Mehr als schlechte Laune

Lesedauer: 6 Minuten

Die deutschen Bürgerinnen und Bürger sind nicht zufrieden. Sie sind nicht zufrieden mit dem öffentlichen Personenverkehr, mit dem Umgang mit Landwirten, mit dem Zustand vieler Schulen, der medizinischen Versorgung oder mit der allgemeinen wirtschaftlichen Situation. Deswegen gehen sie in großer Zahl auf die Straße, mittlerweile auch, um einer befürchteten rechten Machtergreifung zuvorzukommen. Viele dieser berechtigten Proteste schieben weite Teile der Politik auf chronische schlechte Laune. Damit beweisen solche Politiker erneut eindrucksvoll, dass sie den Bezug zu den Menschen lange verloren haben. Die vielen Demonstrationen der letzten Monate sind Zeichen einer potenziell lebendigen Demokratie, aber auch einer gefährlichen Vernachlässigung von Wählerinteressen.

[Hier Name einfügen] muss weg!

“Die Eisenbahn ist kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr.“ Mit diesem einen längst realen Zustand beschreibenden Credo schwur Klaus Weselsky die deutsche Bevölkerung im letzten Monat auf eine lange Streikphase bei der Deutschen Bahn ein. Der gefühlt endlose Tarifkonflikt der DB reiht sich nahtlos ein in eine ähnliche Protestbereitschaft bei verdi, Landwirten, Apothekern und mittlerweile sogar bei der Breite der Bevölkerung, die empört gegen rechtsextreme Deportationsfantasien auf die Straße geht. Am 1. März schließlich machten unterschiedliche Akteure bei einer gemeinsamen Demo ihrem Unmut Luft. Die klare Botschaft: Die Regierung macht einen miesen Job.

Tatsächlich lässt sich bei der steigenden Demonstrationsbereitschaft der letzten Jahre eine Veränderung beobachten. Immer seltener geht es um konkrete Sachthemen mit einem klaren Adressaten. Stattdessen belegen schon die zahlreichen Protesttransparente und -banner, dass es den Demonstranten um etwas größeres geht. Mit ihren lauten und zahlenstarken Auftritten stellen sie die Regierung und die herrschende Politik insgesamt in Frage. Keiner dieser Aufmärsche kommt mehr ohne solche Schilder aus, welche die komplette Regierung zum Rücktritt auffordern.

Nur ein Gefühl?

Der Frust über die politischen Verhältnisse kommt allmählich in der Mitte der Gesellschaft an. Vor wenigen Jahren waren Demos, welche die Regierung als ganzes an den Pranger stellten, noch als rechts verfemt. Heute sind solche Protestbekundungen eher die Norm.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg Politik gemacht wird. Das zumindest wird ihnen eingeredet – es ist nichts weiter als ein Gefühl. Sie seien selbst schuld, wenn sie Rattenfängern wie der AfD auf den Leim gingen und die hervorragende Regierungsarbeit nicht zu schätzen wüssten. Mit jeder dieser Ferndiagnosen von eingebildeter schlechter Laune schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in die herrschende Politik ein wenig mehr. Denn konkretes Regierungshandeln wie die verpfuschte Energiepreisbremse, der lächerlich lange Zoff um die Finanzierung des Deutschlandtickets und das Bonbon der Cannabislegalisierung führen den Menschen ein ums andere Mal vor Augen, dass die Regierung den Blick für das Wesentliche längst verloren hat.

Wenn sie dann auf sich aufmerksam machen und gegen dieses Staatsversagen auf die Straße gehen, wird ihnen in vielen Fällen leichtfertig eine offene Flanke nach rechts außen vorgeworfen. Dabei tun sie nur das, was eigentlich Job der Regierung wäre: Sie fordern demokratische Teilhabe ein und wenden sich inzwischen sogar offen gegen die Feinde der rechtsstaatlichen Verfassung.

PR-Gag für Rechts

Die Notwendigkeit für Massendemos gegen die bekanntgewordenen Deportationspläne der AfD und anderer Rechtsextremisten sind ein Zeugnis völligen Politikversagens. Es ist um unser Land und unsere Demokratie inzwischen so schlecht bestellt, dass es die widerwärtigsten Kreaturen vom rechten Rand fast 80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager tatsächlich wagen, halböffentlich über die Verschleppung von Menschen zu sprechen, die ihrer Ansicht nach nicht zu Deutschland gehören. Die große Mehrheit der Gesellschaft hält entschlossen dagegen und zeigt Rechtsaußen sehr deutlich, was sie von solchen menschenverachtenden Plänen hält. Führende Köpfe der Koalitionsparteien und Mitglieder der Bundesregierung nehmen die Proteste wohlwollend zur Kenntnis und reihen sich teilweise in die Demozüge ein. Nicht im Traum kommen sie auf die Idee, ihre Mitverantwortung für diese fatale Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen.

