Politischer Neustart gesucht

Lesedauer: 7 Minuten

Die Demos gegen Rechts reißen nicht ab. Woche für Woche gehen zigtausende Menschen auf die Straße, um klare Kante zu zeigen gegen rechte Hetze, Radikalismus und Deportationsfantasien. Die Demos stellen eindrucksvoll unter Beweis, wie stark sich weite Teile der Bevölkerung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit identifizieren. Die Umfragewerte der AfD berührt das bisher nur peripher. Trotz der bekanntgewordenen Pläne zur sogenannten „Remigration“ von Menschen halten viele der AfD weiterhin die Stange. Hoffnung setzen viele in das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Ob die neue Partei die extreme Rechte wirklich schwächen kann, hängt davon ab, wie überzeugend sie ihr Programm und ihren neuen politischen Stil insbesondere gegenüber den Nichtwählern vertritt.

Die AfD halbieren?

Seit Monaten wird darüber spekuliert, was das neue BSW politisch in Deutschland bewirken kann. Wird es einen Politikwechsel geben? Schließt sich die Repräsentationslücke? Halbiert das Bündnis die AfD? Besonders ans letzterer Frage scheiden sich die Geister. Während manche in der Wagenknechtpartei nichts weiter sehen als neuen populistischen Ballast, glauben manche in der einstigen Linken-Ikone eine politische Heilsbringerin zu erkennen.

Die Umfragewerte der neuen Partei können sich jedenfalls sehen lassen. Schon seit letztem Sommer kursieren Stimmungswerte, die dem Bündnis teilweise mehr als 20 Prozent an Wählerzustimmung attestieren. Das ist insoweit fraglich, da vor einem guten halben Jahr noch nicht einmal feststand, ob die neue Partei überhaupt kommt. Klar wurde dadurch nur: Es gibt Bedarf an einer neuen politischen Akteurin.

Ein realistisches Bild

Seit Gründung des Vorgängervereins und schließlich der Partei ist die Lage nicht mehr so klar. Zwar gibt es immer noch Umfragen, die der Partei eine Zustimmung im deutlich zweistelligen Bereich bescheinigen, andererseits setzt allmählich eine Ernüchterung ein. Für die Thüringen-Wahl im nächsten Herbst beispielsweise klaffen die Prognosen besonders weit auseinander. Während manche Umfragen auf BSW-Werte von 17 Prozent kommen, schafft es die neue Partei in anderen Befragungen nicht einmal über die 5-Prozent – Hürde.

Auch auf Bundesebene scheint sich die Einstelligkeit zu verfestigen. Die Erfolgsaussichten des BSW schmälert das nur bedingt. Die Ergebnisse sind nach dem Gründungsparteitag und dem Bekanntwerden konkreter programmatischer Punkte lediglich realistischer geworden. Dass eine Partei aus dem Stand ein Fünftel der Wähler anspricht, wäre unglaubwürdig und wenig demokratisch gewesen. Für die Umfragewerte gilt vermutlich das gleiche wie für die Partei selbst: Sie wachsen langsam.

Abgestempelt

Obwohl viele von den EU-Wahlen im Juni sprechen, ist es bis dahin noch mehr als drei Monate hin. Sobald die Wahlen noch näherrücken und der Wahlkampf so richtig an Fahrt aufgenommen hat, wird es wahrscheinlich spürbare Veränderungen bei den Zustimmungswerten geben. Bislang zumindest ist von einer Halbierung der AfD durch das BSW wenig zu spüren. Viele sprechen von einer Stammwählerschaft, die für demokratische Alternativen nicht mehr zu gewinnen ist.

Auch hier wird die Zeit zeigen, was in der neuen Partei und vor allem in den bisherigen AfD-Wählern steckt. Denn durch brillante Ideen und großartige Inhalte hat sich die AfD bisweilen nicht hervorgetan. Stattdessen bietet sie ein Forum für verständliche Unzufriedenheit und Verärgerung auf die etablierten Parteien. Ihre Wähler als unrettbar verloren und ewig rechts zu geißeln, ist vermessen und viel zu kurzsichtig. Es ist diese Vorverurteilung, die sie von der selbsterklärten demokratischen Mitte immer weiter wegtreibt.

