehr, sich selbst zu profilieren und die Gegenseite zu widerlegen. Das oberste Gesprächsziel ist nicht mehr, einen Kompromiss zu finden, sondern zu beweisen, dass der Gesprächspartner falschliegt.

Das ist an und für sich kein großes Drama. Problematisch ist allerdings die Verbissenheit, mit der mancheiner auf seinem Standpunkt verharrt. Man will die anderen unbedingt von seiner Meinung überzeugen, ist aber nicht bereit dazu, sich auf die Gegenargumente einzulassen. Für viele steht von vornherein fest: Der Weg des anderen ist nicht nur nachteilig und fehlerhaft – er führt zwangsläufig ins Verderben.

Das Ticket zum Untergang

Diesen Starrsinn bekommen beide Seiten seit Jahren bei zwei besonders wichtigen Themen zu spüren. Bei der Flüchtlingsdebatte waren die Fronten besonders verhärtet. Die einen sahen in der Flüchtlingswelle den Untergang des Abendlands und der europäischen Werte endgültig besiegelt, die anderen konnten es gar nicht abwarten, die Geflüchteten in Deutschland aufzunehmen und zu braven Staatsbürgern zu erziehen. Beide Seiten greifen zu kurz. Ein Mittelweg schien ausgeschlossen, Argumente dieser Art wurden kaum gehört. Viel zu sehr ging es bei der Flüchtlingsfrage ums Eingemachte. Auf dem Spiel stand nichts weniger als die Menschlichkeit. Und die war für viele nicht verhandelbar.

Ein fast noch größeres Polarisierungspotenzial weist die Klimakrise auf. Viele Menschen haben begriffen, dass die Bewältigung dieser Krise nicht nur das entschlossene Handeln der Politik erfordert, sondern dass es im Zweifelsfall auf jeden einzelnen ankommt. Anstatt aber zusammenzustehen, verlieren sich viele darin, den Lebensstil der anderen für inakzeptabel zu erklären. Menschen mit geringem Einkommen werden öffentlich dafür angegriffen, dass sie preisgünstige Lebensmittel einkaufen, die eine schlechtere Umweltbilanz aufweisen. Auf der anderen Seite greifen besonders bequeme Zeitgenossen das Engagement der jüngeren Generation an und erklären den Klimawandel zum Kampf ums Auto. Beide Seiten halten angeblich das Ticket zum Untergang in ihren Händen. Bei den einen werden die schlimmsten Umweltkatastrophen schon morgen zu sehen sein, die anderen provozieren einen Blackout in ganz Deutschland.

Sackgasse Moral

Bei allen diesen Debatten verhärten sich die Fronten durch eine moralische Aufladung zusätzlich. Diese moralische Motivation macht es beinahe unmöglich, die einmal eingenommene Position wieder zu verlassen. Zweifel daran, dass es eine gute Idee ist, die Grenzen für jedermann zu öffnen, ist gleichbedeutend mit einem Schießbefehl auf Flüchtlinge. Andererseits riskiert ein umweltbewusster Autoliebhaber, bald schon zum linksgrün-versifften Mainstream zu gehören.

Diese moralische Entrüstung betrifft aber nicht nur universale Themen wie die Flüchtlingsbewegung und die Klimakrise. Auch viele Nischenthemen werden mit einer guten Portion Moral zur Frage über Leben und Tod aufgewertet. Die Befürworter des Gendern wollen selbstverständlich vorrangig die deutsche Sprache zerstören und das Geschlecht zum Bestandteil der täglichen Garderobe machen. Seine Kritiker hingegen finden es gut, wenn Transmenschen drangsaliert werden und Frauen aufgrund ihres Geschlechts weniger Geld verdienen. Beides völliger Blödsinn.

Argumente als Nebensache

Eine neue Dimension erreichte diese Art des Umgangs miteinander durch die Coronakrise. Die moralische Kompetente ist hier offensichtlich, immerhin hat sich frühzeitig der Ethikrat eingeschaltet. Besonders bei der Frage zum Umgang mit Ungeimpften und ob eine allgemeine Impfpflicht vertretbar ist, spielt der Rat eine entscheidende Rolle. In keiner anderen Debatte der jüngeren Zeit waren die Fronten so verhärtet wie bei der Frage nach der Impfung. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen die beiden Extrempositionen, differenzierte Sichtweisen werden fast gar nicht zugelassen. Es kam zu einer perversen Umdeutung des Begriffs „Solidarität“, mit dem nun mit unerbittlicher Härte auf die Ungeimpften eingedroschen wird.