Stattdessen pendelt die Regierung zwischen hilflosem Gebaren und blindem Aktionismus hin und her. Mit Prestigeprojekten wie der Cannabislegalisierung versucht sie Wahlversprechen einzulösen, die einer beträchtlichen Zahl an Menschen am Allerwertesten vorbeigehen. Aber nicht einmal bei diesem Klientelgeschenk denkt die Ampel weiter als bis zum nächsten Parteitag. Wichtige Frage wie Kontrollen, Grenzwerte und grundsätzliche Praktikabilität sind bei Verkündung des Gesetzes ungeklärt und offenbaren wie schon bei anderen Vorhaben die völlige Planlosigkeit dieser Truppe.

Demokratie von oben

Jedenfalls erkennt die Regierung, dass die Stimmung am Brodeln ist und insbesondere der rechte Rand vom Unmut profitiert. Statt aber die Ursachen für diese Entwicklung zu beheben, werden flugs ein paar Demokratiefördergesetze aus der Taufe gehoben, die den Bezug zur Wirklichkeit ein weiters Mal vermissen lassen. Es mag wie ein edles Ansinnen daherkommen, wenn die Regierung die Demokratie fördern will, es ist aber sicher nicht ihre Aufgabe, der Bevölkerung zu erklären, wie Demokratie funktioniert. Das Volk bestimmt in unserem Land, wie der Hase läuft. Alles andere ist übergriffig und anmaßend.

Es stellt sich zudem die Frage, wie die Demokratie durch ein Gesetz geschützt werden soll. Demokratie lässt sich nicht verordnen oder vorschreiben, sie wird jeden Tag neu ausgehandelt und erkämpft. Wenn die Bürgerinnen und Bürger in großer Zahl auf die Straße gehen und der Bundesregierung Versagen und Inkompetenz vorwerfen, dann ist das ihr gutes Recht. Es ist mehr als frech, ihnen dafür Rechtsoffenheit oder gar Extremismus vorzuwerfen. Am Ende stärkt man damit nur solche Kräfte, die man eigentlich bekämpfen will.

Die Regierung hat nicht begriffen, dass Verbote und Denunziationen nicht dazu beitragen, den Extremismus in den Griff zu kriegen. Beamte und Richter, bei denen Zweifel an der Verfassungstreue bestehen, aus dem Dienst zu entfernen, mag ein wichtiges Signal sein, löst aber nicht das zugrundeliegende Problem. Eine Politik, die sich im Laufe der Jahre immer weiter von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt hat, trug dazu bei, dass solche Demokratiefeinde heute auf so großes Interesse stoßen. Alle Politiker sollten für die Proteste auf den Straßen eigentlich dankbar sein und den Menschen endlich wieder zeigen: Wir hören euch.


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Schlechte Stimmung

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Ehrlichen Herzens für den Klimastreik

Lesedauer: 5 Minuten

Die Proteste und Demonstrationen rund um den globalen Klimastreik am 3. März stehen weiterhin massiv in der Kritik. Die Aktivisten von Fridays for Future hatten zu den dezentralen Aktionen aufgerufen und sich damit teilweise gemeingemacht mit den radikalen Ideen und Protestformen der Letzten Generation. Schon im Vorfeld hatten die Organisatoren den Klimaradikalen die Hand gereicht. Blockaden und Klebeaktionen richten sich vorrangig gegen die Bürgerinnen und Bürger, die Verantwortung der Politik kommt bei den Aktivisten kaum vor.

Verzerrte Wahrnehmung

An dem Aufruf der Klimabewegung hatte es von Anfang an heftige Kritik gegeben. Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Forschung warfen den Jugendlichen vor, für ihre wahnwitzigen Ideen den Verkehr in mehreren Großstädten der Republik lahmzulegen. Ihr Protest, den sie unter dem Label „globaler Klimastreik“ vermarkteten, schieße weit über das Ziel hinaus. Viele kritische Stimmen störten sich dabei besonders an der Behauptung der Aktivisten, ihre Aktionen hätten eine globale Dimension erreicht. Sie verwiesen darauf, dass es zwar in vielen deutschen Städten entsprechende Demonstration gegeben hätte, dem Aufruf aber bei weitem nicht international gefolgt worden wäre. Nicht einmal in jedem europäischen Land hätte es vergleichbare Protestaktionen gegeben.

