Die Schwerpunktsetzer

Lesedauer: 6 Minuten

In Deutschland gilt die Meinungsfreiheit. Jeder kann das sagen, was er will. Aber diese Vielfalt an Meinungen wird nicht immer adäquat repräsentiert. Von einseitiger Berichterstattung und einer Verengung des zulässigen Meinungskorridors ist die Rede. Besonders häufig betroffen sind Themen, die sich um soziale Gerechtigkeit, Diplomatie und Frieden drehen. Das ist angesichts einer konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Opposition nicht verwunderlich.

Es rumort in der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden oder mit ihren Problemen auf taube Ohren zu stoßen. Seit Jahren gilt es als chic, wenn man von einem Abbau der Meinungsfreiheit, einer Einschränkung der freien Rede oder sogar von Diktatur spricht. In Zeiten von Pegida und Querdenkern hatten diese zugegeben sehr vernehmbaren Vorwürfe Hochkonjunktur.

Eine Republik diskutiert

Wir leben nicht in einer Diktatur. Es gibt in diesem Land freie Wahlen, Machtwechsel sind jederzeit denkbar. Und es gibt zu vielen Themen lebendige Debatten. Wenn darüber diskutiert wird, wie künftig mit Menschen umgegangen werden soll, die containern gehen, dann bewegt das die Menschen. Es geht nämlich um weit mehr als einen möglichen Hausfriedensbruch und mögliche Eigentumsdelikte. Es geht um die grundsätzliche Frage, was mit Lebensmitteln geschieht, die nicht den Schönheitsidealen aus der Werbung entsprechen oder die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist ein Thema, das alle in irgendeiner Art und Weise betrifft.

Ähnliches gilt bei der Freigabe von Genusscannabis. Auch wenn hier nicht alle Bürger unmittelbar betroffen sind, haben die meisten dazu eine Meinung. Über diese wird dann munter diskutiert. Das Thema macht Schlagzeilen, füllt ganze Seiten und landet auf den Titelseiten von politischen Magazinen. Man nähert sich einem Ja oder Nein, die Meinungen gehen zwangsläufig weiter auseinander als beim Containern.

Für heftige Debatten sorgte auch das Selbstbestimmungsgesetz, das unter anderem die Änderung des Geschlechtseintrags im Ausweis vereinfacht. Vielen im Land ging diese Art der Liberalisierung zu weit und sie taten laut ihre Meinung kund. Andere Kreise wiederum hielten entschieden dagegen und warfen der Gegenseite Homo- und Transphobie vor. Sie taten das in einer Weise, welche die Realität der Debatte nicht wiedergab. Viel zu laut waren dafür die Stimmen aus den Reihen der Kritiker.

Kein politischer Rückhalt

Als es um das Sondervermögen für die Bundeswehr und Waffenlieferungen an die Ukraine ging, war das lange Zeit anders. Hier gelang es den Befürwortern, abweichende Meinungen mit teilweise absurden Vorwürfen niederzubrüllen und die wahrnehmbare Kritik an dem Vorhaben möglichst kleinzuhalten. Dabei waren nicht wenige Menschen im Land völlig anderer Meinung. Der Unterschied zwischen den oberen und dem unteren Beispiel: Beim Thema Aufrüstung hatten die Skeptiker eine viel schwächere politische Repräsentanz als bei der Cannabislegalisierung und dem Selbstbestimmungsgesetz.

Denn geht es um sicherheitspolitische Ausgaben und um Aufrüstung, dann haben konservative und rechte Parteien grundsätzlich kein großes Problem damit. Das ist in der aktuellen Themensetzung deutlich zu spüren. Denn ein Rechtsruck in der Politik ist nicht von der Hand zu weisen. Jahre der AfD-Oppositionsführung haben diesem Land nicht gutgetan. Wie selbstverständlich spricht man heute über mehr Geld für Waffen und vernachlässigt dafür andere wichtige innenpolitische Themen.

Auch wenn sich die extreme Rechte in diesem Land häufig gegen eine militärische Unterstützung des Kriegs in der Ukraine positioniert, macht sie das nicht automatisch zu Pazifisten. Sie können es schlicht nicht ertragen, dass ihre Brüder im Geiste eins auf die Mütze bekommen. Das ist Selbstgerechtigkeit und keine Friedensliebe.

