Rechtes Überangebot

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Die neugegründete Partei „Bündnis Deutschland“ versteht sich als konservative Alternative zur CDU und wählbarere Konkurrenz für die AfD. Sie will politisch Heimatlose und Enttäuschte abholen und sie wieder in den demokratischen Diskurs einbinden. Im Dickicht des rechten Spektrums ist sie eine weitere neoliberale Gruppierung, die wie von selbst aus dem Boden zu sprießen scheinen. Und tatsächlich haben immer mehr Menschen in Deutschland das Gefühl, ihre Interessen würden politisch nicht abgebildet werden. Die Repräsentationslücke klafft jedoch nicht auf der rechten Seite des demokratischen Meinungskorridors. Immer deutlicher wird, dass echte linke Parteien mittlerweile Mangelware auf den Wahlzetteln sind.

Alternative zur Alternative

Seit dem 20. November 2022 ist die deutsche Parteienlandschaft um eine Partei reicher. Mit dem Bündnis Deutschland hat sich eine weitere Gruppierung formiert, die sich klar rechts der CDU verortet. Laut eigenen Angaben sehen die Gründerinnen und Grüner der Partei eine Repräsentationslücke im konservativen Spektrum, die von der AfD nicht gefüllt wird. Die neue Partei soll all jenen Wählerinnen und Wählern eine politische Heimat bieten, die sich eine klar konservative und wirtschaftsliberale Politik in Deutschland wünschen. Gesprächen mit anderen Parteien zeigt sich das Bündnis offen.

Die Neugründung ging groß durch die Medien. Die Mitglieder der ersten Stunde hatten ausgiebig Gelegenheit, der breiten Öffentlichkeit die Ziele ihrer Partei zu erläutern. Man wolle spätestens bei der Bürgerschaftswahl in Bremen im kommenden Frühjahr erste politische Erfolge erzielen. Trotzdem stellt sich unweigerlich die Frage, ob ein solch großes Presseecho angemessen war. Immerhin versuchten in den letzten Jahren mehrere Parteien, der AfD den Rang abzulaufen. Jedes dieser Projekte erlitt aber bösen Schiffbruch. Das Bündnis Deutschland hat bis zum heutigen Tage noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel.

Ähnlich wie die Blaue Partei von Frauke Petry und die Liberal-Konservativen Reformer von Bernd Lucke besteht die neue Partei zu einem beträchtlichen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der AfD. Auch Überläufer der CDU suchen in dem Bündnis ein neues politisches Glück. Anders als die hoffnungslosen Versuche der ehemaligen AfD-Vorsitzenden besteht die Führungsriege von Bündnis Deutschland nicht aus AfD-Abtrünnigen. Damit enden die Unterschiede zu den rechten Splitterparteien der letzten Jahre auch schon. Auch dem Bündnis Deutschland wird eine programmatische Nähe zur FDP nachgesagt, besonders in Fragen der Wirtschaftspolitik. Es ist daher durchaus möglich, dass die Partei hier punkten kann, weil sich die Liberalen in der Ampelkoalition verheddert und sich gerade bei wirtschaftlichen Fragen kaum durchsetzen können.

Politisch verwahrlost

Die AfD kann viele dieser enttäuschten Wähler nicht mehr mobilisieren. Nach einigen Erfolgsjahren kurz nach der Gründung schrumpft die Partei besonders auf Länderebene immer mehr auf eine verlässliche Stammwählerschaft politisch Frustrierter zusammen. Sie sind schon lange keine Protestwähler mehr, sondern wählen aus gewohntem Frust die AfD. Eine große Zahl an Protestwählern der Jahre 2014 bis 2019 ist wieder dahin zurückgekehrt, wo sie herkamen: ins Nichtwählerlager.

Die AfD zeigte kurzzeitig das demokratische Potenzial dieser Wählerinnen und Wähler auf. Sie waren durchaus für eine politische Beteiligung zu begeistern, auch wenn mit der AfD natürlich kein Blumentopf zu gewinnen war. Das starke Abschneiden der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl 2017 war schockierend, hätte aber auch als Weckruf genutzt werden können. Stattdessen war es von Anfang an verpönt, Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Mit diesen Menschen wollte man weder vor noch nach der Wahl etwas zu tun haben – und erst recht nicht mit ihren Sorgen und Ängsten.