Ein Sprecher aus dem Bundesumweltministerium sprach sogar von einer verzerrten Wahrnehmung der demonstrierenden Jugendlichen: „Es ist mir vollkommen schleierhaft, wie man allen Ernstes davon ausgehen kann, dass diese kruden Ideen von der internationalen Gemeinschaft getragen würden.“ Auch die Angaben zu den Teilnehmerzahlen divergierten zwischen den unterschiedlichen Quellen erheblich. Sprach die Polizei von etwa 50 Teilnehmern vor dem Brandenburger Tor, so gingen die Organisatoren um Luisa Neubauer von rund 150.000 Demonstrierenden aus.

Scharf kritisiert wird auch, dass sich die Jugendlichen von Fridays for Future zu Sprechern einer gesamten Generation aufschwingen. Der Sprecher aus dem Ministerium dazu: „Die Demos sind ein bunter Mix aus Abiturienten, Studierenden und langzeitarbeitslosen Ü30ern. Haupt- und Realschüler findet man in den Protestzügen kaum.“

Ehrlichen Herzens für den Klimastreik?

Für massig Ärger sorgte auch der Wortlaut des Aufrufs zum Klimastreik. Die Initiatoren der Demo sprachen damit explizit alle Menschen an, denen die Rettung des Klimas und der natürlichen Lebensumgebung eine Herzensangelegenheit sei. Diese Aufforderung griffen die Aktivisten rund um die „Letzte Generation“ bereitwillig auf und kündigten schon im Vorfeld an, zahlreich bei den Protestzügen zu erscheinen.

Die Letzte Generation war in den vergangenen Monaten immer wieder in die Schlagzeilen geraten, weil sie mit fragwürdigen Aktionen für die Rettung des Weltklimas kämpfe. So sind deren Mitglieder bekannt dafür, sich auf Straßen festzukleben, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen oder in Museen und Kunstausstellungen Lebensmittel auf die dort ausgestellten Kunstwerke zu werfen. Einige Kritiker werfen den Aktivisten daher radikale Methoden und die empfindliche Störung der rechtsstaatlichen Ordnung vor.

Das Extrem ist bequem

Aktive von Fridays for Future wollen von der Bedrohung durch die Letzte Generation indes nichts wissen. Alex Weißer, Organisator der Demo in Wuppertal, hat dazu eine klare Meinung: „Nur weil ein paar Spinner zu unserer Demo kommen, werden wir sie bestimmt nicht absagen. Wir haben ausdrücklich klargemacht, dass wir die Letzte Generation nicht dulden werden. Wir wollen grundsätzlich keine Fahnen von politischen Parteien oder Organisationen sehen.“

Trotz dieser Distanzierungsversuche waren am 3. März an mehreren Orten Banner und Transparente der Letzten Generation zu sehen. Bernd Flocke, erster Sprecher des thüringischen Gesamtverbunds der Letzten Generation, machte Fridays-for-Future – Chefin Luisa Neubauer sogar ein Angebot: „Wir finden es richtig, dass sie dieses immens wichtige Thema auf die Agenda setzt in einer Zeit, in der sich viele in einer Welt mit tagtäglichen Klimakatastrophen einrichten. In unserem Verein ist immer ein Platz für sie.“

Politische Reinwaschung

Die Präsenz der Letzten Generation beim Klimastreik kann kein Zufall sein. Denn abgesehen von schwachen Distanzierungsversuchen seitens Fridays for Future sind sich die beiden Bewegungen in mehreren essentiellen Punkten einig. Beide sehen in den Bürgerinnen und Bürgern die Hauptverantwortlichen für eine verfehlte Klimapolitik und eine Zunahme von Klimakatastrophen. Deswegen richten sich ihre Reden und Aktionen ausschließlich gegen Autofahrer und Konsumenten. Die Verantwortung einzelner Politiker kommt in ihrem Weltbild kaum vor.

