Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


Mehr zum Thema:

Die Lückenschließerin

Rechtes Überangebot

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Keine leichte Rückkehr

Lesedauer: 7 Minuten

Die Masken, sie fallen – in manchen Ländern früher, in anderen Ländern später. Deutschland gehört zu den Schlusslichtern, was die Lockerung der Coronamaßnahmen betrifft. Während sämtliche Infektionsschutzregeln in Ländern wie Dänemark und Schweden schon vor Wochen gefallen sind, setzt die deutsche Regierung lieber auf einen Drei-Stufen – Plan, der bis Ende März Schritt für die Schritt viele Maßnahmen lockert oder sogar ganz aussetzt. Doch selbst wenn die epidemische Lage es zuließe, alle Maßnahmen sofort zu beenden, stellt sich ein weiteres unterschätztes Problem: Sind die Menschen bereit für ein Leben ohne Pandemie?

Nicht ohne meine Maske

Fakt ist: Nach zwei Jahren Corona wird es vielen Menschen nicht leichtfallen, wieder auf Normal zu schalten. Viele haben es verlernt, einen unbeschwerten Alltag zu führen. Das fängt bei einer zentralen Maßnahme an, über die 2020 viele die Augen verdrehten, an die sich mittlerweile aber fast alle gewöhnt haben. Der Wegfall der Maskenpflicht würde für viele Bürgerinnen und Bürger einen empfindlichen Eingriff in ihre festgefahrene Routine bedeuten. Wie selbstverständlich ziehen sich viele inzwischen einen Mund-Nasen – Schutz auf, wenn sie geschlossene Räume betreten. Zum wöchentlichen Einkauf und zum Kinobesuch gehört die Maske zwischenzeitlich einfach dazu.

Früh erkannten die Menschen den wertvollen Beitrag der Maske im Kampf gegen die Pandemie. Voller Überzeugung trugen sie sie im Supermarkt, in Bus und Bahn und in überfüllten Innenstädten. Der Tragekomfort vieler Masken sprach sich ebenso schnell herum wie ihre aufbauende Wirkung auf die Ohrenmuskulatur. In mehreren Städten und Gemeinden haben sich daher Bürgerverbände zusammengefunden, die unter dem Motto „Nicht ohne meine Maske“ gegen die Abschaffung der liebgewonnenen Maßnahme protestieren.

Maskenpflicht unter der Hand

Nicht jeder Mitbürger tritt so energisch gegen den Wegfall dieser Maßnahme ein. Viele Experten sind sich allerdings sicher, dass die meisten Menschen das Tragen der Maske beibehalten werden, auch wenn es nicht mehr vorgeschrieben ist. Gerade in infektionsrelevanten Situationen wie Demos und Großveranstaltungen erwarten sie ein diszipliniertes Weiterleben der Maskenpflicht.

Trotzdem erwarten sie auch negative Auswirkungen durch die Abschaffung der Maßnahme. Einzelne Verhaltensforscher skizzieren schon jetzt regelrechte Entzugserscheinungen. Diese beinhalten sowohl psychosomatische Reaktionen wie Unruhe, Orientierungslosigkeit und Schlafstörungen als auch körperliche Beschwerden wie Atemprobleme und eine ständig laufende Nase.

Es lebe der Sündenbock

Die Aufhebung sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung des Virus bedeutet faktisch das Ende der Pandemie. Sicher werden sich auch in den kommenden Monaten Menschen infizieren. Viele Wissenschaftler setzen ihre Hoffnungen aber auf die Erreichung eines endemischen Zustands. Maskenpflicht und Zugangsbeschränkungen zu Restaurants, Kinos und Kultureinrichtungen spielen dann keine Rolle mehr. Doch auch die Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht müsste in der Folge ausgesetzt werden.

Das Ende der Pandemie würde also besonders für Ungeimpfte der Freedom Day werden. Denn ohne akute Pandemie könnte man diese Gruppe kaum zu einer Impfung drängen oder sie weiterhin für die katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen verantwortlich machen. Auch das würde für viele eine echte Umstellung bedeuten.

Viel zu sehr haben sich manche daran gewöhnt, die Schuld für die missliche Lage fast ausschließlich den ungeimpften Mitbürgerinnen und Mitbürgern in die Schuhe zu schieben. Da Menschen in schwierigen Situationen immer dazu neigen, einen Sündenbock auszumachen, stellt sich die Frage, wer als nächstes dran glauben muss.

