Politischer Neustart gesucht

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Die Demos gegen Rechts reißen nicht ab. Woche für Woche gehen zigtausende Menschen auf die Straße, um klare Kante zu zeigen gegen rechte Hetze, Radikalismus und Deportationsfantasien. Die Demos stellen eindrucksvoll unter Beweis, wie stark sich weite Teile der Bevölkerung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit identifizieren. Die Umfragewerte der AfD berührt das bisher nur peripher. Trotz der bekanntgewordenen Pläne zur sogenannten „Remigration“ von Menschen halten viele der AfD weiterhin die Stange. Hoffnung setzen viele in das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Ob die neue Partei die extreme Rechte wirklich schwächen kann, hängt davon ab, wie überzeugend sie ihr Programm und ihren neuen politischen Stil insbesondere gegenüber den Nichtwählern vertritt.

Die AfD halbieren?

Seit Monaten wird darüber spekuliert, was das neue BSW politisch in Deutschland bewirken kann. Wird es einen Politikwechsel geben? Schließt sich die Repräsentationslücke? Halbiert das Bündnis die AfD? Besonders ans letzterer Frage scheiden sich die Geister. Während manche in der Wagenknechtpartei nichts weiter sehen als neuen populistischen Ballast, glauben manche in der einstigen Linken-Ikone eine politische Heilsbringerin zu erkennen.

Die Umfragewerte der neuen Partei können sich jedenfalls sehen lassen. Schon seit letztem Sommer kursieren Stimmungswerte, die dem Bündnis teilweise mehr als 20 Prozent an Wählerzustimmung attestieren. Das ist insoweit fraglich, da vor einem guten halben Jahr noch nicht einmal feststand, ob die neue Partei überhaupt kommt. Klar wurde dadurch nur: Es gibt Bedarf an einer neuen politischen Akteurin.

Ein realistisches Bild

Seit Gründung des Vorgängervereins und schließlich der Partei ist die Lage nicht mehr so klar. Zwar gibt es immer noch Umfragen, die der Partei eine Zustimmung im deutlich zweistelligen Bereich bescheinigen, andererseits setzt allmählich eine Ernüchterung ein. Für die Thüringen-Wahl im nächsten Herbst beispielsweise klaffen die Prognosen besonders weit auseinander. Während manche Umfragen auf BSW-Werte von 17 Prozent kommen, schafft es die neue Partei in anderen Befragungen nicht einmal über die 5-Prozent – Hürde.

Auch auf Bundesebene scheint sich die Einstelligkeit zu verfestigen. Die Erfolgsaussichten des BSW schmälert das nur bedingt. Die Ergebnisse sind nach dem Gründungsparteitag und dem Bekanntwerden konkreter programmatischer Punkte lediglich realistischer geworden. Dass eine Partei aus dem Stand ein Fünftel der Wähler anspricht, wäre unglaubwürdig und wenig demokratisch gewesen. Für die Umfragewerte gilt vermutlich das gleiche wie für die Partei selbst: Sie wachsen langsam.

Abgestempelt

Obwohl viele von den EU-Wahlen im Juni sprechen, ist es bis dahin noch mehr als drei Monate hin. Sobald die Wahlen noch näherrücken und der Wahlkampf so richtig an Fahrt aufgenommen hat, wird es wahrscheinlich spürbare Veränderungen bei den Zustimmungswerten geben. Bislang zumindest ist von einer Halbierung der AfD durch das BSW wenig zu spüren. Viele sprechen von einer Stammwählerschaft, die für demokratische Alternativen nicht mehr zu gewinnen ist.

Auch hier wird die Zeit zeigen, was in der neuen Partei und vor allem in den bisherigen AfD-Wählern steckt. Denn durch brillante Ideen und großartige Inhalte hat sich die AfD bisweilen nicht hervorgetan. Stattdessen bietet sie ein Forum für verständliche Unzufriedenheit und Verärgerung auf die etablierten Parteien. Ihre Wähler als unrettbar verloren und ewig rechts zu geißeln, ist vermessen und viel zu kurzsichtig. Es ist diese Vorverurteilung, die sie von der selbsterklärten demokratischen Mitte immer weiter wegtreibt.