Ihrer Meinung nach sind es die klimabequemen Bürgerinnen und Bürger, welche die Bundesregierung und die Konzerne zu ihrer klimaschädlichen Agenda zwingen. Mit dieser gewagten These waschen sie Politik und Wirtschaft von jedem Verdacht rein, etwas mit den verheerenden Folgen des Klimawandels zu tun zu haben. Die Kritik an dieser Sichtweise ist einhellig: Sie machen die Täter zu Opfern.

Die Mehrheit kann die Ansichten der Klimabewegung um Fridays for Future und die Letzte Generation nicht teilen. Sie können nicht nachvollziehen, wie deren haltlose Forderungen so viel Zulauf gewinnen können. Für sie steht weiterhin fest: Der Aggressor sitzt im Bundestag.

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Von Armut, Schicksal und vom Verzeihen

Lesedauer: 11 Minuten

Als ich mir vor kurzem Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse zulegte, erwartete ich ein ganz anderes Buch zu lesen als ich es schließlich tat. Die Werbung suggerierte ein politisches Buch, der Einband ließ ein sehr persönliches Buch erwarten. Letztendlich las ich beides zur gleichen Zeit. Ein Mann seiner Klasse ist ein Buch, welches die Lebenswirklichkeit derer darlegt, die im allgemeinen als abgehängt in unserer Gesellschaft gelten. Es ist die Geschichte eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg ging. Nun zieht er eine erste Bilanz und möchte doch nur eines: seinem Vater verzeihen.

Autobiografie ohne Ich?

Wenn in einem reichen Land ein Junge aus lauter Verzweiflung den Schimmel von den Wänden kratzt und ihn sich anschließend in den Mund steckt, dann läuft etwas gewaltig schief in dem Land. Und wenn ein Vater seine Frau und seine Kinder dermaßen tyrannisiert und drangsaliert, dass sein eigener Sohn nicht an seinem Sterbebett auftaucht, dann lief etwas gewaltig schief in seinem Leben. Im Grunde sind das die beiden wichtigsten Botschaften aus Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse. Was das Buch genau ist – Autobiografie, politische Abhandlung oder einfach nur eine besonders drastisch erzählte Geschichte – darüber bin ich mir bis heute nicht im klaren. Wie gut, dass sich alle drei Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen.

Bei der Intention des Buches sehe ich schon deutlich klarer. Es ist in erster Linie der Versuch Barons, mit seinem Vater Frieden zu machen. Das Kapitel zu Ende zu bringen, das Buch endlich zuzuklappen. Deswegen dreht sich das Buch vor allem um die Kindheit des Autors. Trotzdem beginnt die Erzählung, wie man es von einem autobiografischen Text gar nicht erwarten würde: mit einem Sterbenden. Und noch etwas anderes mutet bereits nach einigen wenigen Sätzen merkwürdig an. Der Autor ist gar nicht anwesend. Am Sterbebett des Vaters steht nicht er, sondern sein Bruder. Die wichtigste Person der Geschichte ist dennoch von Anfang an da. Es ist Barons Vater, dem der Leser als erstes begegnet. Ihm gebührt nicht nur der erste, sondern auch der letzte Satz des Buches.

Ein Mann seiner Klasse

Mit dem ersten Absatz des Buches ist der Leser von Anfang an drin: in einem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Warum es Baron im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich war, seinem Vater zu Lebzeiten die letzte Ehre zu erweisen, das stellt er selbst in dem Buch anschaulich dar. Der Leser kann auf knapp 300 Seiten erkunden, was letztendlich zu der traurigen Szene am Anfang des Buches geführt hat.

Das Buch ist nicht als Erzählung des Schicksals eines beliebigen armen Jungens angelegt. Vom ersten Satz an ist der Text viel eher eine Auseinandersetzung mit einer Vaterfigur, die oft gefehlt hat. Es ist die Aufarbeitung eines Verhältnisses, das von Alkohol, Schlägen und Geringschätzung geprägt war. Es ist daher nur zu verständlich, dass Baron selbst in den ersten Sätzen des Buches nicht zu finden ist. Er mag der Autor der Geschichte sein, doch das Buch geht um seinen Vater.

Es ist nämlich nicht Baron, der sich selbst als einen „Mann seiner Klasse“ tituliert. Mit dem Titel bezieht er sich auf seinen Vater. Es ist dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen „Klasse“, was ihn zu dem werden ließ, der er war. Baron schreibt selbst, dass das nichts entschuldige, aber doch alles erkläre. Seiner Meinung nach liegt es hauptsächlich am sozialen Hintergrund seines Vaters, dass er sich derart negativ entwickelte. Ich selbst teile Barons Einschätzung ausdrücklich nicht. Eine soziale Herkunft darf weder als Rechtfertigung noch als Erklärung für Gewalt in der Familie herhalten. Dieser Aspekt kann aufschlussreich sein, keine Frage, doch ihn zur „Mutter aller Probleme“ zu degradieren, halte ich für falsch.

