Im Osten nichts Neues

Lesedauer: 7 Minuten

Deutschland ist seit 30 Jahren ein geeintes Land – zumindest auf der Landkarte. Politisch und ökonomisch klaffen noch immer oder wieder tiefe Gräben zwischen Ost und West. Die Gründe dafür sind vielfältig. Trotzdem versuchen viele, die schwierigen Verhältnisse im Osten mit eindimensionalen Erklärungsmustern zu vermitteln. Die Planwirtschaft mag der Grund für eine komplizierte Ausgangslage sein. Sie ist aber immer weniger für deren Fortbestehen verantwortlich.

Ein Leben mit dem System

Am 2. Oktober debattierte der Bundestag bereits zum 30. mal über die deutsche Einheit. Die Politikerinnen und Politiker sprachen von den Erfolgen und den Errungenschaften, die gerade im Osten erzielt worden waren. Sie redeten aber auch über Probleme beim Einheitsprozess und über Herausforderungen, die es nach wie vor zu meistern gilt. So beklagten viele Rednerinnen und Redner das Lohngefälle zwischen Ost und West, das zwar näher zusammengerückt ist, aber immer noch zu wünschen übriglässt. Diese Differenz zwischen den Reallöhnen sorgt letztendlich für deutliche Unterschiede bei der Altersrente.

Für diese Schwierigkeiten haben die verschiedenen Parteien ihre eigenen Erklärungen parat. Die Union moniert beispielsweise, dass die geringere Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer vom Versagen des Sozialismus und seiner Planwirtschaft herrührt. Die Führung der DDR hat es meisterlich verstanden, eine Volkswirtschaft im Laufe der Jahre zu Grunde zu richten. Als die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer überwanden, hinterließ die Staatsführung einen ökonomischen Scherbenhaufen.

Laut Union ist es überhaupt kein Wunder, dass dieses wirtschaftliche Schlachtfeld nicht innerhalb weniger Jahre zusammengekehrt werden konnte. In den Augen der Regierungspartei sind die Menschen aus der DDR die Opfer falscher politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Die DDR war eine Diktatur und die allermeisten Menschen dort hatten keine andere Wahl, als sich den Verhältnissen um sie herum zu fügen. In 40 Jahren DDR arrangierten sich die meisten mit dem System. Anders als in den zwölf Jahren Nazi-Diktatur brachte der ostdeutsche Staat mehr als eine Generation hervor.

Freispruch in allen Punkten?

Die sozialistische Planwirtschaft war der sozialen Marktwirtschaft schon immer unterlegen. Unverschuldet bekamen das Millionen Menschen in der DDR viele Jahre lang zu spüren. An den Verfehlungen und Missständen der Planwirtschaft haben viele bis heute zu knabbern. Die Lebensumstände in den neuen Bundesländern auf rein wirtschaftliche Gegebenheiten zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Die DDR war mehr als wirtschaftliches Versagen auf ganzer Linie. In vier Jahrzehnten haben sich die Menschen Existenzen aufgebaut, die weit über das ökonomische Bestehen hinausgingen. Viele Existenzen wurden durch einen harten Bruch zur Wendezeit zerstört. Das mit ausschließlich wirtschaftlichen Faktoren zu begründen, überzeugt die Menschen nicht.

Es überzeugt die Menschen vor allem deshalb nicht, weil Reden und Handeln der Regierung in krassem Gegensatz zueinander stehen. Der Lohnunterschied zwischen West und Ost ist weiterhin immens und auch zwischen den Renten klafft eine Lücke, die da nicht sein müsste. Man billigt den Menschen zu, für die schwierige wirtschaftliche Ausgangslage in den neuen Bundesländern nichts zu können. Gleichzeitig verweigert man ihnen aber nach 30 Jahren im goldenen Westen weiterhin eine vergleichbare Vergütung für die gleiche Arbeit wie in westdeutschen Bundesländern. Natürlich hinterlässt man bei diesen Erwerbstätigen das Gefühl, dass sie an der prekären Wirtschaftslage doch mitschuld sind. Wäre es nicht so, dann spräche nichts dagegen, dass sie im geeinten Deutschland in der gleichen Arbeitszeit für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhielten.