Klare Themensetzung

Die aktuelle Bundesregierung macht vieles falsch. Immer wieder belegt sie ihre völlige Inkompetenz und trifft fatale politische Entscheidungen. Der Widerspruch wird dann besonders laut, wenn es um die Rechte von Transmenschen geht, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutiert wird oder die Legalisierung von Cannabis ins Haus steht. Droht ein Zusammenstreichen der Kindergrundsicherung, begeben sich tagtäglich zig Geringverdiener, Arbeitslose und Rentner auf Pfandflaschensuche oder erfrieren jeden Winter unzählige Obdachlose in deutschen Großstädten, flammt eine kurze Empörung darüber auf, die sogleich wieder abebbt. Das ist die logische Folge einer wirtschaftsliberal und konservativ geprägten Opposition und Zeugnis einer grotesk schwachen Linken.

Eine echte linke Opposition gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr. Die Debatten über Pfandflaschen, Obdachlose und arme Kinder werden nur am Rande geführt und sind sehr viel leiser als die Rufe nach Kriegstüchtigkeit und börsendominierter Rente. Soziale Gerechtigkeit verkommt immer mehr zum Nice-to-have.

Zeit für was Neues

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien tritt glaubwürdig für Frieden und soziale Gerechtigkeit ein. Die SPD macht gelegentlich Ausflüge in die linke Ecke und der sozialpolitische Flügel der Grünen ist nichts weiter als eine Alibiveranstaltung dieser kriegsbesoffenen Partei. Lange hat sich Die Linke für diese Themen starkgemacht, aber nach Jahren der politischen Selbstverstümmelung nimmt diesen Verein heute niemand mehr ernst.

Stattdessen feiert die Partei den Austritt von Sahra Wagenknecht als Befreiungsschlag – und merkt nicht, wo die Reise hinführen wird. Stolz verkündet die Parteiführung auf verschiedenen Kanälen, dass es Parteieintritte in großer Zahl gab, seitdem sich die unbeugsame Linksrechte einem neuen Projekt zugewandt hat. Scheinbar ist es den führenden Köpfen der Linken mittlerweile egal, wen sie sich in die Partei holen. Es wird nicht lange dauern, bis von der einstigen Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden nichts weiter übrigbleibt als ein verlängerter Arm der Grünen. Die wenigen verbliebenen Linken in der Partei werden sich noch umschauen.

Im Grunde haben die linksgerichteten Parteien in diesem Land zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen endlich zur Vernunft und lassen eine ausgewogene und lebendige Debatte zu bestimmten Themen wieder zu oder sie können dabei zusehen, wie sich in Deutschland eine neue politische Kraft breitmacht, die ihnen Wähler absaugt und Regierungsbildungen in Zukunft noch schwerer macht.

Potenzial für eine solche neue Kraft gibt es allemal. Denn es stimmt, was die demokratischen Parteien über die AfD sagen: Die extreme Rechte hat keinen Plan für dieses Land, erst recht nicht, wenn es um Soziales und Gerechtigkeit geht. Sie selbst haben es aber auch nicht. Es liegt auf der Hand, was passiert, wenn eine Partei entsteht, die genau auf diese offenen Fragen plausible Antworten liefert…


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Weniger Demokratie auf Raten

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Deutschland verroht. Die Kultur der sachlichen Diskussion ist vom Aussterben bedroht. Immer mehr gewöhnen wir uns an eine gesellschaftliche und politische Polarisierung und übersehen, was wir dabei opfern. Gesprochen wird von eingeschränkter Meinungsfreiheit, Demokratieabbau und Diktatur. Währenddessen macht sich eine Stimmung der moralischen Überheblichkeit breit, die Widerspruch nur in kleinen Dosen duldet und jeden aus dem Diskurs ausschließt, der zu sehr vom vorherrschenden Narrativ abweicht. Immer klarer wird, dass das Ende einer Demokratie nicht zwangsläufig eine gewaltsame Diktatur sein muss.

Vortrag mit Nachwehen

Vergangenen Monat hat die ehemalige ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz einen Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen gehalten. Thema war das Verhältnis zu Russland, insbesondere angesichts des Kriegs in der Ukraine. Die Zeitungen waren tagelang voll davon. Auch heute wirkt der Auftritt der Russlandexpertin in Reutlingen noch nach. Wie konnte es dazu kommen?

