Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


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Munteres Farbenspiel

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Die Causa Hessen könnte Schule machen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) will mit der SPD koalieren. Diese ist nach zig GroKos auf Bundesebene und einer Endlosschleife an Wahlniederlagen auf Landesebene so beliebig und profillos geworden, dass niemand aus der Partei ernsthaft Bedenken gegen diese absurde Zusammenarbeit anmeldet. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Experimentierfreude an Koalitionsmöglichkeiten entstanden. Es mangelt an aufrechten Politikern, denen Rückgrat und Anstand nicht fremd sind. Stattdessen setzt sich der Typus Berufspolitiker immer weiter durch. Genutzt hat das fast ausschließlich der extremen Rechten.

Ein flaues Gefühl

Die Ergebnisse der beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen vom Oktober haben niemanden wirklich überrascht: Die CSU verharrt in ihrem Allzeittief, die AfD ist im Höhenflug und die SPD liegt in beiden Flächenländern am Boden. Umso erstaunter waren Berichterstatter, Medien und Öffentlichkeit, dass sich Boris Rhein (CDU) ausgerechnet für eine Koalition mit den Sozialdemokraten entschieden hat. Der bisherige Koalitionspartner war sowieso nie der Wunschkandidat gewesen und außerdem haben die Grünen in Hessen deutlich an Rückhalt verloren. Dass das auch bei der SPD der Fall ist, hindert den Ministerpräsidenten nicht daran, dieses politische Wagnis einzugehen.

Auch wenn die Grünen einst als Gegenpol zu konservativer und wirtschaftsliberaler Politik gegründet wurden: In den letzten Jahren hat man sich an das Zusammenspiel aus Christdemokraten einerseits und den Bündnisgrünen andererseits gewöhnt. Eine solche Konstellation stand nach der Bundestagswahl 2013 zumindest zur Debatte, in Baden-Württemberg regiert Grün-Schwarz seit mehreren Jahren. Eine Koalition aus CDU und SPD hingegen bereitet vielen weiterhin ein flaues Gefühl.

Selbst als die beiden Parteien noch in der Liga der Volksparteien spielten und sich unter Kanzlerin Merkel mehrfach in Großen Koalitionen zusammenfanden, war das Regierungsbündnis vielen ein Dorn im Auge. Und tatsächlich warnen nicht wenige Politikwissenschaftler vor den Risiken einer Regierungszusammenarbeit der beiden mandatsstärksten Fraktionen. Wichtige Wählerinteressen könnten hinten runterfallen und letzten Endes die politischen Ränder stärken.

Dafür oder dagegen

Nun handelt es sich bei einer Koalition von CDU und SPD auf Landesebene in vielen Fällen nicht mehr um eine Große Koalition. Gerade deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, dass die beiden Parteien eine Regierung bilden. Eigentlich sollten sie gegensätzliche politische Strömungen repräsentieren. Doch zur Wahrheit gehört: Sie tun es schon lange nicht mehr.

Die beiden ehemaligen Volksparteien haben sich gegenseitig kaputtkoaliert. Keiner kann mehr sagen, für was die beiden Parteien eigentlich stehen. Die ständigen GroKos unter Angela Merkel haben ein politisches Vakuum hinterlassen, dass andere Parteien vzu füllen versuchen. Besonders profitiert hat davon bisher die AfD.

Gerade weil es sich bei einer Großen Koalition um ein Regierungsbündnis der beiden Parteien mit der größten Wählerzustimmung handelt, ist es enorm schwierig, zu einem Kompromiss zu finden. Denn eigentlich ist eine Stimme für die stärkste Partei immer auch eine Stimme gegen die zweitstärkste und andersrum. Und tatsächlich hat die dauerhafte Suche nach Kompromissen bei beiden Parteien Spuren hinterlassen: Ihre Profile sind heute dermaßen ausgeleiert, dass sie grundsätzlich mit fast jeder anderen Partei koalieren könnten.

Opposition unerwünscht

Offensichtlich hat die Freude an der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner auf die anderen Parteien abgefärbt. Immer abenteuerlicher werden die Regierungsbündnisse, immer weniger unterscheidbar die Parteien. In Sachsen-Anhalt regiert seit über zwei Jahren eine Deutschlandkoalition, obwohl die FDP rein rechnerisch für eine Mehrheit gar nicht nötig wäre. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwafelt von einem Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik und möchte am liebsten auch den Oppositionsführer in die Regierungsarbeit einbinden. Wie wenig selbstbewusst und wie sehr zerstritten kann eine Koalition denn sein?