Der Rechtsruck der Linken

Früher waren es linke Parteien, welche diese Menschen abgeholt haben. Lange vorbei sind aber die Zeiten, in denen sich die SPD für ihre Belange einsetzte. Gerhard Schröder, der Kanzler der Bosse, hat dann auch noch die letzten Wähler vertrieben, die nach einer echten linken Alternative gesucht hatten. Die Linke fing diese enttäuschten Wähler einige Jahre lang auf, bis sie damit begann, sich hauptsächlich mit sich selbst zu beschäftigen. Sehenden Auges ließ man die sorgengeplagten Menschen nach rechts abwandern. Dort wählen einige zuverlässig die AfD oder eine der anderen zahlreichen neurechten Parteien. Das Bündnis Deutschland beruft sich auf eine Repräsentationslücke im rechten Spektrum. In Wirklichkeit herrscht in dieser Ecke aber ein absurdes Überangebot.

Keine dieser rechten Parteien hat sich in den letzten Jahren nennenswert bewegt. Die AfD wurde mit einer offensichtlichen Tendenz zum Rechtsextremismus gegründet. Dieses bei der Parteigründung einkalkulierte Risiko hat die Partei zwischenzeitlich aufgefressen und gibt heute den Ton in der Partei an. Die anderen rechten Parteien wurden oftmals aufgrund der vielen Grenzüberschreitungen der erfolgreichen AfD gegründet oder weil sich die Partei immer mehr als Fundamentalopposition versteht.

Bewegung und Veränderung gab es hingegen im linken Spektrum. Die Grünen haben die meisten ihrer einstigen Grundsätze vollends über Bord geworfen und sind spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine glühende Kriegsverehrer. Die SPD ist durch die vielen Jahre in der Großen Koalition dauerhaft entstellt und die Linken hoffen insgeheim, den freigewordenen Platz der Grünen einzunehmen und würden dafür vielleicht sogar bereitwillig rechts der Sozialdemokraten platznehmen.

Frust ohne Protest

Eine aussichtsreiche traditionell linke Partei gibt es in Deutschland derzeit nicht. Eine Repräsentationslücke macht das aber noch nicht. Beobachtet man aber dann den Hype, der um eine mögliche Wagenknecht-Partei veranstaltet wird, sieht die Lage schon ganz anders aus. Ganz offensichtlich gibt es eine nicht zu unterschätzende Zahl an Menschen, die sich eine dezidiert linke Partei wünschen, die den Kurs der populären linken Politikerin folgt. Verlässliche Schätzungen gehen sogar von einem Wählerpotenzial von bis 30 Prozent aus, was fast dem Niveau einer Volkspartei entspricht. Wahrscheinlich würden nicht alle diese Menschen eine solche Partei tatsächlich wählen, aber sie alle würden die Gründung einer neuen linken Partei als Bereicherung in der Parteienlandschaft ansehen.

Aber egal, ob links oder rechts: Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sieht sich im derzeitigen politischen Spektrum nicht abgebildet. Dass die derzeitigen Herausforderungen wie Energiekrise, Klimawandel und Krieg die Menschen vor enorme Probleme stellen, liegt auf der Hand. Sie haben allen Grund unzufrieden und empört zu sein. Ihr Protest ist dafür erschreckend leise. Es gibt keine ernstzunehmende politische Kraft, welche dieses Potenzial bündelt und zum Ausdruck bringt. Die groß angekündigten Sozialproteste des Heißen Herbst blieben bislang größtenteils aus. Weder AfD noch Linken gelang es, nennenswert viele Menschen auf die Straßen zu bringen.

Es ist nicht gut für eine Demokratie, wenn das Land so augenscheinlich gegen die Wand gefahren wird und die Mehrheit schweigt. Selbst wer die Maßnahmen der Bundesregierung feiert, muss zugeben, dass sie für einen großen Teil der Bevölkerung sehr einschneidend sind und unweigerlich zu Kritik führen müssen. Jeder, der noch recht bei Trost ist, muss sich in diesen Zeiten wundern, warum die Straßen ein paar verzogenen Gören gehören, aber nicht den abertausenden an Menschen, die Angst haben vor der nächsten Heizkostenabrechnung. Wenn diese Menschen der Demokratie nicht für immer verlorengehen sollen, muss eine neue Partei her. Und zwar schnell.