Rhetorisch erinnert in der Impfkampagne nichts mehr an einen demokratischen Meinungsstreit. Die existenzielle Tragweite der Pandemie ist die Legitimation dafür, dass eine faire Debatte entfällt. Obwohl manche Gründe gegen eine Impfung wissenschaftlich nicht widerlegbar sind, zählen die Argumente für die Impfung grundsätzlich mehr. Dadurch verlieren auch die wichtigen Gründe, die für eine Impfung sprechen, zusehends an Wert. Die Argumente verkommen zum Beiwerk in der Debatte. Entscheidend ist einzig, dass das eigene Ideal, eine flächendeckende Impfung, erreicht wird.

Der Zweck heiligt die Mittel?

In der Pandemie geht es schon lange nicht mehr darum, Andersdenkende von der eigenen Meinung zu überzeugen – und erst recht nicht darum, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen – sondern darum, die Impfquote in die Höhe zu treiben. Es ist dabei egal, warum sich die Menschen impfen lassen. Ob sie die medizinische Notwendigkeit der Impfung eingesehen haben oder ob sie sich monatelang vor einer Impfung sträubten und einfach wieder unbehelligt ins Restaurant gehen wollen, ist für die ärgsten Verfechter einer Impfpflicht unerheblich.

So funktioniert Demokratie aber nicht. Haben die Menschen das Gefühl, ihnen wird etwas aufgezwungen, von dem sie nicht überzeugt sind, dann erzeugt das Frust und kein Verständnis. Momentan fügen sich die meisten Menschen dem Impfdruck. Doch die Stimmung könnte angesichts regelmäßiger Impfungen und der in einigen Bundesländern beschlossenen 2G+ – Regelung in der Gastronomie bald kippen. Wer einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung seinen Willen aufzwingen will, ohne den Menschen zuzuhören, der erzeugt Frust und Spaltung. Das kann sich im weiteren Pandemiegeschehen bitter rächen.

Pistole auf der Brust

Es gibt in Deutschland Menschen, die wollen, dass eine allgemeine Impfpflicht eingeführt wird. Und es gibt Menschen, die das nicht wollen. Es ist möglich, dass sich die Mehrheit bei einer Volksbefragung für die allgemeine Impfpflicht aussprechen würde. Diese potenzielle Mehrheit ist zumindest das Lieblingsargument der Befürworter einer solchen Impfpflicht.

Wenn man allerdings ausschließlich geimpften, und teilweise nur geboosterten, Menschen Zutritt zu weiten Teilen der öffentlichen Infrastruktur gewährt, beeinflusst das die Sichtweise auf eine Impfpflicht. Die Mehrheit möchte dann keine gesetzlich vorgeschriebene Impfung, sondern sie will zur Normalität zurück. Viele Menschen haben gesehen, dass sie sich diese Freiheiten erkaufen können, wenn sie sich impfen lassen, unabhängig davon, wie medizinisch sinnvoll die Impfung für sie ist.

Die exekutive Gesellschaft

Trotz dieser objektiven Mehrheit darf nicht vergessen werden, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen einer möglichen Impfpflicht zumindest skeptisch gegenübersteht. Viele dieser Skeptiker haben ernstzunehmende Beweggründe für ihre Ablehnung und es lohnt sich mit Sicherheit, ihnen zuzuhören. In einer Demokratie hat nämlich nicht ausschließlich die Mehrheit das Sagen. Es ist die Aufgabe der Opposition, das Handeln der Mehrheit kritisch zu hinterfragen und alternative Lösungswege aufzuzeigen. Die Mehrheit kann von dieser kritischen Sichtweise sogar profitieren.

Einen aufrechten Demokraten erkennt man daran, wie er Menschen begegnet, die anderer Meinung sind. Für ihn steht nicht die Umstimmung des anderen im Vordergrund, sondern die Überprüfung der eigenen Position. Ein echter Demokrat lässt sich auf die Gegenseite ein und sucht nach Wegen, wie beide Seiten zusammenkommen können. Unsere Demokratie lebt vom Kompromiss und nicht von einem Absolutheitsanspruch. Vielleicht hat die Gegenseite Ansätze, die schneller aus einer schwierigen Lage herausführen können. Mit dieser Handhabung würde man sogar mehr Leute mit ins Boot holen, anstatt eine Vielzahl an Menschen zu verprellen.

Wir haben uns in einer Kultur der Rechthaberei verfangen. Jeder pocht darauf, dass seine Meinung unumstößlich ist und die anderen grundfalsch liegen. Die existenziellen Krisen der letzten Jahre haben zu einer sehr exekutiv geprägten Gesellschaft geführt, in welcher der gegenseitige Austausch immer weniger zählt. Aus dieser Spirale müssen wir dringend ausbrechen, wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen immer weiter entfremden.


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