In ihrem Vortrag warb Krone-Schmalz dafür, den Dialog mit Russland zu suchen, um ein Ende des Kriegs herbeizuführen. Sie plädierte außerdem für Sicherheitsgarantien im Interesse Russlands. Die Situation in der Ukraine sei auch deshalb eskaliert, weil man einen NATO-Beitritt des souveränen Staats nicht klar zurückgewiesen habe. Die Thesen von Frau Krone-Schmalz waren zweifellos provokativ. Sie boten aber auch ausreichend Stoff für eine kontroverse demokratische Debatte zum Thema.

Shitstorm mit Methode

Doch genau diese Debatte blieb aus. Stattdessen sah sich Gabriele Krone-Schmalz einer vernichtenden Kritik ausgesetzt, die jede sachliche Diskussion augenblicklich abwürgte. Schon vor ihrem Auftritt in Reutlingen war die 73-jährige eine umstrittene Persönlichkeit. Die Vehemenz der Reaktionen auf ihre jüngsten Ausführungen sprengten aber endgültig den Rahmen des Anständigen. Nicht nur Gabriele Krone-Schmalz wurde öffentlich für ihre Ansichten quasi geschlachtet, auch gegen die Volkshochschule Reutlingen entbrannte ein regelrechter Shitstorm. Andere Institutionen werden sich künftig sehr gut überlegen, welche Gäste sie einladen werden und wie weit sie vom vorherrschenden Narrativ abweichen werden.

Die Verärgerung über den Vortrag in Reutlingen weckte bei vielen ungute Erinnerungen ans Frühjahr 2021. Damals sprach sich ein Künstlerkollektiv auf satirische Weise gegen einen weiteren Lockdown zur Bekämpfung der Pandemie aus. Die Aktion #allesdichtmachen fiel vielen der 50 Künstlerinnen und Künstler böse auf die Füße. Angesichts des enormen Drucks aus Forschung, Politik und Teilen der Gesellschaft ruderten manche erschrocken zurück. Mit einem solch vernichtenden Urteil hatte keiner von ihnen gerechnet. So geschmacklos einige die Aktion auch fanden, der Zerstörungswille der Empörung darüber stand in keinem Verhältnis dazu.

Eine demokratische Katastrophe

In den letzten Jahren wurde viel und oft darüber gesprochen, was man in Deutschland noch sagen dürfte, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Zur Diskussion lud man meist Vertreter der entgegengesetzten Pole. Während die einen die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit in Deutschland über den grünen Klee lobten, ließen sich andere über diktatorische Verhältnisse á la DDR aus. Eine vernünftige Debatte fand auch hier viel zu selten statt.

Tatsächlich haben inzwischen rund 50 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger die ernsthafte Sorge, sie könnten nicht mehr all das sagen, was sie wollten, ohne deswegen in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen. Diese Angst gilt explizit auch für Äußerungen, die in einem funktionierenden Rechtsstaat eindeutig von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Zusammen mit einer sinkenden Beteiligung an Wahlen, besonders auf Landes- und Kommunalebene, sollten solche Tendenzen jeden echten Demokraten in blankes Entsetzen stürzen.

Romantisches Diktaturverständnis

Es hilft dabei wenig, wenn man reflexartig von einer Diktatur redet, weil die Meinungsfreiheit in Zweifel steht. Im Sommer 2019 stellte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Ein AfD-Anhänger meldete sich und warf der Kanzlerin vor, das Land in eine Diktatur umgebaut zu haben, in der er nicht mehr das sagen könnte, was er gerne wollte. Merkel entgegnete ihm, dass sein Auftritt bester Beleg dafür sei, dass wir eben nicht in einer Diktatur lebten.

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Angela Merkel im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern: Wir leben nicht in einer Diktatur.

Sie hatte damit vollkommen recht. Kein Mensch wird in Deutschland dafür eingesperrt, weil er seine Meinung sagt. Das sind Methoden, die wir aus Ländern wie Russland oder China kennen. Eine Diktatur existiert in Deutschland formal nicht. Das Problem ist, dass viele Menschen eine viel zu naive Vorstellung davon haben, was eine Diktatur ist und wie sie entsteht.