Eine demokratische Tragödie

Darum ändern auch die zahlreichen Demos gegen Rechts kaum etwas an den Umfragewerten für die AfD.  Wer heute AfD wählt, fühlt sich von den Protesten nicht angesprochen, weil solche Wähler natürlich nicht für die Deportation von Menschen stehen. Es ist eine demokratische Tragödie, dass sie so viele Jahre der AfD überlassen wurden und der einzige Weg zurück zu einem völligen Gesichtsverlust führt, weil man sich eingestehen muss, dass man einer Partei gefolgt ist, die Menschen in Lager stecken will.

Die meisten heutigen AfD-Wähler werden sich bestimmt nicht die Blöße geben, nun doch wieder etabliert zu wählen. Eher noch gehen sie dahin zurück, wo sie herkamen: zu den Nichtwählern. Und tatsächlich befinden wir uns in Deutschland mittlerweile in einer Situation, wo man um jeden dankbar sein muss, der lieber nicht wählt, statt zur AfD überzulaufen. Mehr Politikversagen geht kaum.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die hohen Umfragewerte der AfD entsetzen viele deshalb, weil sie lange Zeit einem gewaltigen Irrtum aufsaßen. Wenn die SPD bei der letzten Bundestagswahl rund 26 Prozent erzielt, dann steht dieses Ergebnis immer in Relation zu allen abgegebenen Stimmen. Nichtwähler werden nicht berücksichtigt. Und ebenso wie sie bei den Wahlen aus dem Raster fallen, so hat man sie auch gesellschaftlich viel zu lange aus dem Blick verloren. Keinen scherte es, dass teilweise deutlich über 20 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause blieb. Dieses enorme demokratische Potenzial ist von den etablierten Parteien kaum noch zu erreichen – dafür aber von Protestparteien wie der AfD.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, die Menschen von der AfD zurückzugewinnen als jetzt. Wenn allen Ernstes über die Deportation von Migranten diskutiert wird, ist eine Grenze erreicht. Die etablierten Parteien bringen’s nicht, darum könnte das BSW als neue politische Kraft gute Chancen haben, Enttäuschte und Frustrierte wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden. Das bisherige Gebaren der neuen Partei lässt zumindest hoffen, dass sie für einen grundsätzlich anderen Politikstil steht.

Aber das BSW ist mehr als nur eine Anhäufung von Versprechen, die den Nichtwählern schon so oft gemacht wurden. Der Gründungsparteitag am 27. Januar hat gezeigt, dass die neue Partei alles andere ist als ein Sammelbecken gescheiterter Politiker. Im BSW engagieren sich erstaunlich viele Quereinsteiger, die mit Politik bislang wenig am Hut hatten. Das sendet ein wichtiges Signal an solche Menschen, die den Wahlen sonst fernblieben. Anders als die AfD verharrt das BSW nicht in der Empörung. Es steht viel mehr für einen politischen Neustart und weckt Hoffnung in den Menschen, dass auch sie die Kraft haben, etwas zu verändern.

Ein Schritt nach dem anderen

Das BSW ist noch keine zwei Monate alt, da beherrschen schon Koalitionsfragen die Debatte. Überraschend ist das nicht: 2024 stehen wichtige Wahlen an. Im Juni wird das EU-Parlament gewählt und im Herbst finden gleich drei Landtagswahlen in Ostdeutschland statt. Natürlich ist es interessant, welche Ambitionen die neue Partei bei diesen Wahlen hat.

Die Signale aus den anderen Parteien sind jedoch alles andere als hoffnungsvoll. Es wird also erst einmal auf die Oppositionsrolle hinauslaufen. Je stärker das BSW in der Opposition abschneidet umso besser. Denn insbesondere eine starke Opposition kann den Diskurs im Land verändern – die AfD ist ein beeindruckendes Negativbeispiel dafür.

Und auch wenn die Medienberichte anderes vermuten lassen: Sahra Wagenknecht steht nicht für jede beliebige Koalition zur Verfügung. Gedankenspiele zur Zusammenarbeit mit der CDU sind rein hypothetischer Natur und belegen stattdessen: Nur Inhalte übereinander legen reicht nicht aus. Viel wichtiger ist es, dass in den etablierten Parteien ein Sinneswandel zustandekommt. Wenn sie ihre Positionen und Ideen wieder so ausrichten, dass sie der Breite der Bevölkerung zugutekommen, ist der Zeitpunkt gekommen, um über Koalitionen zu sprechen.

