An der Realität vorbei

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Seit vielen Jahren ist eine Gruppe im Deutschen Bundestag hoffnungslos überrepräsentiert: die Akademiker. Abgeordnete, die zuvor als Arbeiter oder Angestellte tätig waren, werden im Parlament immer seltener. Doch selbst die Gelehrten unter den Abgeordneten arbeiten an einer Scheinwelt. Immer wieder kommen sie wegen erschlichener Doktortitel in die Schlagzeilen – zuletzt Ex-Familienministerin Franziska Giffey. Eine Repräsentanz der Bevölkerung außerhalb des Reichstagsgebäudes ist schon lange nicht mehr gegeben. Direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten könnten dieses Problem beheben.

Nach der erneuten Überprüfung ihrer Doktorarbeit zeichnet sich für Franziska Giffey ab, dass sie ihren Doktortitel verlieren wird. Um einer noch größeren öffentlichen Schmach zu entgehen, trat sie daher vor einigen Tagen von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurück. Das Ressort für Familie, Frauen, Senioren und Jugend übernimmt bis zur Bundestagswahl kommissarisch die amtierende Justizministerin Christine Lambrecht. Mit der freiwilligen Abgabe ihres Doktortitels versuchte sich die ehemalige Familienministerin noch vor einigen Monaten aus der Schusslinie zu ziehen. Auch auf eine Kandidatur als Parteivorsitzende verzichtete sie mit Blick auf die Plagiatsaffäre. Ganz schön viel Verzicht und ganz schön viel Reue, könnte man da meinen. Auf ihre Kandidatur als SPD-Spitzenkandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus möchte die falsche Doktorin aber nicht verzichten.

Ein Skandal nach dem anderen

Wieder einmal wurde eine hochrangige Politikerin der Täuschung und des Betrugs überführt. Und wieder einmal klebt sie an der Macht. Mit ihrem Rücktritt als Ministerin wenige Monate vor der Bundestagswahl kann Franziska Giffey da auch nicht mehr viel retten. Aus dem Bundestag kann die 43-jährige nicht ausscheiden, dem hat sie nie angehört. Und erneut kommt die Überführte aus den Reihen der regierungstragenden Parteien. Mit Franziska Giffey holt die SPD gegenüber der Union sogar etwas auf. Immerhin sind die letzten falschen Doktortitel allesamt der CDU oder der CSU anzulasten.

Aber schon lange beschränken sich die Betrügereien von Politikern nicht mehr auf akademische Titel. In den letzten Monaten reihte sich eine schamlose persönliche Bereicherung an die nächste. Da waren die dubiosen Beratertätigkeiten des Philipp Amthor, der plötzliche Gedächtnisverlust von Vizekanzler Olaf Scholz oder die Maskendeals um den früheren CSU-Abgeordneten Georg Nüßlein.

Ein Parlament mit vielen Defiziten

Wer sich im Bundestag auf die Suche nach ehrlichen und rechtschaffenen Abgeordneten begibt, der sieht einer immer größeren Herausforderung entgegen. Der Spruch „Die haben doch alle Dreck am Stecken“ wird durch alle diese aufgedeckten Skandale ein wenig lauter. Aber noch etwas fällt erneut bei der Plagiatsaffäre um Franziska Giffey auf: Beachtlich viele Abgeordnete tragen einen Doktortitel – zumindest noch. Offenbar gibt es im Bundestag eine deutliche Überrepräsentanz von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen. Fast drängt sich der Verdacht auf, man käme nur mit einem Universitätsabschluss ins Parlament. Und um besonders gut dazustehen, legen viele noch einen Doktor obendrauf. Ob der echt ist oder nicht – zweitrangig.

Aber nicht nur in Sachen Bildung wird der Bundestag seiner wichtigen Aufgabe, die Bevölkerung widerzuspiegeln, schon lange nicht mehr gerecht. Die Süddeutsche Zeitung hat die Besetzung des Bundestags auf mehrere Aspekte hin untersucht und kam in fast allen Bereichen zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Defizite zeigen sich am deutlichsten bei der Geschlechterverteilung, in den Alterskohorten, bei der Herkunft der Abgeordneten und nicht zuletzt auch bei Bildung und Beruf.