Eine demokratische Tragödie

Darum ändern auch die zahlreichen Demos gegen Rechts kaum etwas an den Umfragewerten für die AfD.  Wer heute AfD wählt, fühlt sich von den Protesten nicht angesprochen, weil solche Wähler natürlich nicht für die Deportation von Menschen stehen. Es ist eine demokratische Tragödie, dass sie so viele Jahre der AfD überlassen wurden und der einzige Weg zurück zu einem völligen Gesichtsverlust führt, weil man sich eingestehen muss, dass man einer Partei gefolgt ist, die Menschen in Lager stecken will.

Die meisten heutigen AfD-Wähler werden sich bestimmt nicht die Blöße geben, nun doch wieder etabliert zu wählen. Eher noch gehen sie dahin zurück, wo sie herkamen: zu den Nichtwählern. Und tatsächlich befinden wir uns in Deutschland mittlerweile in einer Situation, wo man um jeden dankbar sein muss, der lieber nicht wählt, statt zur AfD überzulaufen. Mehr Politikversagen geht kaum.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die hohen Umfragewerte der AfD entsetzen viele deshalb, weil sie lange Zeit einem gewaltigen Irrtum aufsaßen. Wenn die SPD bei der letzten Bundestagswahl rund 26 Prozent erzielt, dann steht dieses Ergebnis immer in Relation zu allen abgegebenen Stimmen. Nichtwähler werden nicht berücksichtigt. Und ebenso wie sie bei den Wahlen aus dem Raster fallen, so hat man sie auch gesellschaftlich viel zu lange aus dem Blick verloren. Keinen scherte es, dass teilweise deutlich über 20 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause blieb. Dieses enorme demokratische Potenzial ist von den etablierten Parteien kaum noch zu erreichen – dafür aber von Protestparteien wie der AfD.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, die Menschen von der AfD zurückzugewinnen als jetzt. Wenn allen Ernstes über die Deportation von Migranten diskutiert wird, ist eine Grenze erreicht. Die etablierten Parteien bringen’s nicht, darum könnte das BSW als neue politische Kraft gute Chancen haben, Enttäuschte und Frustrierte wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden. Das bisherige Gebaren der neuen Partei lässt zumindest hoffen, dass sie für einen grundsätzlich anderen Politikstil steht.

Aber das BSW ist mehr als nur eine Anhäufung von Versprechen, die den Nichtwählern schon so oft gemacht wurden. Der Gründungsparteitag am 27. Januar hat gezeigt, dass die neue Partei alles andere ist als ein Sammelbecken gescheiterter Politiker. Im BSW engagieren sich erstaunlich viele Quereinsteiger, die mit Politik bislang wenig am Hut hatten. Das sendet ein wichtiges Signal an solche Menschen, die den Wahlen sonst fernblieben. Anders als die AfD verharrt das BSW nicht in der Empörung. Es steht viel mehr für einen politischen Neustart und weckt Hoffnung in den Menschen, dass auch sie die Kraft haben, etwas zu verändern.

Ein Schritt nach dem anderen

Das BSW ist noch keine zwei Monate alt, da beherrschen schon Koalitionsfragen die Debatte. Überraschend ist das nicht: 2024 stehen wichtige Wahlen an. Im Juni wird das EU-Parlament gewählt und im Herbst finden gleich drei Landtagswahlen in Ostdeutschland statt. Natürlich ist es interessant, welche Ambitionen die neue Partei bei diesen Wahlen hat.

Die Signale aus den anderen Parteien sind jedoch alles andere als hoffnungsvoll. Es wird also erst einmal auf die Oppositionsrolle hinauslaufen. Je stärker das BSW in der Opposition abschneidet umso besser. Denn insbesondere eine starke Opposition kann den Diskurs im Land verändern – die AfD ist ein beeindruckendes Negativbeispiel dafür.