Harte und konstruktive Oppositionsarbeit scheint aber sowieso nicht mehr im Trend zu liegen. Nach der Kommunalwahl in Sonneberg im Juni riet FDP-Chef Lindner sogar dazu auf, aus Protest lieber Die Linke statt der AfD zu wählen. Opposition ja, aber nur, wenn sie schön handzahm ist. Ein Armutszeugnis für die sterbende Fraktion.

Nebenschauplätze

Widerspruch ist inzwischen bei vielen bedeutenden Themen nicht mehr angesagt. Wird über den Sonderhaushalt für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro diskutiert, müssen die wenigen wahrnehmbaren Gegenstimmen übelste Diffamierungen über sich ergehen lassen. Wer heute nicht mehr Geld für Aufrüstung ausgeben will, ist fast automatisch ein Putin-Freund. Harte Kontroversen gibt es stattdessen fast ausschließlich bei softeren Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz und der Legalisierung des Containerns.

Dieser latente Kuschelkurs hat den etablierten Parteien viel an Glaubwürdigkeit und Zustimmung gekostet. Doch reicht ein Programm allein nicht aus, eine Partei zu prägen. Letztendlich sind es die Personen, welche das Programm umsetzen – oder vorgeben es zu tun. In dieser Hinsicht taumelt insbesondere die SPD an der Schwelle zur Lächerlichkeit. Die künftige Koalition mit der CDU in Hessen ist nur eines von vielen Beispielen. Während Altkanzler Schröder nach seiner Wahlniederlage 2005 niemals in ein Kabinett Merkel eingetreten wäre, konnte sein Nachnachnachfolger Schulz mit Müh‘ und Not davon abgehalten werden, nicht doch noch Minister unter Mutti zu werden.

Verrat an der Demokratie

Ein ähnlich schamloses Verhalten legte jüngst Bundesinnenministerin Nancy Faeser an den Tag. Als Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen bescherte sie ihrer Partei eine krachende Niederlage und verspielte damit ihre komplette Glaubwürdigkeit als führende Politikerin. Doch von persönlichen Konsequenzen keine Spur. Stattdessen bleibt sie auf ihrem Posten im Bundeskabinett als wäre nichts gewesen. Man stelle sich vor, ein arbeitender Bürger hätte sich ein so unverschämtes doppeltes Spiel erlaubt.

Der erste Platz im Wettbewerb um den dreistesten weil folgenlosen Gesichtsverlust geht aber eindeutig an Franziska Giffey. Die ehemalige Erste Bürgermeisterin Berlins macht zuerst Wahlkampf gegen die CDU, um nach absehbarer Niederlage auf den Rang einer Senatorin degradiert zu werden. Scheinbar hat die Frau ein Faible für ehrloses Verhalten.

All diese Personen haben eines gemeinsam: Sie kleben an der Macht und an ihren Posten. Das Streben nach Einfluss und Ministersesseln hat sie blind gemacht für Anstand und Moral. Vielleicht ist der Ausgang der Sondierungen in Hessen daher doch keine so große Überraschung.

Es wird nicht lange dauern, bis die extreme Rechte daraus macht: Der Ausgang der Wahl stand schon vorher fest. Die haben sich alle abgesprochen. Und leider muss man sagen: Sie haben das Publikum dafür. Der Vertrauensverlust in die Politik und die Demokratie ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass dieses verschwörerische Geraune die Stimme der Vernunft immer häufiger übertönt. Immer mehr Menschen treten beiseite, weil sie der rechten Hetze nichts entgegenzusetzen haben. Politiker wie Faeser, Giffey und Co. ziehen den aufrechten Demokraten den Boden unter den Füßen weg. Der Fall wird lang und schmerzhaft.

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Richtungsentscheidung

Lesedauer: 8 Minuten

Am 23. Oktober 2023 hatte die Hängepartie ein Ende: Sahra Wagenknecht und ihr Gefolge gaben die Gründung eines Vereins bekannt, aus dem Anfang kommenden Jahres eine neue Partei entstehen soll. Das enorme Medieninteresse dürfte nur von der Erleichterung der Linken getoppt worden sein. Die Einordnung der entstehenden Kraft war schnell geschehen: Es soll natürlich nach rechts gehen. Dass die Initiative von Menschen ausgeht, die teilweise sogar schon zu links waren, gilt heute wenig. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der neuen Partei gelingt, den politischen Begriff „links“ wieder mit Leben zu füllen.

