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Ein Fünftel der Wähler wählt rechtsextrem. Der Kanzler braucht zwei Anläufe, um ins Amt zu kommen. Satire ist das Ticket in den Knast. Es steht nicht gut um Demokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland. Doch statt sich diesen offensichtlichen Fehlentwicklungen couragiert entgegenzustellen, reitet eine abgehobene Politikerklasse weiter das tote Pferd vom Kampf gegen Rechts. Doch Verbotsdebatten, geschürte Empörung und Demokratie per Gesetz spornen die Entfremdung nur weiter an.
Verkalkuliert
Ein Verlierer sitzt im Kanzleramt. Und alle Welt kann es sehen. Friedrich Merz vollendete am 6. Mai das, was er vor langer Zeit begonnen hatte: eine Serie von Misserfolgen und Niederlagen. Den Machtkampf gegen seine Kontrahentin Angela Merkel hat er schon vor über zwanzig Jahren verloren, den Parteivorsitz ergatterte er erst beim dritten Anlauf und auch bei der Kanzlerwahl patzte er. Er wollte nicht wahrhaben, wie die Stimmung im Land wirklich ist. Vermutlich waren es ein paar abtrünnige Sozialdemokraten, die ihm einen Schubs in die richtige Richtung geben wollten. Doch auch danach hat er nicht verstanden, dass die Deutschen einen Kanzler Merz einfach nicht wollen.
Seine Devise „Mehrheit um jeden Preis“ ist gescheitert. Es war ihm bis zum Schluss egal, ob es die Grünen, die Rechtsextremen oder eben die Sozen sind, die ihn ins Kanzleramt hieven. Seine Reaktion auf die Verkündung des Ergebnisses des ersten Wahlgangs fiel entsprechend aus – es gab schlichtweg keine. Ohne eine Miene zu verziehen, erhob er sich von seinem Platz und verließ zügig den Saal – kühl, kontrolliert, desinteressiert, als hätte Julia Klöckner gerade ihren privaten Speiseplan verlesen.
Kanzlerwahl um jeden Preis
Wahrscheinlich dürften redselige Schriftführer aus den eigenen Reihen zu dieser gefassten Haltung beigetragen haben. Von Einsicht oder Selbstreflektion war allerdings nichts zu spüren. Für Herrn Merz war dieser Vorfall vermutlich ein einmaliger Ausrutscher, die Tragweite dieses Vormittags und seine Hintergründe sind bei diesem verbohrten Mann nicht angekommen.
Und auch wenn dieses kurzweilige Amüsement am 6. Mai auf das Konto einiger standhafter Sozialdemokraten gehen dürfte, zeigt sich der Juniorpartner in der Koalition auch nicht gerade von seiner selbstkritischen Seite. Zwar fiel die Entscheidung für den Koalitionsvertrag mit rund 85 Prozent scheinbar eindeutig aus, dass sich allerdings 44 Prozent der Parteimitglieder überhaupt nicht an dem Votum beteiligt haben, hätte ein Weckruf sein sollen.
Aktenkundiges Demokratieversagen
Der Fehlstart von Kanzler Merz führte zu großer medialer Aufmerksamkeit und breiter Berichterstattung – in Deutschland und anderswo. Auch der Auslandspresse ist nicht entgangen, wie umstritten Friedrich Merz im eigenen Land ist und wie aufschlussreich sein Scheitern für den Zustand der deutschen Demokratie ist.
Die teilweise spöttischen Kommentierungen zu diesem wenig galanten Amtsantritt sind aber mittlerweile keine Ausnahme mehr in der Berichterstattung über deutsche Politik. Mit Sorge hat jüngst auch der renommierte Economist auf das wahnwitzige Urteil bayrischer Richter reagiert, die einen Journalisten zu sieben Monaten Knast auf Bewährung verurteilt haben, weil er es wagte, die gerade ausgeschiedene Innenministerin Nancy Faeser (SPD) mit einer satirischen Bildmontage zu kritisieren. Die ausländischen Medien haben offenbar erkannt, was die meisten deutschen Politiker vehement bestreiten: Die Meinungsfreiheit in Deutschland ist in Gefahr.