Zweifelhaftes Comeback

Es ist gut möglich, dass die Klimakrise wieder stärker ins Bewusstsein der Gesellschaft rutscht. Es kann daher leicht zu einem Revival des Konflikts Jung gegen Alt kommen. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, die ihre Renten mit selbstgesammelten Pfandflaschen aufbessern müssen und sich bestenfalls das Steak vom Discounter leisten können. Die hohe Inflationsrate verwehrt ihnen künftig sogar den Zugang zu gesundem Obst und Gemüse. Auch hier müssen sie auf klimaschädliche Alternativen zurückgreifen.

Die Gründe ihrer Kaufentscheidung spielten schon vor zwei Jahren keine Rolle. Offene Diskriminierung gedeiht auch, wenn es nachvollziehbare Gründe für ein bestimmtes Handeln gibt. Welchen besseren Beweis gibt es dafür als die Stimmung gegen Ungeimpfte in der Coronapandemie?

Nervenkitzel und Wirtschaftseinbruch

Auch viele Psychologinnen und Psychologen schlagen angesichts der nahenden Lockerungswelle Alarm. Sie vermuten, dass es den meisten Menschen sehr schwerfallen wird, sich wieder an einen geregelten Alltag zu gewöhnen. In der Pandemie wusste man nie, was der nächste Tag bringt. Großzügiges Vorausplanen war schlicht nicht möglich. Die Menschen mussten sich quasi täglich an neue Regeln und Gegebenheiten anpassen. Der drohenden Planungssicherheit sehen die Experten mit Sorge entgegen. Sie befürchten, dass der triste Alltag zu einem signifikanten Anstieg von psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Bore-Out, dem Gegenteil von Burn-out, führen kann.

Hinzu kommt, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie alles andere als einheitlich waren. Sie waren teilweise auf Landkreise beschränkt und richteten sich nach der aktuellen Bedrohungslage durch das Virus. Es verlangte den Menschen viel ab, wenn sie wissen wollten, welche Maßnahmen aktuell für sie galten. Es war für viele durchaus mit einer gewissen Spannung verbunden, ob sie ins Einkaufszentrum oder zum Friseur durften und was sie bei dem Besuch zu beachten hatten. Dieser fehlende Nervenkitzel kann sich spürbar auf das Konsumverhalten der Menschen auswirken. Manche werden in ausgedehnten Shoppingtouren oder feuchtfröhlichen Clubbesuchen keinen Sinn mehr sehen, wenn sie vorher nicht die Bestätigung erhalten, dass sie zu einer exklusiven Gruppe gehören. Die Folgen für die Wirtschaft liegen auf der Hand.

Die Rückkehr in den Alltag ist aber auch mit einem nicht zu unterschätzenden Frustrationspotenzial verbunden. Viele Menschen haben sich Gepflogenheiten abgewöhnt, die vor Corona völlig selbstverständlich waren. Das fängt bei einem sozialverträglichen Umgang miteinander an, betrifft aber auch die tägliche Garderobe. Dr. Merle Gutzeit vom Psychologischen Institut der Universität Mannheim führt dazu aus: „Einige Menschen werden mit Sicherheit Schwierigkeiten haben, sich wieder angemessen anzukleiden. Mancheiner hat im Home Office vielleicht sogar schon vergessen, dass das Tragen einer Hose zum guten Stil gehört.“ Die Psychologin rechnet damit, dass sich diese Menschen den gesellschaftlichen Konventionen zwar beugen werden, aber mit der Zeit ein Ventil für den damit verbundenen Frust benötigen. „Möglich wären hier Demonstrationen von Menschen, die das Tragen einer Hose als Grundrechtseingriff verstehen und dagegen protestieren – unten ohne übrigens.“ Auch sie fordert von der Politik, solche unerwünschten Nebeneffekte der Lockerungen einzukalkulieren.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Sozialer Rassismus – Unterschätzte Gefahr

Die Rechtspopulisten sind weiter auf dem Vormarsch – auch in Deutschland. Für viele ist es schier unbegreiflich, warum manche Menschen eine Partei wählen, die offen rassistische Ressentiments schürt. Sind denn jetzt alle Rassisten geworden? Wohl kaum. Die meisten waren viel zu lange viel zu stille Opfer. Andere befürchten zurecht, bald welche zu werden. Die wenigen übrigen sind echte Rassisten, die sich diese Ängste zunutzemachen.