Mittelalt, weiß und männlich

So besteht der Bundestag mit aktuell 219 weiblichen Abgeordneten nicht einmal ganz zu einem Drittel aus Frauen. Das ist insofern problematisch, da sich der Anteil von Männern und Frauen in der Gesamtbevölkerung ungefähr die Waage hält. Überrepräsentiert im Bundestag ist auch die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren. Besonders jüngere Abgeordnete sucht man meist mit der Lupe.

Auch die Anzahl von Abgeordneten mit nicht-deutschen Wurzeln spiegeln bei weitem nicht die Realität wider. Besonders krass ist dabei die Diskrepanz bei Parlamentariern, die dem muslimischen Glauben angehören. Unter allen Abgeordneten finden sich gerade einmal zwei davon. Mit der Realität außerhalb des Plenarsaals hat das wenig zu tun.

Die neue Arbeiterpartei?

Dieser Trend der mangelnden Repräsentanz lässt sich schon lange beobachten. Bereits 2013 bemängelte der SPD-Politiker Rolf Mützenich, dass der Bundestag „fast vollständig ein Akademikerparlament“ geworden sei. Die meisten der Abgeordneten seien inzwischen Juristen. Arbeiter seien im Bundestag fast gar nicht mehr vertreten. Für eine Demokratie wird das auf Dauer zum Problem. Immerhin neigt ein Akademikerparlament dazu, Politik für Akademiker und Bessergebildete zu machen und nicht für Menschen, die einer einfachen Tätigkeit nachgehen und vielleicht über ein geringes Einkommen verfügen. Dieser Verdruss über die fehlende Interessensvertretung führt viele zur AfD. Und siehe da: Die meisten Wähler der AfD sind Arbeiter – also genau jene Gruppe, die im Bundestag so kläglich unterrepräsentiert ist.

Ist die AfD also die neue Arbeiterpartei? Momentan scheint sie das tatsächlich zu sein, auch wenn sie ganz sicher nicht deren Interessen vertritt. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt tatsächlich darin, die Menschen stärker in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Anderenfalls werden Berufspolitiker den Ruf nicht los, ständig nur gute Politik für sich selbst zu machen. Eine nicht ausreichende Kontrolle durch das Volk führt fast zwangsläufig zu einem latent zügellosen Machtstreben bei Mandatsträgern. Das mag für die Mehrheit der Abgeordneten nicht gelten. Trotzdem schlagen besonders die Ausreißer unter ihnen zu Buche.

Näher an der Bevölkerung

Haben die Menschen im Land die Möglichkeit, auf wichtige politische Weichenstellungen Einfluss zu nehmen, so erhöht das in jedem Fall die Identifikation mit dem Beschlossenen. Selbst diejenigen, die dagegen gestimmt haben, werden eher bereit dazu sein, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Ganz entscheidend ist dabei das Instrument des Volksbegehrens. Bei entsprechendem Quorum können die Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche direkt ins Parlament einstreuen. Die Abgeordneten wären dazu verpflichtet, sich mit dem Thema zu befassen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Belange der gesamten Bevölkerung in der Politik wieder Gehör finden.

Die Abgeordneten wiederum würden sich wieder eher wieder mit ihren Wählerinnen und Wählern verbunden fühlen. Mit ihren Programmen würden sie verstärkt versuchen, möglichst alle Wählerschichten anzusprechen. Denn nur zufriedene Wähler machen ihr Kreuz bei der nächsten Wahl an der gleichen Stelle. Ermutigt durch die stärkeren Einflussmöglichkeiten würden sich außerdem Berufsgruppen zur Wahl aufstellen lassen, die bislang im Bundestag wenig bis kaum repräsentiert sind. So würde wieder ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Bundestag zustandekommen, welches dem Parlament in den letzten Jahren deutlich abhandengekommen ist.