Eines darf man nicht vergessen: Das BWS findet besonderen Anklang bei Menschen, die von der Politik enttäuscht sind oder sich schon abgewendet haben. Deren Interessen sind bei möglichen Koalitionen unbedingt zu beachten. Sollten sie die neue Partei wählen, ist ihr Vertrauen ein ganz besonders wertvolles Gut. Munteres Koalieren um jeden Preis wird solche Wähler wieder verprellen und sie noch weiter von der Parteiendemokratie entfremden. Nur den extremistischen Kräften wäre damit gedient.


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Rechtes Überangebot

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Die neugegründete Partei „Bündnis Deutschland“ versteht sich als konservative Alternative zur CDU und wählbarere Konkurrenz für die AfD. Sie will politisch Heimatlose und Enttäuschte abholen und sie wieder in den demokratischen Diskurs einbinden. Im Dickicht des rechten Spektrums ist sie eine weitere neoliberale Gruppierung, die wie von selbst aus dem Boden zu sprießen scheinen. Und tatsächlich haben immer mehr Menschen in Deutschland das Gefühl, ihre Interessen würden politisch nicht abgebildet werden. Die Repräsentationslücke klafft jedoch nicht auf der rechten Seite des demokratischen Meinungskorridors. Immer deutlicher wird, dass echte linke Parteien mittlerweile Mangelware auf den Wahlzetteln sind.

Alternative zur Alternative

Seit dem 20. November 2022 ist die deutsche Parteienlandschaft um eine Partei reicher. Mit dem Bündnis Deutschland hat sich eine weitere Gruppierung formiert, die sich klar rechts der CDU verortet. Laut eigenen Angaben sehen die Gründerinnen und Grüner der Partei eine Repräsentationslücke im konservativen Spektrum, die von der AfD nicht gefüllt wird. Die neue Partei soll all jenen Wählerinnen und Wählern eine politische Heimat bieten, die sich eine klar konservative und wirtschaftsliberale Politik in Deutschland wünschen. Gesprächen mit anderen Parteien zeigt sich das Bündnis offen.

Die Neugründung ging groß durch die Medien. Die Mitglieder der ersten Stunde hatten ausgiebig Gelegenheit, der breiten Öffentlichkeit die Ziele ihrer Partei zu erläutern. Man wolle spätestens bei der Bürgerschaftswahl in Bremen im kommenden Frühjahr erste politische Erfolge erzielen. Trotzdem stellt sich unweigerlich die Frage, ob ein solch großes Presseecho angemessen war. Immerhin versuchten in den letzten Jahren mehrere Parteien, der AfD den Rang abzulaufen. Jedes dieser Projekte erlitt aber bösen Schiffbruch. Das Bündnis Deutschland hat bis zum heutigen Tage noch nicht einmal einen Wikipedia-Artikel.

Ähnlich wie die Blaue Partei von Frauke Petry und die Liberal-Konservativen Reformer von Bernd Lucke besteht die neue Partei zu einem beträchtlichen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der AfD. Auch Überläufer der CDU suchen in dem Bündnis ein neues politisches Glück. Anders als die hoffnungslosen Versuche der ehemaligen AfD-Vorsitzenden besteht die Führungsriege von Bündnis Deutschland nicht aus AfD-Abtrünnigen. Damit enden die Unterschiede zu den rechten Splitterparteien der letzten Jahre auch schon. Auch dem Bündnis Deutschland wird eine programmatische Nähe zur FDP nachgesagt, besonders in Fragen der Wirtschaftspolitik. Es ist daher durchaus möglich, dass die Partei hier punkten kann, weil sich die Liberalen in der Ampelkoalition verheddert und sich gerade bei wirtschaftlichen Fragen kaum durchsetzen können.

Politisch verwahrlost

Die AfD kann viele dieser enttäuschten Wähler nicht mehr mobilisieren. Nach einigen Erfolgsjahren kurz nach der Gründung schrumpft die Partei besonders auf Länderebene immer mehr auf eine verlässliche Stammwählerschaft politisch Frustrierter zusammen. Sie sind schon lange keine Protestwähler mehr, sondern wählen aus gewohntem Frust die AfD. Eine große Zahl an Protestwählern der Jahre 2014 bis 2019 ist wieder dahin zurückgekehrt, wo sie herkamen: ins Nichtwählerlager.