Und auch wenn die Medienberichte anderes vermuten lassen: Sahra Wagenknecht steht nicht für jede beliebige Koalition zur Verfügung. Gedankenspiele zur Zusammenarbeit mit der CDU sind rein hypothetischer Natur und belegen stattdessen: Nur Inhalte übereinander legen reicht nicht aus. Viel wichtiger ist es, dass in den etablierten Parteien ein Sinneswandel zustandekommt. Wenn sie ihre Positionen und Ideen wieder so ausrichten, dass sie der Breite der Bevölkerung zugutekommen, ist der Zeitpunkt gekommen, um über Koalitionen zu sprechen.

Eines darf man nicht vergessen: Das BWS findet besonderen Anklang bei Menschen, die von der Politik enttäuscht sind oder sich schon abgewendet haben. Deren Interessen sind bei möglichen Koalitionen unbedingt zu beachten. Sollten sie die neue Partei wählen, ist ihr Vertrauen ein ganz besonders wertvolles Gut. Munteres Koalieren um jeden Preis wird solche Wähler wieder verprellen und sie noch weiter von der Parteiendemokratie entfremden. Nur den extremistischen Kräften wäre damit gedient.


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Die Ära der Traumtänzer

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Ein Ziel vor Augen zu haben, ist eine wichtige Sache. Die meisten treibt eine solche Vision an. Finden sich dann noch überzeugte Mitstreiter, ist das eine unglaublich aufbauende und motivierende Erfahrung. Ihr wesentliches Ziel haben heute aber viele aus den Augen verloren. Immer wichtiger wird es stattdessen, zu bestimmten Themen die richtige Haltung und Einstellung zu haben. Dass am Ende des Weges ein glorreiches Ziel steht, wird immer mehr zur Nebensache, ebenso wie der Umstand, dass am Wegesrand viele mögliche Weggefährten stehen, die nur darauf warten, mitgenommen zu werden. Ihre ausgestreckte Hand wird meist ausgeschlagen, weil ihre moralischen Westen nicht so einwandfrei strahlen wie die eigene. Viele Allianzen und Chancen bleiben so ungenutzt.

Ein gutes Gefühl

Wir dürfen keine Energie von Menschenrechtsverbrechern beziehen. Wir müssen Putin ruinieren. Berlin soll schon bis 2030 klimaneutral sein. All diese Forderungen und Appelle will man intuitiv mit einem klaren Ja bekräftigen. Lauscht man diesen Leitmotiven, hat man ein gutes Bauchgefühl. Es fühlt sich gut an, zu den Guten zu gehören.

Ehrenwerte Motive zu haben, reicht in der Realität allerdings nicht aus. Nur weil man erkannt hat, dass Putin ein Menschenrechtsverbrecher ist und man das klar benennt, ist der russische Aggressor kein bisschen harmloser geworden und die Ukraine kein Stück sicherer. Vieles kann man sich wünschen, aber eine Menge davon wird nicht eintreten. Ein militärischer Sieg über Russland gehört dazu.

Moralisches Wunschdenken

Die Verfechter von Waffenlieferungen, beschleunigter Klimaneutralität und Gendersternchen haben zwei grundlegende Dinge gemeinsam: Es handelt sich meist um die gleichen Personen und es ist schwer, ihren Intentionen etwas entgegenzusetzen. Das liegt daran, dass ihre Ideen und Vorstellungen wirklich nicht schlecht sind. Fast jeder wünscht sich ein friedliches Europa, niemand will diskriminiert werden und alle Menschen wollen eine Welt ohne Klimakatastrophen.

Trotzdem sind es die konkreten Maßnahmen, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Menschen säen. Das Ziel verlieren sie viel zu häufig aus den Augen und ersetzen es durch schwulstige und realitätsferne Wunschvorstellungen, für welche die Zeit noch nicht reif ist. Regelmäßig machen sie den dritten vor dem ersten Schritt.