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Schweinereien

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Der Skandal des Fleischproduzenten Tönnies hat viele Menschen wachgerüttelt: Fleisch ist in Deutschland und anderswo viel zu billig. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) möchte diese Erkenntnis nutzen, um die Zustände in den Betrieben deutlich zu verbessern. Von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhält sie dabei durchweg positive Signale. Auch andere Branchen sind bereit nachzuziehen.

Viel zu oft braucht es einen tragischen Unfall, ein Verbrechen oder eine ausgewachsene Krise, damit Missstände ans Licht kommen. So ist es jüngst auch in verschiedenen deutschen Fleischereibetrieben gewesen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse und die Unterbringung der Arbeitskräfte waren ein sperrangelweit geöffnetes Tor für das Corona-Virus. Die bisherige Bilanz: Tausende Mitarbeiter aus mehreren Fleischereibetrieben haben sich mit dem gefährlichen Virus infiziert. Von Todesfällen in diesem Zusammenhang war bisher zum Glück nichts zu hören. Gleichwohl waren viele von den Zuständen in den Schlachtbetrieben schockiert. Immer lauter wird der Ruf nach drastischen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, die oft aus Ungarn oder Rumänien kommen.

Skandal mit Folgen

Der Tönnies-Skandal ist inzwischen seit mehreren Wochen publik. Viele sind nach dem ersten Entsetzen wieder zur Ruhe gekommen. Nun ist die Zeit, das Problem rational anzupacken. Und genau das soll jetzt geschehen: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, dass der Fleischmarkt von Grund auf reformiert werden müsste. Der erste und vielleicht wichtigste Ansatzpunkt dabei ist der Fleischpreis. Die Ministerin ist sich sicher, dass sich an den unhaltbaren Zuständen in den Betrieben niemals etwas ändern wird, wenn Fleisch weiter zu lachhaften Discounterpreisen verscherbelt wird.

Weil sie als volksnahe Regierungsvertreterin immer auch die Sicht der Verbraucher im Blick hat, präsentierte sie erst kürzlich eine Idee, die Arbeiterwohl und Verbraucherbedürfnisse unter einen Hut bringt. Stolz verkündete sie am Montagabend die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch. Dieser Preis wird für verschiedene Tiere pro Kilogramm Fleisch festgelegt. Die Verbraucher haben dann allerdings die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis mehr Geld für das gekaufte Fleisch auszugeben. Die Ministerin verwies dabei auf das von ihr geplante Tierwohllabel, das ebenso auf Freiwilligkeit beruhte, allerdings schon heute erhebliche Verbesserungen in deutschen Ställen herbeigeführt hätte.

Die CDU-Politikerin nutzt bei ihrem Vorhaben die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung. So sprachen sich seit Bekanntwerden des Skandals bei Tönnies immer wieder Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass sie bereit wären, deutlich mehr für Fleisch zu bezahlen. In den letzten Wochen fanden sich sogar zahlreiche Verbraucherverbände zusammen, die die Pläne der Ministerin vorantreiben. Die Allianz für Verbraucher mit Gewissen (AVG) erklärte, es wäre an der Zeit, dass alle Verbraucher ihr Konsum- und Einkaufverhalten dringend überdenken. Es könnte nicht sein, dass tumultartige Szenen entstünden, wenn die Packung Paprikalyoner für 89 Cent im Angebot wäre. Man sähe definitiv den Verbraucher in der Pflicht, damit staatliche Bemühungen nicht gegen die Wand führen wie seinerzeit mit den Milchpreisen.

Zeit zum Umdenken

Das Vorhaben der Landwirtschaftsministerin und der Verbraucherverbände stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele Verbraucher sind ebenfalls der Meinung, es müsse sich dringend etwas ändern. Die anstehende Absenkung der Mehrwertsteuer ermutigt besonders viele Bürgerinnen und Bürger dazu, für Fleisch in Zukunft tiefer in die Tasche zu greifen. Doch trotz dieser steuerlichen Begünstigung müssen die meisten Kundinnen und Kunden Abstriche machen. Die alleinerziehende Friseurmeisterin und Kassiererin Fabienne R. stört das wenig. Sie erklärt: „Es ist mir unglaublich wichtig, meinen beiden Kindern die Werte zu vermitteln, auf die es im Leben ankommt. Ich möchte ihnen nichts auftischen, wofür andere auf unmenschliche Art geknechtet wurden. Deswegen zahle ich gerne etwas mehr, auch wenn das bedeutet, dass ich künftig ein bisschen länger arbeiten muss. Ich bin sehr froh, dass ich gerade die Zusage von der Wäscherei erhalten habe.“