Stattdessen speist man sie mit Löhnen und Gehältern ab, die hinter dem westdeutschen Durchschnitt zurückbleiben. Zwar hat sich die durchschnittliche Arbeitsvergütung in den letzten Jahren angehnähert, ein Unterschied ist aber nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Das begünstigt ein Unterlegenheitsgefühl des Ostens gegenüber dem Westen, welches viele sicher an die wirtschaftlich prekäre Lage im Sozialismus erinnert. Der Vergleich mag zwar an der ein oder anderen Stelle hinken, aber der viel zu langsame Abbau des Lohngefälles erschüttert das Vertrauen in den Staat und letztendlich in die Demokratie. Es kann kein Zufall sein, dass die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern großen Zulauf erfährt, wenn sie von einer Rückkehr zur DDR und einer Wiedereinführung des Sozialismus spricht.

(K)eine Leistungsgesellschaft

Das ist natürlich Quatsch. Wir befinden uns in keiner Diktatur und sind auch nicht auf dem Weg dorthin. Die versprochenen blühenden Landschaften waren aber trotzdem von Anfang an eine Lüge. Es war eine Illusion anzunehmen, dass die wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte des Westens 1:1 auf den Osten anwendbar ist. Die Voraussetzungen waren nämlich grundsätzlich anders. Die Wirtschaftspolitik der alten Bundesländer war außerdem auf ein Szenario ausgerichtet, in dem wirtschaftliche Not kein großes Thema war. Nach den zahlreichen Fabrikschließungen und dem Treuhandskandal in den ostdeutschen Bundesländern war die wirtschaftliche Lage dort aber äußerst prekär.

Die getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren schlicht und ergreifend nicht passgenau und konnten ihre volle Wirkung nie entfalten. Diese Politik geht nämlich davon aus, dass Leistung stets belohnt wird. Wer sich genug anstrengt, der wird aufsteigen und ein schönes Leben führen. So zumindest das Versprechen. In der Realität ist es aber mehrheitlich anders. Viele können sich noch so abrackern und bleiben trotzdem unten. Die zahlreichen Betriebsschließungen und der erschwerte Zugang zu Kultur und Kunst taten ihr übriges. Obwohl politisch vieles besser wurde, die Menschen konnten offen ihre Meinung sagen und sich parteilich und gewerkschaftlich organisieren, hatten viele eher das Gefühl, ihr Leben war nicht besser, sondern viel mehr schwerer geworden.

Der Westen ist spät dran

Lange Jahre blieben diese Menschen unerhört. Nach Jahren der politischen Isolation gab ihnen die AfD erstmals wieder das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sie sich politisch wieder Gehör verschaffen. Doch die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen geblieben. Auch in den alten Bundesländern erfreut sie sich weiterhin hoher Beliebtheit. Und das ganz ohne Stasi-Vergangenheit.

Immer offener tritt zutage: Der Weg, den die Politik im Bereich Wirtschaft eingeschlagen ist, ist ein falscher. Im Osten der Republik wurde das nur deshalb schneller und dramatischer sichtbar, weil die Ausgangslage viel ungünstiger war. Dort zumindest hatte die Politik immer die Möglichkeit, auf das wirtschaftliche Fiasko der Planwirtschaft zu verweisen. Im Westen hat sie das nicht.  Und trotzdem bekommen auch im vielgepriesenen goldenen Westen immer mehr Menschen zu spüren, was es heißt, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Denn auch Pfandflaschensammler sind kein ostdeutsches Phänomen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik ist sicher nicht schuld am ökonomischen Hirntod der DDR. Sie kann aber auch nur wenig hilfreiche Konzepte anbieten, dieses Trauma zu bewältigen.


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Von Armut, Schicksal und vom Verzeihen

Lesedauer: 11 Minuten

Als ich mir vor kurzem Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse zulegte, erwartete ich ein ganz anderes Buch zu lesen als ich es schließlich tat. Die Werbung suggerierte ein politisches Buch, der Einband ließ ein sehr persönliches Buch erwarten. Letztendlich las ich beides zur gleichen Zeit. Ein Mann seiner Klasse ist ein Buch, welches die Lebenswirklichkeit derer darlegt, die im allgemeinen als abgehängt in unserer Gesellschaft gelten. Es ist die Geschichte eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg ging. Nun zieht er eine erste Bilanz und möchte doch nur eines: seinem Vater verzeihen.

Autobiografie ohne Ich?