Einstellungssache

Das geht so weit, dass sie ihre Vorstellungen einer idealen Welt über alles stellen und sich mit nichts weniger zufriedengeben. Die Einstellung zu bestimmten Themen ist für sie wichtiger als die Erringung irgendwelcher Teilerfolge. Sie haben Codes und Indizes generiert, die festlegen, wie treu jemand auf Linie ist. Weicht er zu oft oder zu stark von diesen Vorgaben ab, wird er ausgeschlossen und diffamiert.

Es ist dabei völlig unerheblich, ob die ausgeschlossene Person in Wahrheit für die gleichen Ziele kämpft wie die gefühlte Mehrheitsgesellschaft. Wer mit Impfunwilligen in den Dialog treten will oder die zentrale Rolle der NATO beim eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine anspricht, kann nicht mit ganzem Herzen ein guter Mensch sein oder sich voll und ganz einer gerechten und diskriminierungsfreien Welt verschrieben haben. Die unbefleckte Moral verbietet jegliche Zusammenarbeit mit solchen Menschen, auch wenn sie noch so oft sagen, dass Putin völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen hat.

Auf diese Weise entsteht ein Klima des Gegeneinanders. Jeder normaldenkende Mensch erkennt Putin als einen Verbrecher, der schon für tausende von Morden verantwortlich ist. Er kann diese Verbrechen tagtäglich begehen, weil er sich in einer sehr günstigen Position befindet. Er ist das Oberhaupt des größten Lands der Erde und verfügt über Atomwaffen, mit denen er den Planeten vernichten könnte. Es reicht nicht aus, ihn für diese Offensichtlichkeiten auszuschimpfen und astronomische Summen in einen Krieg zu investieren, dessen Ende noch lange auf sich warten lassen wird.

An einem Strang

Es wäre deutlich effektiver, wenn die Guten sich zusammenschlössen und gemeinsam gegen den russischen Aggressor vorgingen. Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine eint in sehr großer Mehrheit das Ziel, dass sie das Sterben in der Ukraine beenden wollen. Beide Seiten müssen das erkennen und aufeinander zugehen. Diffamierungskampagnen verhindern diese Einigkeit und lassen und schwach dastehen.

Demokratie kann nur gemeinsam gelingen. Sie ist dann besonders schlagkräftig, wenn die Menschen an einem Strang ziehen. Momentan ist das nicht der Fall. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die militärische Unterstützung der Ukraine haben uns einem Frieden keinen Schritt nähergebracht. Stattdessen haben wir uns entzweien lassen und kämpfen gegeneinander. Putin lacht sich währenddessen halbtot über uns.

Fröhliches Kriegskabarett

Solange es salonfähig ist, Menschen mit abweichender Meinung das Allerschlimmste zu unterstellen, sind wir verletzlich und angreifbar. Nicht alle Menschen lassen sich von moralgeleiteter Politik gängeln und bevormunden. Die neue Friedenbewegung im Stile von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht sind daher die zwangsläufige Folge einer Wertepolitik, die viele Menschen vor den Kopf stößt und sie von sich wegtreibt.

Am 25. Februar war nicht das Sprachrohr Moskaus zu hören. Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie sich einerseits Frieden in Europa wünschen und sich andererseits politisch nicht repräsentiert fühlen. Viel eher im Sinne Putins agiert eine Bundesregierung, welche diese Menschen für ihr Ansinnen verlacht und an den Pranger stellt. Damit kommt sie Putin letzten Endes viel stärker entgegen, weil sie die Bundesrepublik zum Kriegskabarett des russischen Präsidenten macht.

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Von Armut, Schicksal und vom Verzeihen

Lesedauer: 11 Minuten

Als ich mir vor kurzem Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse zulegte, erwartete ich ein ganz anderes Buch zu lesen als ich es schließlich tat. Die Werbung suggerierte ein politisches Buch, der Einband ließ ein sehr persönliches Buch erwarten. Letztendlich las ich beides zur gleichen Zeit. Ein Mann seiner Klasse ist ein Buch, welches die Lebenswirklichkeit derer darlegt, die im allgemeinen als abgehängt in unserer Gesellschaft gelten. Es ist die Geschichte eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg ging. Nun zieht er eine erste Bilanz und möchte doch nur eines: seinem Vater verzeihen.