Die AfD zeigte kurzzeitig das demokratische Potenzial dieser Wählerinnen und Wähler auf. Sie waren durchaus für eine politische Beteiligung zu begeistern, auch wenn mit der AfD natürlich kein Blumentopf zu gewinnen war. Das starke Abschneiden der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl 2017 war schockierend, hätte aber auch als Weckruf genutzt werden können. Stattdessen war es von Anfang an verpönt, Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Mit diesen Menschen wollte man weder vor noch nach der Wahl etwas zu tun haben – und erst recht nicht mit ihren Sorgen und Ängsten.

Der Rechtsruck der Linken

Früher waren es linke Parteien, welche diese Menschen abgeholt haben. Lange vorbei sind aber die Zeiten, in denen sich die SPD für ihre Belange einsetzte. Gerhard Schröder, der Kanzler der Bosse, hat dann auch noch die letzten Wähler vertrieben, die nach einer echten linken Alternative gesucht hatten. Die Linke fing diese enttäuschten Wähler einige Jahre lang auf, bis sie damit begann, sich hauptsächlich mit sich selbst zu beschäftigen. Sehenden Auges ließ man die sorgengeplagten Menschen nach rechts abwandern. Dort wählen einige zuverlässig die AfD oder eine der anderen zahlreichen neurechten Parteien. Das Bündnis Deutschland beruft sich auf eine Repräsentationslücke im rechten Spektrum. In Wirklichkeit herrscht in dieser Ecke aber ein absurdes Überangebot.

Keine dieser rechten Parteien hat sich in den letzten Jahren nennenswert bewegt. Die AfD wurde mit einer offensichtlichen Tendenz zum Rechtsextremismus gegründet. Dieses bei der Parteigründung einkalkulierte Risiko hat die Partei zwischenzeitlich aufgefressen und gibt heute den Ton in der Partei an. Die anderen rechten Parteien wurden oftmals aufgrund der vielen Grenzüberschreitungen der erfolgreichen AfD gegründet oder weil sich die Partei immer mehr als Fundamentalopposition versteht.

Bewegung und Veränderung gab es hingegen im linken Spektrum. Die Grünen haben die meisten ihrer einstigen Grundsätze vollends über Bord geworfen und sind spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine glühende Kriegsverehrer. Die SPD ist durch die vielen Jahre in der Großen Koalition dauerhaft entstellt und die Linken hoffen insgeheim, den freigewordenen Platz der Grünen einzunehmen und würden dafür vielleicht sogar bereitwillig rechts der Sozialdemokraten platznehmen.

Frust ohne Protest

Eine aussichtsreiche traditionell linke Partei gibt es in Deutschland derzeit nicht. Eine Repräsentationslücke macht das aber noch nicht. Beobachtet man aber dann den Hype, der um eine mögliche Wagenknecht-Partei veranstaltet wird, sieht die Lage schon ganz anders aus. Ganz offensichtlich gibt es eine nicht zu unterschätzende Zahl an Menschen, die sich eine dezidiert linke Partei wünschen, die den Kurs der populären linken Politikerin folgt. Verlässliche Schätzungen gehen sogar von einem Wählerpotenzial von bis 30 Prozent aus, was fast dem Niveau einer Volkspartei entspricht. Wahrscheinlich würden nicht alle diese Menschen eine solche Partei tatsächlich wählen, aber sie alle würden die Gründung einer neuen linken Partei als Bereicherung in der Parteienlandschaft ansehen.

Aber egal, ob links oder rechts: Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sieht sich im derzeitigen politischen Spektrum nicht abgebildet. Dass die derzeitigen Herausforderungen wie Energiekrise, Klimawandel und Krieg die Menschen vor enorme Probleme stellen, liegt auf der Hand. Sie haben allen Grund unzufrieden und empört zu sein. Ihr Protest ist dafür erschreckend leise. Es gibt keine ernstzunehmende politische Kraft, welche dieses Potenzial bündelt und zum Ausdruck bringt. Die groß angekündigten Sozialproteste des Heißen Herbst blieben bislang größtenteils aus. Weder AfD noch Linken gelang es, nennenswert viele Menschen auf die Straßen zu bringen.

Es ist nicht gut für eine Demokratie, wenn das Land so augenscheinlich gegen die Wand gefahren wird und die Mehrheit schweigt. Selbst wer die Maßnahmen der Bundesregierung feiert, muss zugeben, dass sie für einen großen Teil der Bevölkerung sehr einschneidend sind und unweigerlich zu Kritik führen müssen. Jeder, der noch recht bei Trost ist, muss sich in diesen Zeiten wundern, warum die Straßen ein paar verzogenen Gören gehören, aber nicht den abertausenden an Menschen, die Angst haben vor der nächsten Heizkostenabrechnung. Wenn diese Menschen der Demokratie nicht für immer verlorengehen sollen, muss eine neue Partei her. Und zwar schnell.