In nahezu grenzenloser moralischer Überlegenheit warten manche heutzutage auf eine Partei oder auf eine Bewegung, die sie aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen bekämpfen können. In der AfD haben viele dieser Moralisten Sinn und Grund für diesen Kampf erkannt. Und tatsächlich ist die AfD eine Partei, die mit Verfassungstreue und Demokratie wenig am Hut hat. Sie ist aber weit davon entfernt, einen echten Umsturz herbeizuführen oder dem Land eine Diktatur überzustülpen. Wer sich ausschließlich auf diese Kämpfer verlässt, die das Problem exklusiv außerhalb eines bestimmten Spektrums sehen, der wird früher oder später in ebendieser unfreien Gesellschafft erwachen, die er immer beseitigt sehen wollte.

Die halbdemokratische Gesellschaft

Der größte Feind der Demokratie ist nämlich nicht die Diktatur. Es ist die Ignoranz und die Gleichgültigkeit, mit der sich immer mehr Menschen von einer demokratischen Gesellschaft abwenden. Die Geschichte zeigt genügend Beispiele dafür, wie eine Diktatur gegen den Willen der Bevölkerung und manchmal auch gewaltsam eingeführt wurde. Die DDR war ein System, das keiner wollte, aber in dem viele sich notgedrungen eingerichtet hatten. Der Machtübernahme der Nazis gingen zwar demokratische Wahlen voraus, der letztendliche Umsturz gelang aber nur durch den exzessiven Einsatz von Gewalt, der sich in den Folgejahren weiter steigern sollte.

Den Todesstoß versetzten Weimar allerdings die vielen Menschen, die mit Sicherheit keine diktatorische Gewaltherrschaft unter Hitler im Sinn hatten, den Glauben in die Demokratie aber lange aufgegeben hatten. Auch heute befinden wir uns in einer Situation, in der immer weniger Menschen, der Demokratie zutrauen, mit den Krisen unserer Zeit fertigzuwerden. Fast die Hälfte der Deutschen glaubt nicht mehr an die Meinungsfreiheit, einen Grundpfeiler jeder Demokratie.

Ohne Sinn und Verstand

Wenn Menschen den Leitspruch „Nie wieder“ hören, dann denken sie daran, sich Naziaufmärschen entgegenzustellen und Zivilcourage zu beweisen, wenn Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund drangsaliert werden. Das ist mutig und richtig. Dieses Engagement leistet einen wichtigen Beitrag zu einem gesunden Rechtsstaat. Trotzdem werden diese Menschen nicht so schnell das Zepter übernehmen. Eine Gewaltherrschaft wie im Dritten Reich ist heute eine Dystopie. Sie war aber möglich – und dafür gab es Gründe. Die Methoden der Nazis von damals funktionieren heute nicht mehr. Dafür waren ihre Taten zu grauenvoll. Die Mechanismen, wie es zu einer unfreien Gesellschaft kommen kann, bestehen aber weiterhin.

In der krisengeschüttelten Zeit, in der wir leben, ist die Angst unser ständiger Begleiter. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Besonders die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig Verlass auf den gesunden Menschenverstand ist, wenn eine existenzbedrohende Angst um sich greift. Die Hamsterkäufe im ersten Pandemiejahr, die massenhaften Aufmärsche selbsternannter Querdenker und die gefühlte Impfpflicht sind sicher keine Meisterleistungen menschlicher Intelligenz.

Im Laufe des Jahres 2021 ist die Stimmung bedenklich gekippt. Die ersten Dosen der neuen Impfstoffe waren kaum an ein paar ausgewählte Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen verabreicht, da kamen manche Politiker schon mit Privilegien für Geimpfte und Sanktionen für Ungeimpfte um die Ecke. Das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung wurde auch dann konsequent infrage gestellt, als immer klarer wurde, dass die viel angepriesenen Wundermittel Grenzen in ihrer Wirkung und Effektivität hatten.

Eine neue Superwaffe

Für viele Ungeimpfte war der Herbst 2021 eine schwere Zeit. Sie waren durch 2G nicht nur von vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, sie spürten eine latente Feindseligkeit, die ihnen aus dem Rest der Bevölkerung entgegenschlug. Forscher, Politiker und Prominente schürten eine Stimmung, die bei Betroffenen das Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat. Spätestens seitdem den Ungeimpften die Verantwortung für überfüllte Intensivstationen zugeschoben werden sollte, ist klar, dass die Demokratie nicht naturgegeben ist.