Autobiografie ohne Ich?

Wenn in einem reichen Land ein Junge aus lauter Verzweiflung den Schimmel von den Wänden kratzt und ihn sich anschließend in den Mund steckt, dann läuft etwas gewaltig schief in dem Land. Und wenn ein Vater seine Frau und seine Kinder dermaßen tyrannisiert und drangsaliert, dass sein eigener Sohn nicht an seinem Sterbebett auftaucht, dann lief etwas gewaltig schief in seinem Leben. Im Grunde sind das die beiden wichtigsten Botschaften aus Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse. Was das Buch genau ist – Autobiografie, politische Abhandlung oder einfach nur eine besonders drastisch erzählte Geschichte – darüber bin ich mir bis heute nicht im klaren. Wie gut, dass sich alle drei Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen.

Bei der Intention des Buches sehe ich schon deutlich klarer. Es ist in erster Linie der Versuch Barons, mit seinem Vater Frieden zu machen. Das Kapitel zu Ende zu bringen, das Buch endlich zuzuklappen. Deswegen dreht sich das Buch vor allem um die Kindheit des Autors. Trotzdem beginnt die Erzählung, wie man es von einem autobiografischen Text gar nicht erwarten würde: mit einem Sterbenden. Und noch etwas anderes mutet bereits nach einigen wenigen Sätzen merkwürdig an. Der Autor ist gar nicht anwesend. Am Sterbebett des Vaters steht nicht er, sondern sein Bruder. Die wichtigste Person der Geschichte ist dennoch von Anfang an da. Es ist Barons Vater, dem der Leser als erstes begegnet. Ihm gebührt nicht nur der erste, sondern auch der letzte Satz des Buches.

Ein Mann seiner Klasse

Mit dem ersten Absatz des Buches ist der Leser von Anfang an drin: in einem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Warum es Baron im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich war, seinem Vater zu Lebzeiten die letzte Ehre zu erweisen, das stellt er selbst in dem Buch anschaulich dar. Der Leser kann auf knapp 300 Seiten erkunden, was letztendlich zu der traurigen Szene am Anfang des Buches geführt hat.

Das Buch ist nicht als Erzählung des Schicksals eines beliebigen armen Jungens angelegt. Vom ersten Satz an ist der Text viel eher eine Auseinandersetzung mit einer Vaterfigur, die oft gefehlt hat. Es ist die Aufarbeitung eines Verhältnisses, das von Alkohol, Schlägen und Geringschätzung geprägt war. Es ist daher nur zu verständlich, dass Baron selbst in den ersten Sätzen des Buches nicht zu finden ist. Er mag der Autor der Geschichte sein, doch das Buch geht um seinen Vater.

Es ist nämlich nicht Baron, der sich selbst als einen „Mann seiner Klasse“ tituliert. Mit dem Titel bezieht er sich auf seinen Vater. Es ist dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen „Klasse“, was ihn zu dem werden ließ, der er war. Baron schreibt selbst, dass das nichts entschuldige, aber doch alles erkläre. Seiner Meinung nach liegt es hauptsächlich am sozialen Hintergrund seines Vaters, dass er sich derart negativ entwickelte. Ich selbst teile Barons Einschätzung ausdrücklich nicht. Eine soziale Herkunft darf weder als Rechtfertigung noch als Erklärung für Gewalt in der Familie herhalten. Dieser Aspekt kann aufschlussreich sein, keine Frage, doch ihn zur „Mutter aller Probleme“ zu degradieren, halte ich für falsch.

Politische Botschaft an der kurzen Leine

Doch da ist mehr. Die Beziehung zwischen Baron und seinem Vater dominiert die Erzählung, auch wenn sein Vater häufig durch Abwesenheit glänzt. Garniert wird die ganze Geschichte allerdings von einem politischen Unterton, der zwar nicht zu unterschätzen ist, aber niemals so ganz die Oberhand gewinnt. Nur gelegentlich kritisiert Baron die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik explizit. Meist begnügt er sich damit, die unhaltbaren Zustände detailgenau zu beschreiben – und dem Leser die Schlussfolgerungen daraus selbst zu überlassen. Er will seine Leser nicht belehren, er will nicht für seine politische Haltung werben.