Wenn in einem reichen Land ein Junge aus lauter Verzweiflung den Schimmel von den Wänden kratzt und ihn sich anschließend in den Mund steckt, dann läuft etwas gewaltig schief in dem Land. Und wenn ein Vater seine Frau und seine Kinder dermaßen tyrannisiert und drangsaliert, dass sein eigener Sohn nicht an seinem Sterbebett auftaucht, dann lief etwas gewaltig schief in seinem Leben. Im Grunde sind das die beiden wichtigsten Botschaften aus Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse. Was das Buch genau ist – Autobiografie, politische Abhandlung oder einfach nur eine besonders drastisch erzählte Geschichte – darüber bin ich mir bis heute nicht im klaren. Wie gut, dass sich alle drei Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen.

Bei der Intention des Buches sehe ich schon deutlich klarer. Es ist in erster Linie der Versuch Barons, mit seinem Vater Frieden zu machen. Das Kapitel zu Ende zu bringen, das Buch endlich zuzuklappen. Deswegen dreht sich das Buch vor allem um die Kindheit des Autors. Trotzdem beginnt die Erzählung, wie man es von einem autobiografischen Text gar nicht erwarten würde: mit einem Sterbenden. Und noch etwas anderes mutet bereits nach einigen wenigen Sätzen merkwürdig an. Der Autor ist gar nicht anwesend. Am Sterbebett des Vaters steht nicht er, sondern sein Bruder. Die wichtigste Person der Geschichte ist dennoch von Anfang an da. Es ist Barons Vater, dem der Leser als erstes begegnet. Ihm gebührt nicht nur der erste, sondern auch der letzte Satz des Buches.

Ein Mann seiner Klasse

Mit dem ersten Absatz des Buches ist der Leser von Anfang an drin: in einem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Warum es Baron im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich war, seinem Vater zu Lebzeiten die letzte Ehre zu erweisen, das stellt er selbst in dem Buch anschaulich dar. Der Leser kann auf knapp 300 Seiten erkunden, was letztendlich zu der traurigen Szene am Anfang des Buches geführt hat.

Das Buch ist nicht als Erzählung des Schicksals eines beliebigen armen Jungens angelegt. Vom ersten Satz an ist der Text viel eher eine Auseinandersetzung mit einer Vaterfigur, die oft gefehlt hat. Es ist die Aufarbeitung eines Verhältnisses, das von Alkohol, Schlägen und Geringschätzung geprägt war. Es ist daher nur zu verständlich, dass Baron selbst in den ersten Sätzen des Buches nicht zu finden ist. Er mag der Autor der Geschichte sein, doch das Buch geht um seinen Vater.

Es ist nämlich nicht Baron, der sich selbst als einen „Mann seiner Klasse“ tituliert. Mit dem Titel bezieht er sich auf seinen Vater. Es ist dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen „Klasse“, was ihn zu dem werden ließ, der er war. Baron schreibt selbst, dass das nichts entschuldige, aber doch alles erkläre. Seiner Meinung nach liegt es hauptsächlich am sozialen Hintergrund seines Vaters, dass er sich derart negativ entwickelte. Ich selbst teile Barons Einschätzung ausdrücklich nicht. Eine soziale Herkunft darf weder als Rechtfertigung noch als Erklärung für Gewalt in der Familie herhalten. Dieser Aspekt kann aufschlussreich sein, keine Frage, doch ihn zur „Mutter aller Probleme“ zu degradieren, halte ich für falsch.

Politische Botschaft an der kurzen Leine

Doch da ist mehr. Die Beziehung zwischen Baron und seinem Vater dominiert die Erzählung, auch wenn sein Vater häufig durch Abwesenheit glänzt. Garniert wird die ganze Geschichte allerdings von einem politischen Unterton, der zwar nicht zu unterschätzen ist, aber niemals so ganz die Oberhand gewinnt. Nur gelegentlich kritisiert Baron die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik explizit. Meist begnügt er sich damit, die unhaltbaren Zustände detailgenau zu beschreiben – und dem Leser die Schlussfolgerungen daraus selbst zu überlassen. Er will seine Leser nicht belehren, er will nicht für seine politische Haltung werben.