Möglich ist das, weil sich viele antidemokratische Strömungen heute eine neue Superwaffe zu eigen gemacht haben: die Moral. Lange in der Politik verpönt und belächelt, läuft sie in diesem Geschäft inzwischen zur neuen Höchstform auf. Gegen Widerspruch jedweder Form scheint sie gefeit. Jeder, der sich ihr widersetzt, steht sogleich im Verdacht, etwas Böses im Schilde zu führen. Ehe man sich versieht, ist man AfD-nah, ein Covidiot oder ein Kremlpropagandist. Die Moralisierung der Debatte teilt die Lager in Gut und Schlecht. Es ist absolut menschlich, dass man auf der guten Seite stehen möchte. Den Mut, die moralische Seite zu verlassen und für sich in Anspruch zu nehmen, eben nicht zu den Bösen zu gehören, haben nicht viele. Sie bleiben lieber stumm. Zu bequem ist es doch, auf der richtigen Seite zu stehen. Unsere Vorfahren werden das ähnlich gesehen haben. Demokratisch ist das nicht.

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Gabriele Krone-Schmalz an der VHS Reutlingen


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Das Extrem ist bequem

Beitragsbild: MarkusMoerth, Pixabay.

Lesedauer: 10 Minuten

Ich kenne Diktaturen nur aus dem Geschichtsbuch. Ich wurde nach dem Mauerfall und nach der deutschen Einheit geboren. Die DDR habe ich weder aktiv noch passiv erlebt. Die Nazizeit noch viel weniger. Ich bin froh, in einem freiheitlichen, demokratischen Staat aufgewachsen zu sein. Groß geworden bin ich in Baden-Württemberg. Neben Bayern vielleicht das Bundesland, das am wenigsten Grund zum Klagen hat. Doch nicht jeder ist so überzeugt von der Überlegenheit einer rechtsstaatlichen Ordnung wie ich es bin. Manche Menschen sehnen sich gar nach einer Diktatur. Ich kann es nicht ertragen.

Protestwähler wählen blau

Die AfD befindet sich weiter im Umfragehoch. Darin sind sich die meisten Meinungsforschungsinstitute einig. Sie sehen die Partei zwischen 13 und 15 Prozent. In einigen Umfragen überholen die Rechtspopulisten damit erneut die Sozialdemokraten. Doch spätestens seit man Björn Höcke, den Fraktionsvorsitzenden der Thüringer AfD, rechtmäßig als „Faschisten“ bezeichnen darf, ist völlig klar: Wer die AfD wählt, der wählt eine Partei, die mindestens in Teilen rechtsextrem ist. Das Urteil der Meininger Richter kann man sehen, wie man will. Offensichtlich ist allerdings, dass es für diesen Urteilsspruch Gründe gibt. Wer von „Bevölkerungsaustausch“ oder einem „Mahnmal der Schande“ redet, der kann nicht in der Mitte einer angeblich rechtsstaatlichen Partei stehen, wie es der scheidende AfD-Parteichef Gauland kürzlich formuliert hat.

Doch nicht nur Höcke sorgt mit seinen Äußerungen seit Jahren für Wirbel. Der AfD-Sprech von linksgrün-versifften Altparteien, von Schießbefehlen und von nutzlosen Kopftuchmädchen vergiftet die politische Debatte schon lange wie ein wucherndes Geschwür.

Noch bis vor kurzem war der Begriff des „Protestwählers“ geläufig. Diese Menschen wählten die AfD angeblich, um der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Gebracht hat es ihnen nicht viel: die gleiche Regierung fand in Neuauflage für eine weitere Legislatur zusammen. Die erschreckend hohen Wahlergebnisse der AfD in den ostdeutschen Bundesländern, ließ viele Menschen allerdings am Begriff der Protestwähler zweifeln. War es nicht viel mehr so, dass die Menschen die AfD nicht trotz ihrer Nähe zum rechten Rand wählten, sondern gerade wegen ihrer Nähe zum Rechtsextremismus?

Faschismus 2.0

Und was heißt überhaupt Rechtsextremismus? Viele AfD-Sympathisanten verdrehen genervt die Augen, wenn sie mit Phrasen wie „Wehret den Anfängen“ oder „aus der Geschichte lernen“ konfrontiert werden. Intuitiv verbitten sie sich jedweden Vergleich mit den Faschisten aus der NS-Zeit. Und mit einem haben sie dabei recht: Faschismus funktioniert heute tatsächlich anders als er noch vor 80 Jahren funktionierte.

