Endemische Idiotie

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Menschen sind unglaublich kreativ, wenn es darum geht, ihre Ziele zu erreichen oder ihr Gesicht zu wahren. Auch die selbsternannten Querdenker nutzen jedes Schlupfloch, um ihre abstrusen Theorien am Leben zu erhalten. Wir sollten Nachsicht mit ihnen haben: Die Querdenkenbewegung setzte der Unterdrückung der Idiotie das lange ersehnte Ende. Seit ungefähr zwei Jahren ist es keine Schande mehr, egozentrisch, unsolidarisch und rücksichtslos zu sein. Die geschrumpfte Maskenpflicht ist daher eher ein Mittel, den nun arbeitslosen Querdenkern den Sinn ihres Lebens zu erhalten.

Starrsinn vs. Einsicht

Irren ist menschlich. Es einzusehen leider nicht. Kein Mensch gibt gerne zu, einen Fehler gemacht zu haben oder lange Zeit einem Irrglauben aufgesessen zu sein. Auch wenn viele von sich behaupten, sie schätzten es an Menschen, wenn diese zu ihren Fehlern stünden – die Reaktionen auf die revidierte Impfentscheidung von Joshua Kimmich waren entlarvend. Der ungeimpfte Nationalspieler erklärte nach seiner überstandenen Corona-Erkrankung, sich nun doch impfen zu lassen. Das Wort „Häme“ hat seitdem eine ganz neue Dimension entwickelt.

Die Menschen mögen es nicht, eigene Fehler als solche zu benennen. Denn wer das tut, macht sich auch angreifbar. Man müsste zugeben, dass die andere Seite doch rechthatte. Das ist unbequem und das kann schmerzhaft sein. Deswegen konstruieren Menschen Gründe, weswegen ihre Überzeugungen nicht eingetreten sind. Nachdem sich im Sommer 2021 ein Großteil der Deutschen hat impfen lassen, die Fallzahlen im Herbst und Winter aber erneut in die Höhe schnellten, da waren die Schuldigen schnell ausgemacht: Die Ungeimpften leisteten dem Virus enormen Vorschub. Dieses Argument war angesichts 2G natürlich völlig realitätsfremd, aber eine Zeit lang salonfähig. Mit der rasanten Ausbreitung der Omikronvariante hat sich aber letztendlich doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Wirksamkeit der Impfstoffe ernsthaft in Zweifel zu ziehen ist.

Nachdem auch ein Großteil der dreifach Geimpften erkrankt war, sanken Impfeuphorie und Befürwortung einer allgemeinen Impfpflicht im Land deutlich. Die Impfung schützt zwar weiterhin vor schweren Verläufen, die Legende der Herdenimmunität ist aber hinfällig.

Gefühlte Wahrheit

Die jüngsten Entwicklungen der Coronapolitik stoßen auch einer weiteren Bevölkerungsgruppe hart auf. Seit den umfangreichen Lockerungen der letzten Wochen und seitdem die Impfpflicht vorerst vom Tisch ist, haben die selbsternannten Querdenker wieder einen schweren Stand. Nachdem sie zu Beginn des Jahres tausende braver Bürger mobilisiert hatten, verläuft sich die Bewegung wieder. Zurück bleibt der harte Kern aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremen und einigen Bequemen, die sich nicht eingestehen können, dass sie sich von den falschen Leuten vor den Karren spannen ließen.

Woche für Woche gingen sie mit ihren Mitstreitern auf die Straße. Sie stellten sich quer zur Impfpflicht und waren empört darüber, dass die Politik ernsthaft eine solche Maßnahme in Erwägung zog. Immer wieder mussten bei den Demonstrationszügen auch die Kinder der Teilnehmer als Grund für den Protest herhalten. Viele von ihnen trieb die Sorge auf die Straße, es könnte bald Schluss sein mit elementaren Grundrechten. Der Verweis auf das bestehende Demonstrationsrecht half dabei wenig. Den Menschen ging es um eine gefühlte Wahrheit, die man ihnen nach zig Wortbrüchen der Politik nicht mal verübeln konnte.