Eine Horde Rassisten

Am Frankfurter Hauptbahnhof wirft ein Mann einen achtjährigen Jungen und dessen Mutter unvermittelt vor einen einfahrenden Zug. Für den Jungen kommt jede Hilfe zu spät. In Augsburg wird ein stadtbekannter Feuerwehrmann im Streit von einem 17-jährigren Jugendlichen totgeschlagen. Im Juni 2018 wird die 14-jährige Susanna F. aus Mainz tot aufgefunden. Ein 20-jähriger hatte sie zunächst vergewaltigt und dann erwürgt. Alle diese Fälle eint, dass sie von männlichen Tätern mit Migrationshintergrund begangen wurden. Alle Fälle eint auch, dass sie von Rechtspopulisten für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert wurden.

Diese Instrumentalisierung ging sogar so weit, dass die AfD eigenmächtig eine Gedenkminute für die ermordete Susanna aus Mainz abhielt. Im Fokus dieses Eklats stand allerdings nicht das Opfer der grausamen Tat, sondern der Täter. In ekelerregender Manier verschoben die Rechtspopulisten den Blickwinkel auf die Herkunft des Täters – und tanzten dadurch auf dem Grab eines Mordopfers. Immer wieder verweist die nationalkonservative Partei auf eine Vielzahl an Straftaten, die von männlichen Tätern mit Migrationshintergrund begangen werden. Sie verwahren sich gegen Vorwürfe, rassistisch zu handeln.

Doch genau das tun sie. Sie weisen auf einen Zusammenhang zwischen krimineller Tat und der nationalen Herkunft der Täter hin. Im Prinzip teilen sie dabei Menschen in verschiedene Gruppen ein, von der einige gewaltbereiter sind als andere. Sie stellen die Flüchtlinge unterschiedlichster Herkunft pauschal als unzivilisierte Barbaren dar, als tickende Zeitbomben, die jederzeit hochgehen könnten. Wer davon ausgeht, bestimmte Bevölkerungsgruppen hätten generell bestimmte Eigenschaften, der ist ein Rassist.

Wir sind mehr!

Ganz bewusst schürt die AfD also fremdenfeindliche Ressentiments. Genau so zuverlässig, wie die AfD ihre Stimme gegen Migration erhebt, so regelmäßig fällt auch der viel lautere Widerspruch gegen solche Stimmungsmache aus. Gerade in Deutschland ist man weiterhin äußerst sensibel dafür, wenn bestimmte Kräfte eine ganze Gruppe unter Generalverdacht stellen. Wo immer Rechtspopulisten ihre Kundgebungen und Demonstrationen abhalten, da schlägt auch eine Vielzahl von Gegendemonstranten auf, die sehr viel lauter die Werte der freiheitlichen Demokratie verteidigen.

Nach dem fürchterlichen Anschlag in Halle zeigten sich die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland entsetzt darüber, wie kaltblütig ein Mensch handeln kann. Gerade wenn in diesem Land Jüdinnen und Juden in welcher Form auch immer angegriffen werden, wissen die meisten: So nicht! Es ist Zeit zu handeln.

In einem Land mit einer so dunklen Geschichte wissen die Menschen sehr genau, wann Grenzen überschritten werden. Und es bedürfte noch nicht einmal dieser finsteren Vergangenheit. Rassismus und Antisemitismus sind immer falsch. Immer!

Entwürdigendes Schauspiel

Ich finde es richtig, wenn sich Menschen solchen Entwicklungen entgegenstellen und mit lauter Stimme dagegenhalten. An anderen Stellen bleibt die Entrüstung leider viel zu leise. Wenn ein Rentner in einem absurd reichen Land wie Deutschland in Parks und in Bahnhöfen im Müll nach Pfandflaschen suchen muss, quittieren viele das bestenfalls mit einem genervten Augenverdrehen. Pfandflaschensammelnde Rentner gehören inzwischen leider zum gutbürgerlichen Panorama der Nation. Was bleibt diesen Menschen anderes übrig? Nach jahrzehntelanger Arbeit wird ihnen die Rente so pervers zusammengekürzt, dass viele sich weiter krummmachen müssen – ob im Betrieb oder über dem Mülleimer.

Und was macht die Gesellschaft? Ein genervtes Verdrehen der Augen, ein Wegschauen oder ein verächtliches Schnauben ist meist die wohlwollendste Antwort auf ein solches Phänomen. In widerlicher Überheblichkeit diffamieren einige solche Menschen als Asoziale, die der Gesellschaft mehr schaden als nutzen. Jüngstes Beispiel für diese völlige Verkennung der Tatsachen ist der vom WDR produzierte Song, der gegen die ältere Generation wettert. Angeprangert wird hier unter anderem, dass sich die Oma billiges Fleisch beim Discounter kauft. Wo denn auch sonst von einer so mickrigen Rente?!