Konkret bedeutet das eine ziemlich drastische Beschreibung der häuslichen Situation. Beinahe stolz erklärt er, dass er als Kind zwar einer sozialschwachen Familie entstammte, aber nicht in einem sozialen Brennpunkt lebte. In diesem fand er sich erst Jahre später wieder, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Baron erzählt von Begebenheiten, die fast jedes Kind erlebt, welches der sogenannten Unterschicht entstammt. Ausgrenzung von anderen Kindern, Hänseleien in der Schule, der Verzicht auf regelmäßige Urlaubsreisen.

Aufstieg mit Widerständen

Dabei zeichnet Baron sehr deutlich eine Benachteiligung Sozialschwacher in unserer Gesellschaft nach. Deutlich führt er dem Leser die Widerstände vor Augen, die Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland zu meistern haben. Nach dem Tod der Mutter hat das Jugendamt die Familie längst abgeschrieben. Für die Mitarbeiter der Behörde sind Baron und seine Geschwister hoffnungslose Fälle, die Glück haben, wenn sie nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz finden, um danach von der Stütze zu leben. Das Buch liest sich wunderbar als Beleg für die schiere Undurchlässigkeit sozialer Grenzen in unserem Land. Es räumt auf mit der Legende von sozialer Mobilität, wenn man sich nur genug anstrengt. Dass Baron als glücklichem Einzelfall dennoch der Aufstieg gelungen ist, macht ihn als Figur in dem Buch ganz besonders interessant.

Wer letztendlich in Barons Augen verantwortlich ist für die ganzen Missstände, wird in seinem Buch nie wirklich deutlich. Es ist nicht klar, ob er einzig seinem Vater die Schuld dafür gibt, dass er sich vor Hunger den Schimmel von den Wänden einverleibt. Immerhin bescheinigt er seinem Vater einen Stolz, der ihn davon abhält, für seine Familie Sozialhilfe zu beantragen. Oder ist es Scham? Stolz oder Scham, eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr und sicherlich spielen auch politische Verhältnisse eine Rolle.

Ein Buch als Spiegel

Auf ihrem YouTube-Kanal warb Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kürzlich für Barons Buch. Als mir das Buch dann auch noch vom Spiegel wärmstens empfohlen wurde, war der Kauf so gut wie beschlossen. Ich kaufte es in der Erwartung, bald ein Buch zu lesen, das sich kritisch mit den politischen Verhältnissen im Land auseinandersetzte. Ein Buch, welches um keine linkspopulistische Plattitüde verlegen war. Doch meine Motivation, das Buch zu lesen, änderte sich alsbald.

Denn bereits nach wenigen Seiten war mir der Erzähler mehr als nur vertraut. Schon vor Ende des ersten Kapitels hatte ich so viele Parallelen zu mir selbst entdeckt, dass ich mehr als einmal erstaunt innehielt. Da waren nicht nur sehr viele ähnliche äußere Einflüsse, die Baron gar nicht beeinflussen konnte. Viel mehr faszinierte mich, wie er mit all den Widerständen umging, wie er zu dem Menschen wurde, der sich dazu entschloss, dieses Buch zu schreiben. Und in genau diesem Werdegang fand ich mich selbst wieder.

Ein Drehbuch für’s Anderssein

Vieles wird in unserer Welt übersehen. Manches mit Absicht, manches, weil es sich so gehört. Die Sozialschwachen haben in unserer Gesellschaft selten eine Stimme. Sie gehen seltener zu Wahlen und sind im politischen Diskurs viel zu selten vertreten. Allein der geläufige Begriff Sozialschwache redet den betroffenen ein, für diese Gesellschaft einfach nicht stark genug zu sein. Gerade bei solchen Randgruppen tut es gut, wenn man weiß, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es baut ungemein auf zu wissen, dass man nicht allein ist.

Doch was unterscheidet Baron von seinen Geschwistern, die eine fast identische Biografie haben, heute aber trotzdem von Hartz-IV leben, während er als Journalist Karriere macht? Er ist anders. Und das bin ich auch. Aber er ist nicht besser, genau so wenig wie ich. Mit diesem Anderssein wurde er von frühester Kindheit an konfrontiert – und musste irgendwie damit zurechtkommen. Im Buch erzählt er beispielsweise von Situationen, in denen sich sein Vater und sein Bruder über ihn lustig machen, weil er „zwei linke Hände“ hat. Zum Bücherlesen gut genug, aber zu blöd, eine Glühbirne auszutauschen. Solche Sticheleien tun weh, das weiß ich selbst.