Politische Botschaft an der kurzen Leine

Doch da ist mehr. Die Beziehung zwischen Baron und seinem Vater dominiert die Erzählung, auch wenn sein Vater häufig durch Abwesenheit glänzt. Garniert wird die ganze Geschichte allerdings von einem politischen Unterton, der zwar nicht zu unterschätzen ist, aber niemals so ganz die Oberhand gewinnt. Nur gelegentlich kritisiert Baron die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik explizit. Meist begnügt er sich damit, die unhaltbaren Zustände detailgenau zu beschreiben – und dem Leser die Schlussfolgerungen daraus selbst zu überlassen. Er will seine Leser nicht belehren, er will nicht für seine politische Haltung werben.

Konkret bedeutet das eine ziemlich drastische Beschreibung der häuslichen Situation. Beinahe stolz erklärt er, dass er als Kind zwar einer sozialschwachen Familie entstammte, aber nicht in einem sozialen Brennpunkt lebte. In diesem fand er sich erst Jahre später wieder, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Baron erzählt von Begebenheiten, die fast jedes Kind erlebt, welches der sogenannten Unterschicht entstammt. Ausgrenzung von anderen Kindern, Hänseleien in der Schule, der Verzicht auf regelmäßige Urlaubsreisen.

Aufstieg mit Widerständen

Dabei zeichnet Baron sehr deutlich eine Benachteiligung Sozialschwacher in unserer Gesellschaft nach. Deutlich führt er dem Leser die Widerstände vor Augen, die Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland zu meistern haben. Nach dem Tod der Mutter hat das Jugendamt die Familie längst abgeschrieben. Für die Mitarbeiter der Behörde sind Baron und seine Geschwister hoffnungslose Fälle, die Glück haben, wenn sie nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz finden, um danach von der Stütze zu leben. Das Buch liest sich wunderbar als Beleg für die schiere Undurchlässigkeit sozialer Grenzen in unserem Land. Es räumt auf mit der Legende von sozialer Mobilität, wenn man sich nur genug anstrengt. Dass Baron als glücklichem Einzelfall dennoch der Aufstieg gelungen ist, macht ihn als Figur in dem Buch ganz besonders interessant.

Wer letztendlich in Barons Augen verantwortlich ist für die ganzen Missstände, wird in seinem Buch nie wirklich deutlich. Es ist nicht klar, ob er einzig seinem Vater die Schuld dafür gibt, dass er sich vor Hunger den Schimmel von den Wänden einverleibt. Immerhin bescheinigt er seinem Vater einen Stolz, der ihn davon abhält, für seine Familie Sozialhilfe zu beantragen. Oder ist es Scham? Stolz oder Scham, eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr und sicherlich spielen auch politische Verhältnisse eine Rolle.

Ein Buch als Spiegel

Auf ihrem YouTube-Kanal warb Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kürzlich für Barons Buch. Als mir das Buch dann auch noch vom Spiegel wärmstens empfohlen wurde, war der Kauf so gut wie beschlossen. Ich kaufte es in der Erwartung, bald ein Buch zu lesen, das sich kritisch mit den politischen Verhältnissen im Land auseinandersetzte. Ein Buch, welches um keine linkspopulistische Plattitüde verlegen war. Doch meine Motivation, das Buch zu lesen, änderte sich alsbald.

Denn bereits nach wenigen Seiten war mir der Erzähler mehr als nur vertraut. Schon vor Ende des ersten Kapitels hatte ich so viele Parallelen zu mir selbst entdeckt, dass ich mehr als einmal erstaunt innehielt. Da waren nicht nur sehr viele ähnliche äußere Einflüsse, die Baron gar nicht beeinflussen konnte. Viel mehr faszinierte mich, wie er mit all den Widerständen umging, wie er zu dem Menschen wurde, der sich dazu entschloss, dieses Buch zu schreiben. Und in genau diesem Werdegang fand ich mich selbst wieder.