Ich bin dann mal hartzen

Pfandflaschensammler oder auch Hartz-IV – Empfänger müssen es sich gefallen lassen, immer häufiger und immer unverblümter als Taugenichtse und als Last hingestellt zu werden. Natürlich gibt es immer genügend Beispiele von Menschen, die sich aus dem Hartz-IV herausarbeiten oder trotz der Sozialhilfe nicht 15 Jahre alt sind, kiffen und auf den Namen Cindy-Chantal hören. Diese Einzelfälle sind notwendig, um die Vielzahl der anderen noch erschreckender und abartiger erscheinen zu lassen. Genau so funktioniert übrigens auch herkömmlicher Rassismus.

Doch woher kommt diese gefühlte Überlegenheit über andere Bevölkerungsschichten? Ein Blick ins heutige TV-Programm reicht aus, um diese Frage zumindest teilweise zu beantworten. Während im WDR besagter Oma-Song in Dauerschleife läuft, reiht sich bei RTL II eine Frauentausch-Folge an die andere. Auf anderen Sendern bietet sich ein ähnliches Bild. Diese Geschichten spielen natürlich mitten im Leben von sozialschwachen Menschen. Der Begriff dafür: Assi-TV. Nicht für Assis, sondern mit Assis. Gezeigt werden bevorzugt Hartz-IV – Empfänger, die entweder zu faul oder zu blöd zum Arbeiten sind. Dass dabei eine deutliche Minderheit an den Pranger gestellt wird, ist egal. Diese Allgegenwärtigkeit schlechter Beispiele ist ebenso typisch für Rassismus.

Plötzlich Rassist?

Die Bundesregierung zeigt sich indes völlig entsetzt darüber, dass die AfD ihre völkischen Ideen verbreitet und den Rassismus im Lande streut. Dabei war und ist es doch die Regierung und ihre Vorgänger, die den Grundstein dafür gelegt hat. Mit Hartz-IV installierte die damalige Rot-Grüne Regierung ein Sanktionssystem, das die Gesellschaft natürlich spaltete. Arm wurde gegen Reich ausgespielt. Der Sozialhilfeempfänger gegen den fleißigen Arbeiter. Und selbstverständlich schürt das Ängste vor dem eigenen sozialen Abstieg.

Die Folge war sozialer Rassismus, der wie ein Riss durch das Land ging. Die AfD nutzte diese Spaltung aus. Die Opfer von Sozialrassismus konnten sich so wieder Gehör verschaffen. Obendrauf befreiten die Rechtspopulisten sie von den Fesseln der sozialen Unterdrückung. Diese Menschen wollten keine Opfer mehr sein. Opfer sind nun andere. Die vielen Flüchtlinge nämlich, die sich laut rechter Propaganda in unsere Sozialsysteme einschleichen und zum Dank deutsche Frauen vergewaltigen und serienweise deutsche Männer abstechen.

Ethnischer Rassismus hatte es schon immer sehr einfach, die Opfer von Sozialrassismus auf seine Seite zu ziehen. Die Menschen sagen: „Ich habe ja nichts gegen die Ausländer, aber…“ Und genau das stimmt. Die Menschen haben nichts gegen Ausländer. Wie soll das auch gehen? Ehrenhafte Bürger mutieren mir nichts dir nichts zu überzeugten Rassisten?! Klingt abwegig. Ist es auch.

Einen Schritt weiter

Das soll aber nicht heißen, dass die AfD einzig aus einer Truppe sozial abgehängter und vernachlässigter besteht. Das würde das Potenzial dieser Partei verharmlosen. Zündfunke der rechtspopulistischen Bewegung war echter Rassismus und rechtsextremes Gedankengut. Das ist übrigens nicht nur in Deutschland so, sondern in vielen anderen Ländern auch. Hinter jedem Aufmarsch sogenannter Wutbürger steht mindestens ein Scharfmacher, der die Protestierenden wie Marionetten an seinen Strippen führt.

Die AfD ist gut damit beschäftigt, ethnischen Rassismus in unserer Gesellschaft salonfähig zu machen. Sie haben es noch nicht ganz geschafft. Offener Rassismus ist in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor tabu. Die Regierungen der letzten Jahre waren da erfolgreicher. Wenn ein Hartz-IV – Empfänger als „Assi“ beschimpft wird, trifft das auf breiteren Konsens. Keiner würde sagen: „Ich habe ja nichts gegen Hartz-IV – Empfänger, aber viele davon sind einfach dumm und faul.“ Der erste Teil des Satzes wäre für viele eine Lüge.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!