Konkret bedeutet das eine ziemlich drastische Beschreibung der häuslichen Situation. Beinahe stolz erklärt er, dass er als Kind zwar einer sozialschwachen Familie entstammte, aber nicht in einem sozialen Brennpunkt lebte. In diesem fand er sich erst Jahre später wieder, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Baron erzählt von Begebenheiten, die fast jedes Kind erlebt, welches der sogenannten Unterschicht entstammt. Ausgrenzung von anderen Kindern, Hänseleien in der Schule, der Verzicht auf regelmäßige Urlaubsreisen.

Aufstieg mit Widerständen

Dabei zeichnet Baron sehr deutlich eine Benachteiligung Sozialschwacher in unserer Gesellschaft nach. Deutlich führt er dem Leser die Widerstände vor Augen, die Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland zu meistern haben. Nach dem Tod der Mutter hat das Jugendamt die Familie längst abgeschrieben. Für die Mitarbeiter der Behörde sind Baron und seine Geschwister hoffnungslose Fälle, die Glück haben, wenn sie nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz finden, um danach von der Stütze zu leben. Das Buch liest sich wunderbar als Beleg für die schiere Undurchlässigkeit sozialer Grenzen in unserem Land. Es räumt auf mit der Legende von sozialer Mobilität, wenn man sich nur genug anstrengt. Dass Baron als glücklichem Einzelfall dennoch der Aufstieg gelungen ist, macht ihn als Figur in dem Buch ganz besonders interessant.

Wer letztendlich in Barons Augen verantwortlich ist für die ganzen Missstände, wird in seinem Buch nie wirklich deutlich. Es ist nicht klar, ob er einzig seinem Vater die Schuld dafür gibt, dass er sich vor Hunger den Schimmel von den Wänden einverleibt. Immerhin bescheinigt er seinem Vater einen Stolz, der ihn davon abhält, für seine Familie Sozialhilfe zu beantragen. Oder ist es Scham? Stolz oder Scham, eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr und sicherlich spielen auch politische Verhältnisse eine Rolle.

Ein Buch als Spiegel

Auf ihrem YouTube-Kanal warb Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kürzlich für Barons Buch. Als mir das Buch dann auch noch vom Spiegel wärmstens empfohlen wurde, war der Kauf so gut wie beschlossen. Ich kaufte es in der Erwartung, bald ein Buch zu lesen, das sich kritisch mit den politischen Verhältnissen im Land auseinandersetzte. Ein Buch, welches um keine linkspopulistische Plattitüde verlegen war. Doch meine Motivation, das Buch zu lesen, änderte sich alsbald.

Denn bereits nach wenigen Seiten war mir der Erzähler mehr als nur vertraut. Schon vor Ende des ersten Kapitels hatte ich so viele Parallelen zu mir selbst entdeckt, dass ich mehr als einmal erstaunt innehielt. Da waren nicht nur sehr viele ähnliche äußere Einflüsse, die Baron gar nicht beeinflussen konnte. Viel mehr faszinierte mich, wie er mit all den Widerständen umging, wie er zu dem Menschen wurde, der sich dazu entschloss, dieses Buch zu schreiben. Und in genau diesem Werdegang fand ich mich selbst wieder.

Ein Drehbuch für’s Anderssein

Vieles wird in unserer Welt übersehen. Manches mit Absicht, manches, weil es sich so gehört. Die Sozialschwachen haben in unserer Gesellschaft selten eine Stimme. Sie gehen seltener zu Wahlen und sind im politischen Diskurs viel zu selten vertreten. Allein der geläufige Begriff Sozialschwache redet den betroffenen ein, für diese Gesellschaft einfach nicht stark genug zu sein. Gerade bei solchen Randgruppen tut es gut, wenn man weiß, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es baut ungemein auf zu wissen, dass man nicht allein ist.