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Zeit für Gerechtigkeit?

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Die SPD war einmal eine linke Partei. Was wie ein schlechter Treppenwitz klingt, ist tatsächlich Realität. Und irgendwie ist sie es auch bis heute geblieben. Die wirklich charismatischen und durchsetzungsstarken Politiker der Partei entspringen aber nicht dieser Riege. Sie stehen für Sozialabbau, ein Weiter so und sinkende Wahlergebnisse. Echte linke Politiker melden sich in der SPD viel zu selten zu Wort. Ihre Forderungen sind mit Aufwand verbunden; man hält sie an der kurzen Leine. Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern.

Galanter Seitenwechsel

Im Herbst 1995 stapft eine beleidigte junge Frau empört aus dem Tagungssaal. Sie tritt vor die Kameras und macht ihrem Ärger Luft. Völlig aufgebracht erzählt sie den neugierigen Journalisten, was für eine Wut sie im Bauch hat. Was war geschehen? Als die 25-jährige Andrea Nahles an diesem Novembermorgen aufgewacht war, da war die Welt noch in Ordnung für sie. Der SPD-Parteitag stand an, inklusive Wahl des Parteivorsitzes. Nahles war sich sicher: Scharping ists’s und Scharping bleibt’s. Dann hielt der amtierende Parteivorsitzende allerdings eine mutlose Rede. Er sprach zwar von Neuanfang, lieferte aber keine konkreten Vorschläge, wie dieser denn vonstattengehen sollte. Beinahe schien es, als hätte sich Scharping auf immer von einer Regierungsbeteiligung der SPD verabschiedet. Immerhin saßen die Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Dutzend Jahren in der Opposition.

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Als Andrea Nahles noch zur Parteilinken gehörte…

Nahles war stinksauer. Die frischgewählte Juso-Vorsitzende wollte sich mit einem so kraftlosen Kurs nicht zufriedengeben. Trotzig wechselte sie die Seiten – und machte offen Werbung für Scharpings Gegenkandidaten Oskar Lafontaine. Bei der anschließenden Wahl um den Parteivorsitz machte der Oskar dann auch das Rennen und stand fortan an der Spitze der SPD. Nahles war sichtlich zufrieden. Endlich stand wieder ein echter Parteilinker an vorderster Front der Arbeiterpartei.

Viel Lärm um wenig

Viele Jahre zogen ins Land. Andrea Nahles war irgendwann zu alt geworden für die Jungsozialisten. Andere hatten sie abgelöst. Sie selbst war in die Bundespolitik eingestiegen. Vier Jahre lang gehörte sie dem Kabinett Merkel III als Arbeits- und Sozialministerin an. Hatte also endlich die Zeit des linken Flügels in der SPD geschlagen? Schaut man sich Nahles‘ Vermächtnis an, kann man das so nicht sagen. Zwanghaft drückte sie einige urlinke Anliegen gegen den massiven Widerstand der Union in den Jahren 2013 bis 2017 im Bundestag durch. Da war die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und diverse kosmetische Veränderungen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Inhaltlich hat sich die Arbeitsministerin aber dem enormen Druck des Koalitionspartners immer gebeugt. Bis auf den Namen der Gesetzesvorlagen trug keine von ihnen noch die Handschrift der Sozialdemokraten. Der Mindestlohn war ein Minilohn, Leiharbeit wurde für die Betroffenen noch unerträglicher.

Nicht mehr viel war übriggeblieben von der einst rebellischen und unbeugsamen Andrea Nahles, die sich enttäuscht von Parteichef Scharping abgewendet hatte. Auch wenn ihre offene und zumeist unkonventionelle Art etwas anderes vermuten ließ, war sie spätesten mit Eintritt in die Bundesregierung weitaus gemäßigter geworden. Die unberechenbare und unbequeme Brunette, war nun eine Mitstreiterin für das Weiter so geworden.

Fähnchen im Wind

Der Weg, den Andrea Nahles gewählt hatte, war übrigens kein untypischer in der Politik. Auch in vielen anderen Parteien beginnen die Hoffnungsträger von morgen in der Jugendorganisation ihrer Partei. Manche parken dann einige Jahre auf Kommunal- oder Landesebene, bevor sie den Sprung in den Bundestag wagen. Gerade in der SPD erleben wir aber immer wieder, dass mit den kämpferischen Jusos etwas passiert, spätestens wenn sie im Bundestag angekommen sind.