Die Anzeigenhauptmeister
Man muss aber nicht unbedingt den Economist, Le Monde oder den Figaro lesen, um sich über den Zustand der deutschen Demokratie kundzutun. Erst vor kurzem hat eine repräsentative Umfrage von INSA ergeben, dass jeder dritte Bundesbürger schon einmal seine eigene politische Meinung zurückhielt, um nicht in Teufelsküche zu kommen.
Anstatt sich dieser offensichtlichen Fehlentwicklung entgegenzustellen, ist es unter den Mandatsträgern regelrecht zum Sport geworden, möglichst viele unliebsame Bürger mitsamt ihren unbequemen Meinungen anzuzeigen. Spitzenreiter in dieser fragwürdigen neuen Disziplin sind Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Ex-Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), aber durch die erstmalige Verhängung einer Freiheitsstrafe dürfte auch Nancy Faeser von der SPD in höhere Kreise aufgestiegen sein. Das ist übrigens die Frau, die maßgeblich verschiedene Gesetze zur angeblichen Verteidigung der Demokratie vorangetrieben hat.
Ablenkungsmanöver
Auch eine weitere Kennzahl gibt Aufschluss über den Zustand der Demokratie im Land. Mehr als 20 Prozent der Wähler haben am 23. Februar eine erwiesenermaßen rechtsextreme Partei gewählt. Die AfD hat tatsächlich viele Nazis in ihren Reihen. Und sicher meint es diese Partei nicht gut mit Rechtsstaat und Demokratie. Ihr aber die alleinige Schuld für das vergiftete Klima und die gesellschaftlichen Zerwürfnisse zu geben, überschätzt ihre Macht über alle Maße.
Denn auch die AfD kann keinen Rechtsruck herbeizaubern. Das Land ist nicht durchsetzt mit Nazis, die nur auf die AfD gewartet und in der Zwischenzeit andere Parteien gewählt haben. Viele Wähler sind zur AfD abgewandert, weil die übrigen Parteien sie nicht mehr ansprachen. Der Grund für die Stärke der AfD sind fatale politische Fehlentscheidungen und nicht ein Land voller Nazis.
Mit Blindheit geschlagen
Doch die Rechtsextremen könnten bei der nächsten Wahl 30 Prozent holen und es würde sich nichts Grundsätzliches am Umgang mit ihren Wählern ändern. Um diesem Szenario dennoch vorzubeugen, wird in den letzten Wochen wieder stärker über ein Verbotsverfahren gegen die AfD diskutiert. Noch heftiger kann man die Wähler dieser Partei nicht vor den Kopf stoßen. Ein solches Verbot käme einer vollständigen politischen Entmündigung gleich und wird von vielen Kritikern völlig zurecht als Umerziehungsmethode gedeutet.
Mittlerweile greifen die etablierten Parteien nach jedem Strohhalm, der sich ihnen bietet, um die AfD zu schwächen – und erreichen damit regelmäßig das Gegenteil. Auch die zigste Verbotsdebatte wird daran nichts ändern. Mit windigen Tricks wie kurzfristigen Anpassungen der Geschäftsordnung im Bundestag, der Einberufung eines abgewählten Parlaments und dem systematischen Vorenthalten von Schlüsselpositionen spielen die vielgelobten demokratischen Parteien auf Zeit, weil auch sie immer deutlicher spüren, dass die Uhr tickt.
In ihrem leidenschaftlichen Kampf gegen Rechts ergeben sie sich widerstandslos ihrem Schicksal. Sie sind mit Blindheit geschlagen und haben nicht die Kraft, das Ruder herumzureißen. Immer mehr entwickelt sich der Bundestag zur Lachbude der Nation, wo sich eine Politikerklasse einnistet, die den Bezug zur Bevölkerung lange verloren hat. Wie viele Wahlgänge und Koalitionspartner wohl beim nächsten Mal nötig sind?