Zum einen haben wir heute eine wesentlich stärkere und wehrhaftere Demokratie als das in den 1920er-Jahren der Fall war. Die Demokratie wird heute nach wie vor von der Mehrheit der Bürger gestützt. Zu Weimarer Zeiten war das anders. Die wenigen echten Demokraten wurden zwischen linksaußen mit ihren kommunistischen Träumereien und von rechtsaußen mit ihren Führer-Fantasien zerrieben. Der Abschied vom Kaiserreich fiel vielen schwer. Hier hat man aus der Geschichte tatsächlich gelernt: Die Fünf-Prozent – Klausel macht es extremistischen Strömungen heute schwerer, im Parlament Fuß zu fassen als es vor rund 100 Jahren der Fall war.

Und natürlich operieren die AfDler nicht so wie die Nazis unter Hitler. Selbstverständlich gehen sie nicht gleich von 0 auf 100. Sie haben heute nämlich einen folgenschweren Nachteil: Ihre Worte werden stets an denen der damaligen Nazis gemessen. Gerade weil es in der deutschen Geschichte schon einmal eine Entfesselung des Faschismus gab, müssen sie heute wesentlich behutsamer und subtiler vorgehen. Und selbst Hitler ging nicht gleich von 0 auf 100. Vielleicht erst mal auf 70. Und die AfD geht heute vielleicht auf 50.

Doch selbst das bewahrt sie selten vor der mächtigen Nazikeule, die sie gerne auch für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Den Nachteil, dass es den Faschismus in Deutschland schon einmal gab, münzen die Rechtspopulisten dabei geschickt in einen Vorteil um. Frei nach der Logik „Wenn wir uns nicht so wild aufführen, wie die von damals, kann uns keiner was.“ Stoßen sie auf Widerstand, schwingen sie selbst die Nazikeule und stilisieren sich zu Opfern. Weiterhin gilt, was Brecht einst schrieb: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

30 Jahre für die Tonne?

Vor kurzem jährte sich der Mauerfall zum 30. Mal. Zeit für eine schiere Flutwelle an Dokus und Polit-Talks zu genau diesem Thema. Diskutiert wird bevorzugt, ob Ossis Bürger zweiter Klasse sind. Politiker überschütten sich förmlich mit Vorwürfen, was damals alles schiefging und wie es hätte besser laufen können. Kurzum, an diesen Beiträgen führt kein Weg vorbei.

Auch das rbb trug dem Jubiläum Rechnung und schaute sich die Lage 30 Jahre nach dem Fall der Mauer etwas genauer an. In dem Format „Wir müssen reden!“ vom 7. November kamen allerdings auch Bürger zu Wort, die sich die DDR zurückwünschten. Einer von ihnen meinte sogar, man könne die letzten 30 Jahre in die Tonne treten.

Über Jahrzehnte trennte die Mauer Ost und West. Trotzdem sehnen sich manche nach dieser Zeit zurück.
Bild: Noir, Berlinermauer, CC BY-SA 3.0.

Das ist schon mehr als gesunde Ostalgie. Generell ist der Umgang mit der DDR ein ganz anderer als mit der deutschen NS-Vergangenheit. Dabei waren doch beide Systeme Diktaturen. Trotzdem wird man für Mauerträume nur belächelt. Oftmals werden sie sogar toleriert. Solche Meinungen sind immerhin kein Einzelfall. Weder bei Ossis noch bei Wessis. Gerade in Westdeutschland gibt es eine Menge Leute, die die Mauer heute nicht zum Einsturz bringen würden, sondern am liebsten noch einmal drei Steine obendrauf legen würden.

Doch woher kommt dieser grundlegend andere Umgang mit der DDR? Nazi-Deutschland ist und bleibt das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Sehnt man sich nach dieser Zeit zurück, ist man eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Das ist weiterhin Konsens. Eine spezifische Nostalgie gegenüber dieser Zeit gibt es nicht. Bei der DDR ist das nicht so leicht zu unterdrücken. Immerhin existierte dieser Staat ganze 40 Jahre. Zeit genug, in dieses System hineingeboren zu werden und auch darin zu sterben. Vor allen Dingen aber Zeit genug, mit diesem System zu leben.

Das richtige Leben im falschen?

Es verbietet sich also fast automatisch, alles an der DDR schlechtzureden. Viele Menschen haben einen Großteil ihres Lebens darin verbracht. Um sie nicht komplett abspenstig zu machen, braucht es ein Phänomen wie das der Ostalgie. Die Ampelmännchen und der Sandmann geben ihnen zumindest zeitweise das Gefühl, nicht vollständig in einer Lüge gelebt zu haben.