Das Phänomen ist bekannt: In fast jeder Partei ist die Jugendorganisation rebellischer, in manchen Fällen gar revolutionär. Es ist noch nicht lange her, da wurde den Jusos Linksradikalismus unterstellt. Juso-Chef Kevin Kühnert ist da schon einen Schritt weiter und unterstützt mittlerweile Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Ob auch Kevin Kühnert kurz vor knapp die Seiten wechseln und Olaf Scholz die Gefolgschaft kündigen wird? Das bleibt abzuwarten. Derzeit deutet allerdings nichts darauf hin.

Parteivorsitzende ohne Wumms

Und man glaubt es kaum: Selbst systemkonforme Politiker wie Olaf Scholz haben ganz klein bei den Jusos angefangen. Damals hatte er sogar noch ordentlich Haare. Doch nicht nur sein äußeres hat sich im Laufe der Jahre radikal verändert. Immer weiter entfernte er sich von der Parteilinken. Heute verbindet ihn nur noch die zufällige Mitgliedschaft in derselben Partei mit diesem inzwischen kümmerlichen Verein von Traumtänzern.

Denn in die erste Reihe der Politik schaffen es die Linken in der SPD kaum noch. Es gibt sie zwar noch und hin und wieder melden sie sich auch noch zu Wort, einer breiten Öffentlichkeit werden sie aber meist vorenthalten. Der wohl derzeit bekannteste SPD-Politiker des linken Flügels ist Karl Lauterbach. Als Arzt schlug in der Corona-Pandemie seine große Stunde. Immer wieder glänzte er in den vergangenen Monaten mit Fachwissen und guten Ratschlägen. Dass er vor nicht allzu langer Zeit für den Posten des Parteivorsitzenden kandidierte, wissen wohl nicht mehr so viele. Lauterbach hatte seine Kandidatur auch zugunsten von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zurückgezogen.

Er überließ damit zwei völlig unbekannten SPDlern das Feld, vermutlich weil er als Parteilinker nicht genügend Rückhalt in der Partei hatte. Esken ist zwar erklärte GroKo-Gegnerin, aber die wirklich Mächtigen in der Partei sahen in ihr wohl keine allzu große Bedrohung. Nowabo hingegen hat zumindest als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen von sich reden gemacht. Als einer der uncharismatischsten SPD-Vorsitzenden ever spielt er auf Bundesebene aber auch nur eine untergeordnete Rolle.

Es ist Zeit für Gerechtigkeit?

Andere echte Sozialdemokraten wurden von ihrer Partei in den vergangenen Jahren auch immer vorgeschickt und notfalls zur Schlachtbank geführt. Als Bundesumweltministerin hatte es Barbara Hendricks sicher nicht leicht. Mehrere Male wurden ihre guten Ansätze kategorisch abgelehnt und in der Luft zerrissen. Der absolute Gipfel war aber erreicht, als sie bei der Verlängerung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat von CSU-Kollege Christian Schmidt düpiert wurde und eine Meinungsverschiedenheit öffentlich ausgetragen wurde. Die SPD zeigte sich zwar empört, ein großer Aufschrei folgte aber nicht.

Viel eher wurde diese Unverschämtheit stillschweigend hingenommen. Zu groß war wohl die Sorge, die Diskussion um eine Neuauflage der Großen Koalition könnte wieder im Keim erstickt werden. Stattdessen verbannte man Hendricks wieder in Reihe 2 oder 3 der Politik. Das Zepter nahmen andere in die Hand. Martin Schulz zum Beispiel, der in der ersten Jahreshälfte 2017 noch DER Hoffnungsträger für eine Erneuerung der eigenen Partei und einen Neustart der Bundespolitik war. Schulz gehörte beileibe nicht dem linken Flügel der SPD an. Mit seinem Slogan „Es ist Zeit für Gerechtigkeit“ konnte er aber zunächst viele Wähler ansprechen. Da einer echten linken Kehrtwende in der SPD aber der Rückhalt fehlte, wurde Schulz nie konkret. Den weiteren Verlauf kennen wir: Die AfD legte wieder zu, die SPD kassierte ein historisch schlechtes Wahlergebnis.