An einer anderen Stelle im Buch wird Baron ein Bürojob prophezeit. Seinem Bruder wird das Los des Bauarbeiters zugeschrieben. So kam es dann auch. Es ist, als wäre Barons Weg vorgezeichnet gewesen, als würde er nach einem verfassten Drehbuch leben, in dem andere darüber entscheiden, was aus ihm wird und wie er sich entwickelt. Mit diesem Schicksal ist er allerdings nicht allein. Genau so wenig, wie Baron sich dem ihm zugeschriebenen Anderssein widersetzen kann, so wenig konnte sein Vater sich jemals gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zur Wehr setzen.

(K)ein Leben auf dem Bau

Wie an den beinah endlosen Texten und politischen Ergüssen auf diesem Blog unschwer zu erkennen ist, fühle auch ich mich im sicheren Umfeld des Büros am wohlsten. Auf dem Bau habe ich nichts verloren. Und das obwohl mein Vater Zeit seines Lebens auf den Baustellen der Region geschuftet hat. Der mir gezeigt hat, wie wichtig und ehrenvoll anständige Arbeit ist. Bei rumgekommen ist trotzdem viel zu wenig dafür.

Baron sieht es offenbar ähnlich und so spürt er eine geistige Verbindung zu seiner Tante Ella, die reichlich spät im Buch erwähnt wird. Wie er wollte sie sich niemals damit abfinden, trotz Arbeit arm zu sein. Sie entzog sich diesem Schicksal durch Heirat. Baron macht es durch Fleiß. Glück haben sie in unserem Land beide dazu gebraucht. Und das ist eine Schande.

Die Suche nach der Wahrheit

Anders als viele andere mit einer ähnlichen Biografie verortet sich Baron politisch ausdrücklich links. Er ist besonders solidarisch veranlagt, kritisiert das kapitalistische System, sieht sich als Weltverbesserer und folgt einer Idee von Gerechtigkeit, die zuweilen das wesentliche übersieht. Mit seiner Vorgeschichte hätte er auch sehr weit rechts landen können. Doch das kam für den Autor nicht in Frage, auch wenn sein Onkel nichts unversucht ließ, Baron die „Begeisterung für den Sozialismus“ auszutreiben.

Baron gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Er sucht nach der Wahrheit. Die glaubt er auf der rechten Seite der Politik nicht finden zu können. Und das sehe ich genauso. Das Streben nach dem Wahren trieb ihn schließlich in ein Germanistikstudium. Hätte er nicht wenigstens gut in Mathe sein können? An dieser Stelle hatte ich eher das Gefühl, einen Spiegel in der Hand zu halten als ein Buch.


Letztendlich verlief Barons Leben ähnlich wie das von vielen. Von zu vielen. Mit unerbittlicher Authentizität legt er sein Leben offen. Er zeigt auf, dass vieles nicht auf Leistung, sondern auf Vorbestimmung zurückzuführen ist. Dass er einer der wenigen glücklichen Einzelfälle ist, denen es gelang, die fast unüberwindbaren Mauern des sozialen Gefälles zu überwinden. Barons Buch macht Mut, doch mahnt auch zugleich, die benachteiligten in der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sie alle haben ihre Geschichten.

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Vergessen ohne Erinnerung

Lesedauer: 8 Minuten

Jeder Täter, der bis zum Exzess gemordet hat, gibt anderen die Möglichkeit, sich abzugrenzen. Nein, SO böse kann man selbst gar nicht sein. Die Prozesse gegen führende Köpfe des NS-Regimes waren richtig und wichtig. Sie offenbarten viel von dem Schrecken, das im Namen des deutschen Volkes verbrochen wurde. Ein Vertuschen war nicht mehr möglich. Ein Distanzieren wurde nötig. Doch für Distanz braucht man Nähe. Erinnern kann sich nur, wer sich der Vergangenheit stellt. Doch was, wenn es in einer Gesellschaft nur Exzesstäter gibt? Was, wenn eine kritische Auseinandersetzung nicht geduldet wird? Gerade heute zeigt sich, wie wichtig eine Kultur des Erinnerns ist, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Eine Kultur, die in Teilen Deutschlands viel zu lange nicht erwünscht war…

Die Frage der Schuld

Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Weite Teile des Landes sind zerbombt, viele Menschen mussten ihr Leben lassen. Alliierte Truppen marschieren in die besiegte Nation ein. Eine Teilung zeichnet sich ab. Neben wirtschaftlichen und politischen Fragen sahen sich die Deutschen aber auch mit einer ganz anderen Herausforderung konfrontiert: die Frage der Schuld. In den Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Sachsenhausen ermordeten die Nazis 6 Millionen Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Andersdenkende. Die Verantwortung war zu groß, als dass sie mit einer Besetzung des besiegten Staats ad acta gelegt werden konnte.