In der Zwickmühle

Nun sind die Befürworter einer Impfpflicht mittlerweile im Bundestag krachend gescheitert. Sie haben es nicht geschafft, die zahlreichen Anträge zu dem Thema in ein stimmiges Gesetz zu gießen, hinter dem sich eine stabile Mehrheit vereint. Damit fiel der wichtigste Demonstrationsgrund der Querdenker weg. Auch der Wegfall der Maskenpflicht in vielen Bereichen und die Aussetzung von 3G kommt den Demonstranten nicht zupass. Solange diese Maßnahmen galten, konnten sie auf den wöchentlichen Demonstrationen und im Alltag durch konsequentes Verstoßen gegen die Regelungen effektiv auf sich aufmerksam machen. Einige von ihnen schmückten ihre Masken auch mit Aufschriften, die auf die angebliche Diktatur hinwiesen. Sie alle würden sich durch das Tragen dieser Demonstrationswerkzeuge nun vollends lächerlich machen, weil ihr innigster Wunsch bereits in Erfüllung gegangen ist.

Viele der Querdenker von gestern stehen vor einer schwierigen Richtungsentscheidung: Möchten sie den liebgewonnenen Gepflogenheiten der letzten Monate abschwören und fortan wieder ein bedeutungsloses Dasein als stimmlose Alltagsidioten fristen oder bevorzugen sie ein Weiterleben als hartgesottene Dauernazis? Manche von ihnen haben sich an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die ihnen in den letzten Monaten zuteilwurde. Der neue Kurs der Coronapolitik bedeutet für sie eine echte Zwickmühle.

Alle im Blick

Doch die Bundesregierung ist die Regierung aller Deutschen, auch wenn viele das anders sehen. Der Kanzler und seine Minister haben einen Eid geleistet, mit dem sie sich verpflichten, Schaden vom Volk abzuwenden. Im Kern besteht eine Hauptaufgabe der Bundesregierung darin, den Menschen im Land das Leben möglichst angenehm zu gestalten.

Dabei haben Scholz, Lauterbach und Co. natürlich auch die Querdenker im Blick. Der Trend durch Omikron war eindeutig: Die Krankheitsverläufe werden milder; viele Maßnahmen werden bald obsolet. Aus medizinischer Sicht ist das eine gute Nachricht. Gesellschaftlich ist es allerdings eine Herausforderung.

Endstation Endemie

Die harten Maßnahmen inklusive Ausgangssperren und Lockdowns waren das Lebenselixier der Querdenker. Mit dem Wegfall dieser einschneidenden Maßnahmen geht ihnen ihre Lebensgrundlage flöten. Sie haben keinen Raum mehr, um ihre Beschränktheit öffentlich darzustellen und ihr verkümmertes Ego aufzuwerten. Aus diesem Grund hat das Bundeskabinett ihnen mit der weiterhin geltenden Maskenpflicht in Bus und Bahn eine goldene Brücke gebaut.

Die öffentlichen Transportmittel bieten den Langzeitidioten einen geschützten Raum, in dem sie weiterhin ihre abstrusen Theorien verbreiten und ihre grenzenlose Dummheit zur Schau stellen können. Indem sie in den Verkehrsmitteln munter gegen die Auflagen verstoßen, zeigen sie, wie sehr ihnen der Schutz ihrer Mitmenschen am Allerwertesten vorbeigeht. Außerdem gibt ihnen der gezielte Verstoß gegen die Maßnahmen für einen Augenblick das Gefühl, wichtig zu sein.

Sie sind es nicht. Ein solches egoistisches Verhalten steht den Anstrengungen zur Eindämmung des Virus fundamental entgegen. Wenn die Infektionszahlen sinken, stecken sich auch weniger vulnerable Personen an. Das ist solchen Menschen aber schon eine Stufe zu hoch. Die Maske ist eines der letzten effektiven Mittel, das wir haben, um der Ausbreitung des Virus entschlossen entgegenzutreten. Die Querdenker haben sich dieser Basismaßnahme im Frühjahr 2020 entzogen und sie tun es auch zwei Jahre später. Die Aussicht auf einen kleinen Moment Aufmerksamkeit ködert sie eher als die Aussicht darauf, gegen eine weiterhin gefährliche Krankheit anzukommen. Corona hat ihr neurotisches Verhalten weiter getriggert. Mit dem Virus haben sie eines gemeinsam: Sie gehen nicht mehr weg.