Union 2.0

Trotzdem war Martin Schulz ein Kandidat, der zumindest anfangs auf den Tisch haute. Er nannte einige Probleme im Land beim Namen und kündigte an, Abhilfe zu schaffen. Sein Nachfolger Olaf Scholz ist da schon ehrlicher. Als großer Verfechter der Agenda 2010 gibt er bisher nicht vor, mehr zu sein als er tatsächlich ist: ein Mainstreamer, ein Politiker des Establishments. Er weiß, dass ihm die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger einen linken Kurs nicht abkaufen würden. Deswegen setzt er auf direkte Konfrontation mit der Union. Nicht weil er ein anderes Angebot hat. Er hat genau das gleiche Angebot, will es aber besser verkaufen. Die Parteispitze macht ihm keine Probleme. Die beiden Pappaufsteller Esken und Nowabo nehmen es hin.

Tatsächlich stiegen die Umfragewerte der SPD nach der Nominierung von Olaf Scholz leicht an. Das ist aber bei Personalwechseln an der Spitze einer Partei kein wirklich seltenes Phänomen. An den Schulz-Hype von 2017 kam der Olaf-Aufschwung jedenfalls bei weitem nicht ran. Was hat also Olaf Scholz nicht, seine Vorgänger aber schon? Haare, könnte man jetzt sagen. Wäre aber irgendwie gemein. Vielleicht sollte man eher fragen, was seine Vorgänger nicht hatten. Dann fällt nämlich, dass gute Umfragewerte und Wahlergebnisse von solchen SPDlern eingefahren wurden, die im Wahlkampf nicht im Bundestag saßen. Sowohl Gerhard Schröder 1998 als auch Martin Schulz vor drei Jahren machten sich die allgemeine Kanzlermüdigkeit zunutze. Eine Wechselstimmung lag in der Luft. Angela Merkel und ihrem politischen Ziehvater Helmut Kohl waren damals wie heute viele Menschen überdrüssig. Sie wollten jemand neues an der Spitze der Regierung.

Beleidigte Leberwürste

Letztendlich scheiterten alle Hoffnungsträger der SPD aus den vergangenen 25 Jahren. Irgendwann fiel auf, dass es mit diesen Menschen keinen Umschwung geben würde, bei dem einen früher, beim anderen später. Doch spätestens seit dem Schulz-Hype von 2017 ist doch klar, dass die Bürgerinnen und Bürger empfänglich sind für Forderungen nach einem höheren Mindestlohn, einer einheitlichen Rente und vielleicht sogar nach einer Vermögensabgabe. Anscheinend haben das auch viele in der SPD verstanden. Und so sind die Sozen seit einigen Monaten um keine linkspopulistische Forderung verlegen.

Aber immer dann, wenn es ein bisschen konkreter wird, blocken die Sozialdemokraten abrupt ab. Mit der Union seien diese Vorhaben schließlich nicht umzusetzen. Das stimmt sogar. Die Hölle friert zu, bevor die Union sich auf eine weitere Einwirkung der Regierung auf den Mindestlohn einlässt. Frech hingegen ist es, dann solche Forderungen zu stellen, wenn man sie im nächsten Moment mit dieser scheinheiligen Tatsache gleich wieder im Sande verlaufen lässt. Beliebte Sätze bei SPD-Bundestagsreden sind: „Wir hätten uns zwar noch mehr vorstellen können, aber…“ oder „Leider ist das mit unserem Koalitionspartner nicht zu machen.“

Gerade diesen letzten Satz halte ich für besonders fatal. Er zeigt zum einen, wie wenig Kampfwillen in der SPD noch steckt, zum anderen suggeriert er eine Schuld des Wählers an den derzeitigen Zuständen. Wie beleidigte Leberwürste berufen sich die Sozen damit auf ihr desaströses Wahlergebnis von 2017. Indirekt sagen sie, es sei die Schuld des Wählers, dass der Mindestlohn nicht angehoben wird und dass die Nachtschwester für eine ganze Etage kranker Menschen allein verantwortlich ist. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Wählerinnen und Wähler eine solche Politik zwar mittragen würden, von der SPD aber mehr als einmal zu viel über den Tisch gezogen wurden.