Auch der pensionierte Kfz-Mechaniker Werner S. ist bereit, für einen höheren Fleischpreis stärker auf die Tube zu drücken. Erst neulich hat er seinen persönlichen Rekord von 65 Pfandflaschen an einem Nachmittag gebrochen. Ebenso viel Solidarität zeigt der 53-jährige Jürgen K. Der Hartz-IV – Empfänger hat sich dazu bereit erklärt, ab sofort auf sein Mittagessen zu verzichten, um sich abends ein schönes Kotelett zu fairen Bedingungen leisten zu können. Die Mittagszeit will er stattdessen dazu nutzen, noch mehr Bewerbungen zu schreiben.

Solidarität mit Wirkung

Die Fleischereibetriebe freuen sich über das Engagement ihrer Kundschaft. „Als Familienbetrieb wissen wir das Entgegenkommen der Verbraucher sehr zu schätzen. Durch die Mehreinnahmen können wir endlich unsere Mitarbeiter angemessen entlohnen“, erklärte am Nachmittag eine Sprecherin von Tönnies. Der Betrieb kündigte weitreichende Verbesserungen bei der Unterbringung seiner Arbeitskräfte an. So sollen die jetzigen Anlagen kernsaniert werden. Eine dauerhafte Versorgung mit Strom und Internet ist ebenso geplant. Außerdem soll den Arbeitern künftig den ganzen Tag Warmwasser zur Verfügung stehen, und nicht nur morgens und abends. „Wenn die gestiegenen Einnahmen das jetzige Level halten, dann können wir für die Zukunft sogar über Einzelunterbringungen der Arbeitskräfte nachdenken,“ fährt die Unternehmenssprecherin fort.

Den vielversprechenden Ankündigungen schlossen sich weitere Betriebe der Branche an. In einem knappen Pressestatement von Wiesenhof hieß es demnach: „Von den höheren Ausgaben für Fleisch profitiert nicht nur der Verbraucher. Auch wir als Produzent können für bessere Haltungsbedingungen sorgen. Wir reden hier immerhin von ganzen zwei DINA4-Blättern mehr Platz – für Vieh und Mitarbeiter wohlgemerkt.“

Geben und Nehmen

An den bemerkenswerten Entwicklungen in der Fleischbranche nehmen sich indes auch andere Bereiche ein Beispiel. Die bisher als Billigfluglinie verschriene Gesellschaft ryanair möchte es ihren Passagieren ab sofort ebenfalls ermöglichen, durch einen freiwilligen Aufpreis die Situation des Kabinenpersonals erheblich zu verbessern. ryanair verlangte bisher teilweise weniger als 30 Euro pro Ticket. Eine angemessene Entlohnung für Mitarbeiter war der Gesellschaft daher nicht zumutbar. „Hätten wir gewusst, wie zahlungswillig unsere Kundschaft ist, hätten wir unseren Mitarbeitern vieles erspart“, heißt es aus einer offiziellen Erklärung der Fluglinie.

Auch Paketzustelldienste und Pflegeheimbetreiber hoffen auf den neuen Effekt. Es sei nicht mehr mit anzusehen, wie manche Heimbewohner vor sich hinvegetierten, nur weil die Angehörigen bisher den Gürtel so eng schnallten. Paketzusteller Mahmut F. sieht gleichermaßen einer rosigen Zukunft entgegen. Er ist sich sicher: „Wenn die Empfänger meiner Pakete in Zukunft ein saftiges Trinkgeld dazugeben, kann ich bald schon nach zwölf Stunden Feierabend machen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.“

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