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Weimar forever

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Seit einer Woche ist der Rechtsrutsch in Italien besiegelt. Das Rechtsbündnis um Giorgia Meloni erreichte bei den Wahlen vom 25. September die absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis übertraf sogar die Umfragewerte. Nicht nur das erschreckend gute Abschneiden rechter Parteien bei der Wahl ist ein Alarmsignal: Im Gegensatz zu 2018 nahm die Wahlbeteiligung erneut ab. Wie lange sich Meloni an der Spitze der Regierung hält, wird die Zeit zeigen. Ihre Wahl zur Regierungschefin wird die demokratischen Verhältnisse in dem südeuropäischen Land jedoch nicht festigen.

Triumph für Rechts

Giorgia Meloni wird die nächste Ministerpräsidentin Italiens. Das gilt als sicher. Sie ist damit die erste Frau in diesem Amt, aber nicht die erste Rechtspopulistin. Viele stufen die Politikerin sogar als rechtsextrem ein. Der Sieg von Giorgia Meloni ist für einige ein Schlag ins Gesicht. Ihr Triumph kommt aber nicht überraschend.

Der fulminante Sieg des Rechtsbündnisses setzt einen Trend fort, der sich seit Jahren immer weiter aufbaut. Nicht nur in Italien sind die Rechten auf dem Vormarsch. Auch in anderen Ländern Europas gibt Rechtsaußen bei vielen Themen den Ton an.  Die AfD hat sich mittlerweile in der deutschen Parteienlandschaft fest etabliert, mit Marine Le Pen war für eine waschechte Rechtsextremistin das französische Präsidentschaftsamt zum Greifen nah, in Polen regiert seit einigen Jahren die nationalistische PiS-Partei. Letztere setzt sich vehement gegen das Recht auf Abtreibung ein und befördert die Diskriminierung von Homosexuellen und Transmenschen. Die Politik dieser Parteien spricht wahrlich Bände.

Mehrheit für die Nichtwähler

Der rechte Rand erlebt auch außerhalb Europas einen regelrechten Höhenflug. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro baut sein Land Schritt für Schritt in ein autokratisches Regime um und auch den US-Amerikanern wird die Präsidentschaft Donald Trumps wohl noch lange nachhängen.

All diese politischen Entwicklungen eint, dass sie anhand der Wahlergebnisse auf eine erschreckend große Resonanz treffen. Teilweise unterstützen mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler die Politik von Trump, Gauland, Meloni und Co.. Dass die Wahlbeteiligung in vielen Ländern gering ist, macht die Sache nur schlimmer. Anscheinend ist es einem Großteil der Bevölkerungen egal, wie stark die extreme Rechte in ihren Ländern ist. Sie nehmen ihr Recht auf politische Einflussnahme nicht wahr. Die Wahlergebnisse in fast allen Ländern mit Rechtsruck sind daher nicht repräsentativ, aber leider real.

Rechte Rattenfänger

Georgia Meloni ist eine Postfaschistin. Zahlreiche ihrer Äußerungen weisen darauf hin. Benito Mussolini will sie als fähigen Staatsmann verstanden wissen, der neben vielen Erfolgen ein paar Fehler gemacht hat. Es ist erschreckend, wie eine solche Person das bedeutendste Staatsamt Italiens bekleiden darf.

Fairerweise muss dazugesagt werden, dass nicht alle rechten Wähler Melonis Fratelli d’Italia ihre Stimme gaben. Viele von ihnen wählten auch die anderen Parteien des Bündnisses, setzten durch ihre Wahl von Personen wie Silvio Berlusconi aber dennoch ein deutliches Zeichen.

Trotzdem ist es nicht so, dass die Mehrheit dieser Wählerinnen und Wähler faschistisch eingestellt sind. Die meisten von ihnen sind verzweifelt und enttäuscht. Sie merken, dass viele politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sie überfordern und ihre Vertreterinnen und Vertreter in den Parlamenten keine angemessenen Lösungen dagegen anbieten. Sie fühlen sich zurecht abgehängt und im Stich gelassen.