Die Notwendigkeit für einen politischen Umschwung ist da, der Wille dazu wächst auch, die Wahlergebnisse der SPD stagnieren aber im günstigsten Fall. Das hat Gründe. Anstatt ihren wenigen treuen Wählern immer wieder einzutrichtern, was mit der Union alles nicht geht, sollten die Sozen lieber umkehren und zeigen, was ohne die Union alles geht.


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Von Armut, Schicksal und vom Verzeihen

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Als ich mir vor kurzem Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse zulegte, erwartete ich ein ganz anderes Buch zu lesen als ich es schließlich tat. Die Werbung suggerierte ein politisches Buch, der Einband ließ ein sehr persönliches Buch erwarten. Letztendlich las ich beides zur gleichen Zeit. Ein Mann seiner Klasse ist ein Buch, welches die Lebenswirklichkeit derer darlegt, die im allgemeinen als abgehängt in unserer Gesellschaft gelten. Es ist die Geschichte eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg ging. Nun zieht er eine erste Bilanz und möchte doch nur eines: seinem Vater verzeihen.

Autobiografie ohne Ich?

Wenn in einem reichen Land ein Junge aus lauter Verzweiflung den Schimmel von den Wänden kratzt und ihn sich anschließend in den Mund steckt, dann läuft etwas gewaltig schief in dem Land. Und wenn ein Vater seine Frau und seine Kinder dermaßen tyrannisiert und drangsaliert, dass sein eigener Sohn nicht an seinem Sterbebett auftaucht, dann lief etwas gewaltig schief in seinem Leben. Im Grunde sind das die beiden wichtigsten Botschaften aus Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse. Was das Buch genau ist – Autobiografie, politische Abhandlung oder einfach nur eine besonders drastisch erzählte Geschichte – darüber bin ich mir bis heute nicht im klaren. Wie gut, dass sich alle drei Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen.

Bei der Intention des Buches sehe ich schon deutlich klarer. Es ist in erster Linie der Versuch Barons, mit seinem Vater Frieden zu machen. Das Kapitel zu Ende zu bringen, das Buch endlich zuzuklappen. Deswegen dreht sich das Buch vor allem um die Kindheit des Autors. Trotzdem beginnt die Erzählung, wie man es von einem autobiografischen Text gar nicht erwarten würde: mit einem Sterbenden. Und noch etwas anderes mutet bereits nach einigen wenigen Sätzen merkwürdig an. Der Autor ist gar nicht anwesend. Am Sterbebett des Vaters steht nicht er, sondern sein Bruder. Die wichtigste Person der Geschichte ist dennoch von Anfang an da. Es ist Barons Vater, dem der Leser als erstes begegnet. Ihm gebührt nicht nur der erste, sondern auch der letzte Satz des Buches.

Ein Mann seiner Klasse

Mit dem ersten Absatz des Buches ist der Leser von Anfang an drin: in einem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Warum es Baron im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich war, seinem Vater zu Lebzeiten die letzte Ehre zu erweisen, das stellt er selbst in dem Buch anschaulich dar. Der Leser kann auf knapp 300 Seiten erkunden, was letztendlich zu der traurigen Szene am Anfang des Buches geführt hat.

Das Buch ist nicht als Erzählung des Schicksals eines beliebigen armen Jungens angelegt. Vom ersten Satz an ist der Text viel eher eine Auseinandersetzung mit einer Vaterfigur, die oft gefehlt hat. Es ist die Aufarbeitung eines Verhältnisses, das von Alkohol, Schlägen und Geringschätzung geprägt war. Es ist daher nur zu verständlich, dass Baron selbst in den ersten Sätzen des Buches nicht zu finden ist. Er mag der Autor der Geschichte sein, doch das Buch geht um seinen Vater.

Es ist nämlich nicht Baron, der sich selbst als einen „Mann seiner Klasse“ tituliert. Mit dem Titel bezieht er sich auf seinen Vater. Es ist dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen „Klasse“, was ihn zu dem werden ließ, der er war. Baron schreibt selbst, dass das nichts entschuldige, aber doch alles erkläre. Seiner Meinung nach liegt es hauptsächlich am sozialen Hintergrund seines Vaters, dass er sich derart negativ entwickelte. Ich selbst teile Barons Einschätzung ausdrücklich nicht. Eine soziale Herkunft darf weder als Rechtfertigung noch als Erklärung für Gewalt in der Familie herhalten. Dieser Aspekt kann aufschlussreich sein, keine Frage, doch ihn zur „Mutter aller Probleme“ zu degradieren, halte ich für falsch.