Doch was unterscheidet Baron von seinen Geschwistern, die eine fast identische Biografie haben, heute aber trotzdem von Hartz-IV leben, während er als Journalist Karriere macht? Er ist anders. Und das bin ich auch. Aber er ist nicht besser, genau so wenig wie ich. Mit diesem Anderssein wurde er von frühester Kindheit an konfrontiert – und musste irgendwie damit zurechtkommen. Im Buch erzählt er beispielsweise von Situationen, in denen sich sein Vater und sein Bruder über ihn lustig machen, weil er „zwei linke Hände“ hat. Zum Bücherlesen gut genug, aber zu blöd, eine Glühbirne auszutauschen. Solche Sticheleien tun weh, das weiß ich selbst.

An einer anderen Stelle im Buch wird Baron ein Bürojob prophezeit. Seinem Bruder wird das Los des Bauarbeiters zugeschrieben. So kam es dann auch. Es ist, als wäre Barons Weg vorgezeichnet gewesen, als würde er nach einem verfassten Drehbuch leben, in dem andere darüber entscheiden, was aus ihm wird und wie er sich entwickelt. Mit diesem Schicksal ist er allerdings nicht allein. Genau so wenig, wie Baron sich dem ihm zugeschriebenen Anderssein widersetzen kann, so wenig konnte sein Vater sich jemals gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zur Wehr setzen.

(K)ein Leben auf dem Bau

Wie an den beinah endlosen Texten und politischen Ergüssen auf diesem Blog unschwer zu erkennen ist, fühle auch ich mich im sicheren Umfeld des Büros am wohlsten. Auf dem Bau habe ich nichts verloren. Und das obwohl mein Vater Zeit seines Lebens auf den Baustellen der Region geschuftet hat. Der mir gezeigt hat, wie wichtig und ehrenvoll anständige Arbeit ist. Bei rumgekommen ist trotzdem viel zu wenig dafür.

Baron sieht es offenbar ähnlich und so spürt er eine geistige Verbindung zu seiner Tante Ella, die reichlich spät im Buch erwähnt wird. Wie er wollte sie sich niemals damit abfinden, trotz Arbeit arm zu sein. Sie entzog sich diesem Schicksal durch Heirat. Baron macht es durch Fleiß. Glück haben sie in unserem Land beide dazu gebraucht. Und das ist eine Schande.

Die Suche nach der Wahrheit

Anders als viele andere mit einer ähnlichen Biografie verortet sich Baron politisch ausdrücklich links. Er ist besonders solidarisch veranlagt, kritisiert das kapitalistische System, sieht sich als Weltverbesserer und folgt einer Idee von Gerechtigkeit, die zuweilen das wesentliche übersieht. Mit seiner Vorgeschichte hätte er auch sehr weit rechts landen können. Doch das kam für den Autor nicht in Frage, auch wenn sein Onkel nichts unversucht ließ, Baron die „Begeisterung für den Sozialismus“ auszutreiben.

Baron gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Er sucht nach der Wahrheit. Die glaubt er auf der rechten Seite der Politik nicht finden zu können. Und das sehe ich genauso. Das Streben nach dem Wahren trieb ihn schließlich in ein Germanistikstudium. Hätte er nicht wenigstens gut in Mathe sein können? An dieser Stelle hatte ich eher das Gefühl, einen Spiegel in der Hand zu halten als ein Buch.


Letztendlich verlief Barons Leben ähnlich wie das von vielen. Von zu vielen. Mit unerbittlicher Authentizität legt er sein Leben offen. Er zeigt auf, dass vieles nicht auf Leistung, sondern auf Vorbestimmung zurückzuführen ist. Dass er einer der wenigen glücklichen Einzelfälle ist, denen es gelang, die fast unüberwindbaren Mauern des sozialen Gefälles zu überwinden. Barons Buch macht Mut, doch mahnt auch zugleich, die benachteiligten in der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sie alle haben ihre Geschichten.

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