Besonders enttäuscht sind viele von ihnen von der EU, die es sich in ihren Augen zum Sport gemacht hat, schwächere Mitgliedländer wie Italien oder Griechenland an der kurzen Leine zu halten und zu gängeln. In der Folge sind viele Bürgerinnen und Bürger nationalistischen Strömungen zugeneigt, die ihnen einen abgesicherten Raum ohne nennenswerte Einflussnahme von äußeren Kräften vorgaukeln.

Von Krise zu Krise

Dazu kommen aktuelle Entwicklungen und die Krisen der letzten Jahre. Wie kein anderes Land ist Italien weiterhin von den Folgen der Coronapandemie gezeichnet. Die Bilder von Leichensäcken, die aus italienischen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getragen wurden, gingen um die Welt. Die gestiegenen Energiepreise aufgrund des russischen Einfalls in der Ukraine treffen Italien ebenfalls besonders hart. Auch dieses Land wird von kalten Wintertagen nicht verschont bleiben und viele Menschen wissen nicht, wie sie die anstehenden Kosten stemmen sollen.

Wie bei der PiS-Partei in Polen spielt auch die Fratelli d’Italia die religiöse Karte aus. Italien ist ein vom strengen Christentum geprägtes Land und reagiert anders auf religiöse Chiffren als das in Ländern wie Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Die Menschen haben außerdem gesehen, dass sich an ihren alltäglichen Problemen kaum etwas ändert, obwohl die Regierungen am laufenden Band wechselten. Für einige war das ein Grund mit der Wahl von Melonis Rechtsbündnis härtere Geschütze aufzufahren, für manch andere war es Anlass, daheimzubleiben.

Keine politische Konstante

Italien ist seit Jahren eines der Sorgenkinder der EU. Nicht nur die Finanzkraft des Landes bereitet der Union ernsthafte Sorgen, auch die demokratische Verfasstheit des Landes ist weniger gefestigt als in anderen Ländern. Die Menschen in Italien haben keine politische Konstante, an denen sie sich orientieren können. Während es in Deutschland keine Seltenheit ist, dass ein Bundeskanzler mehr als zehn Jahre durchregiert, kam in Italien kein einziger Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg auf eine so lange Amtszeit. Die Machtwechsel und Kabinettsumbildungen hatten teilweise nicht einmal ein Jahr lang Bestand.

Auch wenn die Demokratie bekanntlich vom Wechsel lebt, überfordert ein zu häufiger Wechsel die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Wahlentscheidung verkommt zum Glücksspiel und ihre Stimme ist wenige Monate später nichts mehr wert. Diese Uneinigkeit in der italienischen Demokratie ist auf Dauer schädlich für das Land.

Dazu kommt, dass einige Regierungswechsel nicht darauf zurückzuführen sind, weil sich die Entscheidungsträger nicht einig waren. Silvio Berlusconi beispielsweise ist korrupt und hat sein Amt deswegen verloren. Es dürfte viele Italienerinnen und Italiener dennoch irritieren, dass er trotzdem mehrfach Regierungschef ihres Landes war und nun wahrscheinlich erneut hohe Staatsämter bekleiden wird. Man kann es den rund 16 Millionen angesichts dieser demokratischen Schieflage nicht übelnehmen, dass sie auf ihr Wahlrecht verzichteten.

Weimar in Dauerschleife

Die Demokratie in Italien konnte seit dem Zweiten Weltkrieg kaum fußfassen. Neben den ständigen Regierungswechseln, dem Rechtsrutsch und den zahlreichen Politskandalen gab es in Italien nie eine ernsthafte Aufarbeitung des Faschismus. Bei Giorgia Melonis Äußerungen zu Benito Mussolini dürfte ein Herr Gauland vor Neid erblasst sein. So viel Vogelschiss hat nicht einmal die AfD zustandegebracht.

Im Grunde erleben die Italiener ein Weimar in Dauerschleife. Während in den 1920ern dauerhaft die Kriegsschuld und der Versailler Vertrag wie ein Damoklesschwert über der deutschen Republik hing, verhindert in Italien die nicht abgetragene Hypothek des Mussolinifaschismus seit Jahrzehnten eine funktionierende Demokratie. Manche Medien schreiben von einer Demokratiemüdigkeit der Italiener. Aber wie soll man von etwas müde sein, was man nie in seiner vollen Blüte erlebt hat? Die Menschen in Italien sind müde davon, sich immer wieder Hoffnungen auf Stabilität und Sicherheit zu machen, um dann doch enttäuscht zu werden. Von der Demokratie sind sie verdrossen und nicht müde.

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