Politische Botschaft an der kurzen Leine

Doch da ist mehr. Die Beziehung zwischen Baron und seinem Vater dominiert die Erzählung, auch wenn sein Vater häufig durch Abwesenheit glänzt. Garniert wird die ganze Geschichte allerdings von einem politischen Unterton, der zwar nicht zu unterschätzen ist, aber niemals so ganz die Oberhand gewinnt. Nur gelegentlich kritisiert Baron die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik explizit. Meist begnügt er sich damit, die unhaltbaren Zustände detailgenau zu beschreiben – und dem Leser die Schlussfolgerungen daraus selbst zu überlassen. Er will seine Leser nicht belehren, er will nicht für seine politische Haltung werben.

Konkret bedeutet das eine ziemlich drastische Beschreibung der häuslichen Situation. Beinahe stolz erklärt er, dass er als Kind zwar einer sozialschwachen Familie entstammte, aber nicht in einem sozialen Brennpunkt lebte. In diesem fand er sich erst Jahre später wieder, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Baron erzählt von Begebenheiten, die fast jedes Kind erlebt, welches der sogenannten Unterschicht entstammt. Ausgrenzung von anderen Kindern, Hänseleien in der Schule, der Verzicht auf regelmäßige Urlaubsreisen.

Aufstieg mit Widerständen

Dabei zeichnet Baron sehr deutlich eine Benachteiligung Sozialschwacher in unserer Gesellschaft nach. Deutlich führt er dem Leser die Widerstände vor Augen, die Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland zu meistern haben. Nach dem Tod der Mutter hat das Jugendamt die Familie längst abgeschrieben. Für die Mitarbeiter der Behörde sind Baron und seine Geschwister hoffnungslose Fälle, die Glück haben, wenn sie nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz finden, um danach von der Stütze zu leben. Das Buch liest sich wunderbar als Beleg für die schiere Undurchlässigkeit sozialer Grenzen in unserem Land. Es räumt auf mit der Legende von sozialer Mobilität, wenn man sich nur genug anstrengt. Dass Baron als glücklichem Einzelfall dennoch der Aufstieg gelungen ist, macht ihn als Figur in dem Buch ganz besonders interessant.

Wer letztendlich in Barons Augen verantwortlich ist für die ganzen Missstände, wird in seinem Buch nie wirklich deutlich. Es ist nicht klar, ob er einzig seinem Vater die Schuld dafür gibt, dass er sich vor Hunger den Schimmel von den Wänden einverleibt. Immerhin bescheinigt er seinem Vater einen Stolz, der ihn davon abhält, für seine Familie Sozialhilfe zu beantragen. Oder ist es Scham? Stolz oder Scham, eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr und sicherlich spielen auch politische Verhältnisse eine Rolle.

Ein Buch als Spiegel

Auf ihrem YouTube-Kanal warb Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kürzlich für Barons Buch. Als mir das Buch dann auch noch vom Spiegel wärmstens empfohlen wurde, war der Kauf so gut wie beschlossen. Ich kaufte es in der Erwartung, bald ein Buch zu lesen, das sich kritisch mit den politischen Verhältnissen im Land auseinandersetzte. Ein Buch, welches um keine linkspopulistische Plattitüde verlegen war. Doch meine Motivation, das Buch zu lesen, änderte sich alsbald.

Denn bereits nach wenigen Seiten war mir der Erzähler mehr als nur vertraut. Schon vor Ende des ersten Kapitels hatte ich so viele Parallelen zu mir selbst entdeckt, dass ich mehr als einmal erstaunt innehielt. Da waren nicht nur sehr viele ähnliche äußere Einflüsse, die Baron gar nicht beeinflussen konnte. Viel mehr faszinierte mich, wie er mit all den Widerständen umging, wie er zu dem Menschen wurde, der sich dazu entschloss, dieses Buch zu schreiben. Und in genau diesem Werdegang fand ich mich selbst wieder.