Noch in den 1940ern folgten Prozesse. Die Nürnberger Prozesse gingen in die Geschichte ein. Zwei Dutzend Angeklagte mussten sich für ihre Rolle im NS-Regimes verantworten. Eine grotesk geringe Anzahl an Angeklagten führt man sich die Schrecken des Nationalsozialismus vor Augen. Der Wunsch, zu vergessen, war groß. Vor allem die Deutschen wollten am liebsten nicht mehr an die letzten Jahre denken. Eine zweite Welle an Prozessen lief erst knapp fünfzehn Jahre später an. Mit ihnen wurden weitere grausame Details aus den Vernichtungslagern publik.

Prozesse mit Symbolwirkung

Auch wenn die Prozesse von Frankfurt reichlich spät kamen – sie leisteten einen enormen Beitrag zur Aufarbeitung des NS-Unrechts. Viele Menschen wurden direkt oder indirekt mit dem konfrontiert, was sie durch ihr Wegsehen zuließen. Die Ausrede, man habe von alledem nichts gewusst, verlor an Glaubwürdigkeit.

Für viele hatten diese Prozesse aber auch eine heilsame Wirkung. Denn vor den Richtern mussten sich nur jene verantworten, die außerordentlich viel Schuld auf sich geladen hatten. Vor Gericht standen ehemalige KZ-Aufseher und andere hochrangige Nazis. Jeder Exzesstäter, dem der Prozess gemacht wurde, beschwichtigte den „normalen Bürger“. Die Frage, was man selbst mit dem Grauen zu tun hatte, wurde wieder weiter in den Hintergrund gerückt. Trotzdem fanden die Prozesse statt.

Dabei ist auffallend, dass beide großen Prozesse auf dem Gebiet der Bundesrepublik stattfanden. Die DDR machte es sich da leichter. Sie verweigerte sich jeglicher kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und wälzte die Schuld an den Westen ab. Während man in der Bundesrepublik langsam einsah, dass fast jeder zum Erfolg des menschenverachtenden Regimes beigetragen hatte, verharrte die DDR auf dem Standpunkt, Hitlers Herrschaft war das Werk einzelner. Deswegen war es für die Kommunisten auch richtig, nur einzelne Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Schuld sonst beim kapitalistischen Nachbarn zu suchen.

Eine bessere Gesellschaft

Denn wer in der DDR als ehemaliger Nazi enttarnt wurde, hatte eine weitaus höhere Strafe zu erwarten als in der Bundesrepublik. Enttarnt wurden tatsächlich nur wenige, die verhängten Strafen waren dafür umso drakonischer. Die Sozialisten in der DDR gingen nämlich im Grunde davon aus, dass Faschismus in ihrer Gesellschaftsordnung überhaupt nicht möglich wäre. Der Wurm steckte ihrer Auffassung nach im verhassten kapitalistischen System des Westens. Sie drehten die Sache so, dass im Westen nur deshalb so viele Nazis vor Gericht standen, weil der Kapitalismus eine solche Gesinnung erst ermöglichte oder zwangsläufig dazu führte.

Selbst gestandene Kapitalismuskritiker können bei einer solchen Vereinfachung nur den Kopf schütteln. Eine solch vereinfachte Handhabung wie in der DDR nahm dem Volk als gesamtes nämlich die Verantwortung für das geschehene. Keiner in der DDR musste sich ernsthaft fragen, was er selbst denn zum Gelingen der NS-Herrschaft beigetragen hatte. Wichtig war nur, dass man sich mit einem sozialistischen System eines besseren besonnen hatte. Die DDR verstand den Sozialismus nicht nur als antifaschistisch, sondern als immun gegen den Faschismus.