Ein Drehbuch für’s Anderssein

Vieles wird in unserer Welt übersehen. Manches mit Absicht, manches, weil es sich so gehört. Die Sozialschwachen haben in unserer Gesellschaft selten eine Stimme. Sie gehen seltener zu Wahlen und sind im politischen Diskurs viel zu selten vertreten. Allein der geläufige Begriff Sozialschwache redet den betroffenen ein, für diese Gesellschaft einfach nicht stark genug zu sein. Gerade bei solchen Randgruppen tut es gut, wenn man weiß, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es baut ungemein auf zu wissen, dass man nicht allein ist.

Doch was unterscheidet Baron von seinen Geschwistern, die eine fast identische Biografie haben, heute aber trotzdem von Hartz-IV leben, während er als Journalist Karriere macht? Er ist anders. Und das bin ich auch. Aber er ist nicht besser, genau so wenig wie ich. Mit diesem Anderssein wurde er von frühester Kindheit an konfrontiert – und musste irgendwie damit zurechtkommen. Im Buch erzählt er beispielsweise von Situationen, in denen sich sein Vater und sein Bruder über ihn lustig machen, weil er „zwei linke Hände“ hat. Zum Bücherlesen gut genug, aber zu blöd, eine Glühbirne auszutauschen. Solche Sticheleien tun weh, das weiß ich selbst.

An einer anderen Stelle im Buch wird Baron ein Bürojob prophezeit. Seinem Bruder wird das Los des Bauarbeiters zugeschrieben. So kam es dann auch. Es ist, als wäre Barons Weg vorgezeichnet gewesen, als würde er nach einem verfassten Drehbuch leben, in dem andere darüber entscheiden, was aus ihm wird und wie er sich entwickelt. Mit diesem Schicksal ist er allerdings nicht allein. Genau so wenig, wie Baron sich dem ihm zugeschriebenen Anderssein widersetzen kann, so wenig konnte sein Vater sich jemals gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zur Wehr setzen.

(K)ein Leben auf dem Bau

Wie an den beinah endlosen Texten und politischen Ergüssen auf diesem Blog unschwer zu erkennen ist, fühle auch ich mich im sicheren Umfeld des Büros am wohlsten. Auf dem Bau habe ich nichts verloren. Und das obwohl mein Vater Zeit seines Lebens auf den Baustellen der Region geschuftet hat. Der mir gezeigt hat, wie wichtig und ehrenvoll anständige Arbeit ist. Bei rumgekommen ist trotzdem viel zu wenig dafür.

Baron sieht es offenbar ähnlich und so spürt er eine geistige Verbindung zu seiner Tante Ella, die reichlich spät im Buch erwähnt wird. Wie er wollte sie sich niemals damit abfinden, trotz Arbeit arm zu sein. Sie entzog sich diesem Schicksal durch Heirat. Baron macht es durch Fleiß. Glück haben sie in unserem Land beide dazu gebraucht. Und das ist eine Schande.

Die Suche nach der Wahrheit

Anders als viele andere mit einer ähnlichen Biografie verortet sich Baron politisch ausdrücklich links. Er ist besonders solidarisch veranlagt, kritisiert das kapitalistische System, sieht sich als Weltverbesserer und folgt einer Idee von Gerechtigkeit, die zuweilen das wesentliche übersieht. Mit seiner Vorgeschichte hätte er auch sehr weit rechts landen können. Doch das kam für den Autor nicht in Frage, auch wenn sein Onkel nichts unversucht ließ, Baron die „Begeisterung für den Sozialismus“ auszutreiben.

Baron gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Er sucht nach der Wahrheit. Die glaubt er auf der rechten Seite der Politik nicht finden zu können. Und das sehe ich genauso. Das Streben nach dem Wahren trieb ihn schließlich in ein Germanistikstudium. Hätte er nicht wenigstens gut in Mathe sein können? An dieser Stelle hatte ich eher das Gefühl, einen Spiegel in der Hand zu halten als ein Buch.


Letztendlich verlief Barons Leben ähnlich wie das von vielen. Von zu vielen. Mit unerbittlicher Authentizität legt er sein Leben offen. Er zeigt auf, dass vieles nicht auf Leistung, sondern auf Vorbestimmung zurückzuführen ist. Dass er einer der wenigen glücklichen Einzelfälle ist, denen es gelang, die fast unüberwindbaren Mauern des sozialen Gefälles zu überwinden. Barons Buch macht Mut, doch mahnt auch zugleich, die benachteiligten in der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sie alle haben ihre Geschichten.

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