Kurz bevor die wiederholten Ankündigungen zu nervig wurden, war es dann doch soweit: Die vielbeschworene Wagenknecht-Partei kommt. Trotz monatelanger Dauerpräsenz in den Medien schlug die Bekanntmachung des Vereins BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit e. V. medial hohe Wellen. Der Ansturm von Journalisten in der Bundespressekonferenz am 23. Oktober zeigte einerseits, wie hoch das Interesse an den Plänen von Sahra Wagenknecht und Anhang ist und andererseits, wie bitter nötig eine neue Partei in Deutschland offensichtlich ist.

Entscheidung mit Folgen

Auch wenn der Vereinsname etwas anderes vermuten lässt: Sahra Wagenknecht ist nicht allein. Neben ihr verließen neun weitere Bundestagsabgeordnete die Partei Die Linke. Zwei davon saßen bei der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht, weil sie zum Vorstand des neugegründeten Vereins gehören. Der Parteiaustritt blieb nicht ohne Folgen. Es brach eine regelrechte Kampagne gegen die Abtrünnigen los, die sie vehement zur Rückgabe ihrer Mandate auffordert, um Fraktionsstatus und Arbeitsplätze von Fraktionsmitarbeitern zu sichern. Vieles ist in dieser Debatte nachvollziehbar, anderes wiederum an den Haaren herbeigezogen.

Der Verein um Sahra Wagenknecht war kaum eine Woche bekanntgegeben, da ließ sich das sonst seriöse Meinungsforschungsinstitut INSA dazu hinreißen, die noch nicht gegründete Partei in ihre Umfragewerte aufzunehmen. Aus dem Stand schafft es das Bündnis demnach auf 12 Prozent. Besonders die AfD schmiert ab. Es ist offensichtlich, dass für die neue Partei großes Wählerpotenzial vorhanden ist. Trotzdem sollten solche Umfragewerte mit Vorsicht genossen werden. Auf der einen Seite sind sie auch bei etablierten Parteien stets eine Momentaufnahme, auf der anderen Seite wird hier über eine Partei spekuliert, die es noch gar nicht gibt. Der BSW ist die Vorstufe einer Partei, die voraussichtlich im Januar gegründet werden soll. Dann wird man sehen, wie groß die theoretische Zustimmung zur Partei ist.

Was heißt hier Rand?

Das Bündnis wirbt in einem ersten Grundsatzprogramm für wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, persönliche Freiheit und für Frieden und Diplomatie. Obwohl eine politische Einordnung dieser neuen Kraft zunächst auf der Hand liegt, tun sich die Medien gerade damit sichtlich schwer. Sie konstatieren der kommenden Partei eine linke Sozialpolitik, die sich aber auch auf konservative Werte beruft, insbesondere wenn es um Migration geht. Sahra Wagenknecht selbst schürt diese Schwierigkeiten, indem sie das neue Label „linkskonservativ“ in den Raum wirft.

Der Vorwurf der Rechtsoffenheit ließ, wie bei allen Anstrengungen von Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren, nicht lange auf sich warten. Dieses Mal wird ihr angekreidet, dass sie mit den eher konservativen Vorstellungen zur Einwanderungspolitik die potentiellen Wähler der AfD ansprechen will. Traut man der schon erwähnten INSA-Umfrage, gelingt ihr das auch ganz offensichtlich. Daraus jetzt aber den Vorwurf zu konstruieren, sie fische für diesen Erfolg am rechten Rand, ist absurd.

Die AfD erzielte in den letzten Monaten Umfragewerte von 20 Prozent oder mehr auf Bundesebene. Ein Fünftel der Befragten konnte sich also vorstellen, der Rechtsaußen-Partei die Stimme zu geben. Bei einer solchen Dimension an Zustimmung ist es hanebüchen, vom rechten Rand zu sprechen. Würde sich eine Partei tatsächlich nur auf einen der beiden politischen Ränder einschießen, würde sie maximal 2 Prozent erreichen. Das ist der Rand.

Mittlerweile haben aber weitaus mehr Menschen das Gefühl, dass außer der AfD keine andere Partei mehr ihre wirklichen Probleme anspricht. Natürlich lädt die AfD diesen Frust mit ihrer rechten Hetze auf, doch ist das keine Sackgasse. Wenn die Menschen das Gefühl haben, eine demokratische Alternative nimmt sich ihrer an und liefert dazu noch plausible Lösungsansätze, dann kehren sie der AfD den Rücken. Genau darauf weist auch die INSA-Umfrage hin.