Die DDR reduzierte das gewesene auf etwas abartiges. Der Faschismus war gemäß der Staatsräson etwas einmaliges, was unter sozialistischen Verhältnissen nie wieder passieren könnte. Die Kommunisten verbreiteten den Irrglauben, der Faschismus wohne nur dem Kapitalismus inne. Die zahlreichen Prozesse in der BRD taten ihr übriges.

Freispruch von Lenins Gnaden

Eine kritische Aufarbeitung fand im sowjetisch kontrollierten Deutschland also nicht statt. Folglich konnten auch keine Präventivmaßnahmen ergriffen werden. In ihrer unerträglichen Selbstsicherheit suchte die DDR-Führung die Schuld einzig beim Westen und sprach sich selbst von jeglicher Schuld frei.

Dabei übersah sie aber getrost, dass auch ihrem Staat eine gewisse nationalistische Note nicht abzusprechen war. Denn die DDR verstand sich als geschlossene Gesellschaft. Nach außen hin wurde das durch die Mauer versinnbildlicht. Nach innen demonstrierten die hohen Tiere wie Walter Ulbricht und Ernst Honecker die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Als Gruppe mit einer Identität musste auch sie sich von anderen Gruppen abgrenzen. Und das funktioniert am besten mit Gegensätzen.

Eine unmögliche Aufholjagd

Die Riege der DDR-Führung versäumte es aber nicht nur, eine kritische Aufarbeitung der NS-Zeit zu ermöglichen, sie verhinderte auch jedwede Erinnerung an die Grauen des Deutschen Reichs. Die furchtbaren Verbrechen dort waren Sache des Westens. Unter den Kommunisten hätte es so etwas nicht gegeben und Punkt.

Faktisch gab es im Osten Deutschlands also keine Erinnerungskultur so wie sie sich spätestens seit den Auschwitz-Prozessen im Westen des Landes durchsetzte. Das ganze Thema wurde als Inbegriff menschlicher Verderbtheit abgehakt. Die simple Erklärung dafür war der Kapitalismus. Eine „Wende“ hin zu einer echten Aufarbeitung der Vergangenheit konnte erst nach dem Fall der Mauer und nach der Einheit Deutschlands ansetzen.

Der Westen hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahrzehnte Vorsprung. In der DDR waren wichtige kritische Fragen stattdessen 40 Jahre lang totgeschwiegen worden. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht mussten sich die „Ossis“ an die „Wessis“ anpassen. Es war für die Bürger der ehemaligen DDR schlicht unmöglich, eine Erinnerungskultur nachzuholen, die das Regime so viele Jahre unterdrückt hatte.

Auch wenn sich die alten und die neuen Bundesländer in vielerlei Hinsicht angenähert haben, konnte sich die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit gerade in den ostdeutschen Bundesländern nicht festigen. Es verwundert daher kaum, dass gerade aus den östlichen Bundesländern der Ruf nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ laut wird.

Das Ende des aktiven Erinnerns

Die Ostdeutschen fühlen sich an vielen Stellen zurecht vom Westen überrumpelt; auch in dieser Frage. Unverschuldet sind sie von einem Extrem ins andere geraten. Fast nahtlos ging der rechtsextreme Terror unter Hitler über in einen linksextremen Fanatismus, der glaubte, seine bloße Existenz wäre ein geeignetes Mittel gegen die Vergangenheit. Als würde der Linksextremismus den Rechtsextremismus ausgleichen. Die Bürger der DDR mussten sich nie kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Nach der Wende wurden sie förmlich dazu gezwungen. Eine Abwehrhaltung dagegen ist beinahe logisch. Wenn dann auch noch andere Faktoren dazwischenkommen, wie eine schlechtere wirtschaftliche Verfassung, gewinnen Parteien wie NPD und AfD leichter an Zustimmung.

Wie wichtig eine Erinnerungskultur ist, liegt auf der Hand. Sehr rechte Parteien hatten es in den westlichen Bundesländern schon immer schwerer, Fuß zu fassen. Doch auch in diesen Bundesländern kann die AfD ein gutes Ergebnis nach dem anderen feiern. Doch hier profitieren die Rechtspopulisten von einem anderen Phänomen. Fast 80 Jahre nach dem Ende der faschistischen Gewaltherrschaft sind immer weniger Zeitzeugen noch am Leben, die aus erster Hand von den Schrecken erzählen können. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie gut die Deutschen sich erinnern können.

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