Ein Drehbuch für’s Anderssein

Vieles wird in unserer Welt übersehen. Manches mit Absicht, manches, weil es sich so gehört. Die Sozialschwachen haben in unserer Gesellschaft selten eine Stimme. Sie gehen seltener zu Wahlen und sind im politischen Diskurs viel zu selten vertreten. Allein der geläufige Begriff Sozialschwache redet den betroffenen ein, für diese Gesellschaft einfach nicht stark genug zu sein. Gerade bei solchen Randgruppen tut es gut, wenn man weiß, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es baut ungemein auf zu wissen, dass man nicht allein ist.

Doch was unterscheidet Baron von seinen Geschwistern, die eine fast identische Biografie haben, heute aber trotzdem von Hartz-IV leben, während er als Journalist Karriere macht? Er ist anders. Und das bin ich auch. Aber er ist nicht besser, genau so wenig wie ich. Mit diesem Anderssein wurde er von frühester Kindheit an konfrontiert – und musste irgendwie damit zurechtkommen. Im Buch erzählt er beispielsweise von Situationen, in denen sich sein Vater und sein Bruder über ihn lustig machen, weil er „zwei linke Hände“ hat. Zum Bücherlesen gut genug, aber zu blöd, eine Glühbirne auszutauschen. Solche Sticheleien tun weh, das weiß ich selbst.

An einer anderen Stelle im Buch wird Baron ein Bürojob prophezeit. Seinem Bruder wird das Los des Bauarbeiters zugeschrieben. So kam es dann auch. Es ist, als wäre Barons Weg vorgezeichnet gewesen, als würde er nach einem verfassten Drehbuch leben, in dem andere darüber entscheiden, was aus ihm wird und wie er sich entwickelt. Mit diesem Schicksal ist er allerdings nicht allein. Genau so wenig, wie Baron sich dem ihm zugeschriebenen Anderssein widersetzen kann, so wenig konnte sein Vater sich jemals gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zur Wehr setzen.

(K)ein Leben auf dem Bau

Wie an den beinah endlosen Texten und politischen Ergüssen auf diesem Blog unschwer zu erkennen ist, fühle auch ich mich im sicheren Umfeld des Büros am wohlsten. Auf dem Bau habe ich nichts verloren. Und das obwohl mein Vater Zeit seines Lebens auf den Baustellen der Region geschuftet hat. Der mir gezeigt hat, wie wichtig und ehrenvoll anständige Arbeit ist. Bei rumgekommen ist trotzdem viel zu wenig dafür.

Baron sieht es offenbar ähnlich und so spürt er eine geistige Verbindung zu seiner Tante Ella, die reichlich spät im Buch erwähnt wird. Wie er wollte sie sich niemals damit abfinden, trotz Arbeit arm zu sein. Sie entzog sich diesem Schicksal durch Heirat. Baron macht es durch Fleiß. Glück haben sie in unserem Land beide dazu gebraucht. Und das ist eine Schande.

Die Suche nach der Wahrheit

Anders als viele andere mit einer ähnlichen Biografie verortet sich Baron politisch ausdrücklich links. Er ist besonders solidarisch veranlagt, kritisiert das kapitalistische System, sieht sich als Weltverbesserer und folgt einer Idee von Gerechtigkeit, die zuweilen das wesentliche übersieht. Mit seiner Vorgeschichte hätte er auch sehr weit rechts landen können. Doch das kam für den Autor nicht in Frage, auch wenn sein Onkel nichts unversucht ließ, Baron die „Begeisterung für den Sozialismus“ auszutreiben.

Baron gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Er sucht nach der Wahrheit. Die glaubt er auf der rechten Seite der Politik nicht finden zu können. Und das sehe ich genauso. Das Streben nach dem Wahren trieb ihn schließlich in ein Germanistikstudium. Hätte er nicht wenigstens gut in Mathe sein können? An dieser Stelle hatte ich eher das Gefühl, einen Spiegel in der Hand zu halten als ein Buch.


Letztendlich verlief Barons Leben ähnlich wie das von vielen. Von zu vielen. Mit unerbittlicher Authentizität legt er sein Leben offen. Er zeigt auf, dass vieles nicht auf Leistung, sondern auf Vorbestimmung zurückzuführen ist. Dass er einer der wenigen glücklichen Einzelfälle ist, denen es gelang, die fast unüberwindbaren Mauern des sozialen Gefälles zu überwinden. Barons Buch macht Mut, doch mahnt auch zugleich, die benachteiligten in der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sie alle haben ihre Geschichten.

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