Für immer rechts?

Doch es wie Perlen vor die Säue zu werfen: Seit ihrer umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit straffälligen Asylbewerben 2016 haftet an Sahra Wagenknecht das Label Rechts. Auch das Podium bei der Bundespressekonferenz konnte dem wenig entgegensetzen, dabei waren neben der einstigen Linken-Ikone mindestens zwei weitere Personen platziert, die unumstritten immer auf der linken Seite des politischen Spektrums gekämpft haben.

Mit dem deutlichen Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit, eine wohlstandssichernde Wirtschaftspolitik und eine auf Entspannung ausgerichtete Außenpolitik greift der neue Verein Ideen auf, welche sich die traditionelle Linke schon immer auf die Fahnen geschrieben hat. Als identitätsstiftendes Merkmal für die neue politische Kraft stürzen sich aber sogleich alle auf die Positionen zur Migration und geißeln diese als rechts.

Internationale Solidarität 2.0

Es ist richtig, dass der Gedanke der internationalen Solidarität schon immer einer der Grundpfeiler linker Strömungen war. Diese Überlegungen sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als der Nationalstaat einen weitaus höheren Status hatte als heute. Die Globalisierung und die weltweite Mobilität spielten damals noch kaum eine Rolle. Das ist heute anders. Die Welt ist enger zusammengewachsen und viele Grenzen sind – zum Glück – überwindbar geworden.

Wer heute von echter internationaler Solidarität spricht, meint etwas anderes als vor 150 Jahren. Der Ruf nach offenen Grenzen ist heute nicht mehr realitätstauglich. Wer sich im Jahre 2023 wirklich international solidarisch zeigen will, dem muss daran gelegen sein, die wirtschaftlichen und militärischen Verwerfungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten anzugehen und solche Nationen beim Wiederaufbau zu unterstützen. Mit dem Credo zum Abbau von Einreiseanreizen und der Beseitigung von Fluchtursachen vor Ort erweist sich die von Sahra Wagenknecht geplante Partei demnach als fortschrittlichere Kraft als ihre ärgsten Gegner im linken Spektrum.

Die Mischung macht‘s

Bildung und Aufbau der groß angekündigten Partei sollen überlegt und geordnet erfolgen. Spätestens zu den drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern in einem Jahr müssen aber entsprechende Landesverbände gegründet sein. Sahra Wagenknecht selbst hat angekündigt, dass sie Verschwörungstheoretiker und Extremisten von der Partei fernhalten will, um das auf Vernunft basierte Projekt nicht zu gefährden. Das wird vermutlich eine schwierige Aufgabe werden.

Das Podium bei der Bundespressekonferenz am 23. Oktober war jedenfalls ausschließlich mit Akademikern besetzt. Das ist grundsätzlich kein Problem, sollte aber nicht als Blaupause für die entstehende Partei dienen. Es ist elementar wichtig, dass keine Bewegung von oben entsteht, sondern eine authentische politische Kraft, die nicht nur über die Benachteiligten in der Gesellschaft spricht, sondern diese aktiv zu Wort kommen lässt.

Es gibt im Land sicher genügend Gestalten am linken Rand, die nur darauf gewartet haben, dass eine solche Partei entsteht, um dadurch ihre linken Ideologien zu verwirklichen. Auch ideologiegetriebene Politiker sind für eine Partei wichtig, sie dürfen aber nicht die Überhand gewinnen. Bestes Negativbeispiel dafür ist die SPD. Einst eine Partei aus Arbeitern, entwickelte sie sich zunächst zu einer Partei für die Arbeiter und ist heute nichts weiter als ein links angehauchter Verein aus Akademikern, die den Bezug zu den Wählern schon lange verloren haben. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre sprechen hier Bände.

Das beste Mittel gegen diese politische Abgehobenheit ist die garantierte Einbindung von Menschen von der Basis. Es reicht nicht aus, nur über Menschen mit geringem Einkommen zu sprechen oder darüber zu diskutieren, wie man dem Pflegepersonal bessere Arbeitsbedingungen verschafft. Ebensolche Persönlichkeiten müssen in einer neuen Partei repräsentiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sie in wenigen Jahren ebenfalls zu den Etablierten zählt und als Teil der Elite wahrgenommen wird. Profitieren würde davon abermals die Rechte.


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