Darum ist auch der Begriff „Unrechtsstaat“ gegenüber der DDR so umstritten. Ein Unrechtsstaat fußt einzig und allein auf dem Unrecht. Er ist durch und durch schlecht. Dieses Argumentationsmuster mag bei einem Staat funktionieren, der ein Dutzend Jahre gehalten hat. Aber bei einem Staat, der mehrere Generationen hervorgebracht hat? Man kann so vielen Menschen und so vielen Generationen nicht glaubwürdig vorhalten, die meiste Zeit ihres Lebens falsch gelebt zu haben.

Von Sicherheit und Autobahn

Trotzdem war die DDR eine Diktatur. Eine ziemlich brutale sogar. Mauertote, Gesinnungshaft und Zwangsadoptionen waren die Regel. Und trotzdem gibt es Menschen, die selbst im Fernsehen öffentlich dazu stehen, dass sie sich die DDR zurückwünschen. Ihr Totschlagargument ist häufig die soziale Sicherheit. Eine Sicherheit, die sie in der Bundesrepublik so nie empfunden haben. Wie überzeugend dieses Argument ist, bleibt jedem selbst überlassen. Doch eine Frage bleibt: Reicht es aus, um eine Diktatur regelrecht zu glorifizieren?

Ich sage: Nein. Eine Diktatur ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch nicht von angeblichen sozialen Sicherungssystemen. Hier schließt sich übrigens auch der Kreis mit den AfD-Wählern. Wählen sie die AfD denn jetzt trotz oder wegen der rechtsextremen Tendenzen? Für mich ist klar: Trotz. Genau wie die Hardcore-Ostalgiker verteidigen sie ein System nicht wegen der Mauertoten oder wegen des rechtsextremen Personals, sondern trotz dieser Offensichtlichkeiten. Weniger gefährlich macht das solche Entwicklungen allerdings nicht.

Ich halte es sogar für gut möglich, dass viele derer, die sich die DDR zurücksehnen, der AfD ihre Stimme geben. Sie träumen von der Zeit einer linksextremen Diktatur und wählen gleichzeitig Rechtsextreme. Was zunächst wie vollständiger politischer Analphabetismus anmutet, ist auf den zweiten Blick doch nachvollziehbar. Das Vorzeichen des Extremismus ist wurschd, es zählt einzig und allein das Ergebnis. Diese Menschen wollen keine Diktatur, sie vermissen soziale Sicherheiten. Das Argument der sozialen Sicherheit hinkt allerdings mindestens genau so stark, wie die Aussage, Hitler hätte Autobahnen gebaut. Beide sind vom gleichen Schlag. Sie verschleiern, dass das negative in diesen Systemen eindeutig überwogen hat.

Das Konzept der schwierigen Antworten

Und trotzdem wenden sich immer mehr Menschen von der Demokratie ab. Sie verlangen nach einfachen Lösungen. Genau das kann ihnen die Demokratie aber nicht bieten. Eine Demokratie beruht immer auf Kompromissen. Es muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Am Ende steht eventuell eine Lösung. Aber die ist häufig schwierig und komplex.

Sich in einer Diktatur über Wasser zu halten, kann einfach sein. Viele ehemalige DDRler sind lebendiger Beweis dafür. Wer die Obrigkeit nicht hinterfragt und sich mit den Gegebenheiten arrangiert, konnte auch dort ein fast gutes Leben führen. In einer Demokratie geht das nicht. Wer 2005 alles auf Merkel setzte, steht heute praktisch mit leeren Händen da.

Die Demokratie steht also vorrangig für zähe Diskussionen und langwierige Verhandlungen. Wirklich recht kann man es in ihr keinem machen. Wenn die Mehrheit entscheidet, wird ein Teil immer der Unterlegene sein. Sie muss also Wege finden, über dieses Defizit hinwegzutrösten. Werden die Lebensbedingungen einer Diktatur als besser empfunden, dann läuft etwas gehörig schief. Kann eine Demokratie nichts mehr bieten, was die Lebensrealitäten einer Diktatur blass aussehen lässt, bleiben nur die schwierigen Antworten. Und der Mensch, sucht eben nach einfachen Antworten…

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