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Nachträglicher Blankoscheck

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Die Impfkampagne kommt in Deutschland allmählich in die Gänge. Eine beachtliche Zahl an Menschen hat bereits die Erstimpfung erhalten. Manche sind sogar bereits komplett durchgeimpft. Die Impfung ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Der Bundestag hat darum jüngst beschlossen, dass Geimpfte und Genesene von einem Teil der Beschränkungen ausgenommen werden. Diese Lockerungen betreffen aber zunächst nur den privaten Bereich, in dem viele Menschen seit Monaten munter gegen die Auflagen verstoßen. Kaputtgesparte Krankenhäuser und unterbesetzte Gesundheitsämter lassen eine Öffnung des öffentlichen Bereichs weiter nicht zu.

Ein Stückchen mehr Freiheit

Worauf viele seit Monaten gehofft haben, hat der Bundestag nun in der vergangenen Woche beschlossen: Die Grundrechtseinschränkungen von Geimpften und Genesenen werden teilweise zurückgenommen. Wer vollständig gegen Covid-19 geimpft ist oder in den vergangenen sechs Monaten eine Erkrankung überstanden hat, ist fortan mit negativ getesteten Personen rechtlich gleichgestellt.

Die Entscheidung wurde von vielen sehnsüchtig erwartet. Immerhin gelten entsprechende Regelungen in an deren Ländern schon seit längerem. Im Gegensatz zu Deutschland haben in diesen Ländern bereits weit mehr Menschen eine vollständige Impfung gegen das Virus erhalten. Trotzdem ist es richtig, die Grundrechtseinschränkungen laufend zu überprüfen und zurückzunehmen, falls der Grund für die Einschränkungen wegfällt.

Testpflicht statt Impfpflicht

Bis zuletzt hat sich in diesem Zusammenhang besonders Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gegen den Begriff „Privilegien“ gesperrt. Und sie hat völlig recht: Die Rückgabe elementarer Grundrechte ist keine edelmütige Tat, es ist keine staatliche Großzügigkeit, es ist eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall der umfassenden Einschränkungen ist auch verantwortbar, wenn ein adäquates Mittel gefunden ist, das Neuinfektionen verhindert, ohne dass Menschen auf einige ihrer Grundrechte verzichten müssen.

Eine vollständige Impfung gegen das Virus allein reicht hier nicht. Bislang ist weiter ungeklärt, mit welcher Wirksamkeit die Impfstoffe Infektionen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Die Zahlen, die dabei immer wieder in den Raum geworfen werden, basieren auf Testverfahren, die nach weniger als einem Jahr abgeschlossen wurden. Niemand kann bei einer solch verkürzten Forschungsphase seriös die Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit eines Präparats belegen.

Nach aktuellem Kenntnisstand beugen die Impfstoffe zwar einem schweren Krankheitsverlauf vor, die Weitergabe des Virus wird aber nur unzureichend verhindert. Genau darum sollte es beim Kampf gegen die Pandemie aber gehen. Im Vordergrund sollte der Schutz der Gemeinschaft stehen. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn man dafür sorgt, dass man möglichst wenige Menschen ansteckt. Eine Impfung kann ein erster Schritt dazu sein, reicht aber bei weitem nicht aus. Viel sinnvoller wäre die Aufrechterhaltung der Testpflicht für alle Menschen. Auch die Tests arbeiten nicht immer ganz zuverlässig, können im Zweifelsfall aber Infizierte gezielt isolieren, anstatt ihnen einen Freibrief auszustellen.

Es ist kein Wunder, dass viele Menschen die Lockerungen für Geimpfte als Privilegien verstehen, wenn für sie mit der Impfung der Kampf gegen die Pandemie endet. Solange nicht klar ist, dass Geimpfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Überträger des Virus mehr sein können, muss auch für diese Gruppe die Testpflicht weiterhin gelten. Stattdessen dürfen sie nach der Impfung genau das wieder tun, was viele von ihnen seit Monaten sowieso wieder tun.

Infektionen im Verborgenen

Ausgerechnet die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen fallen für Geimpfte als erstes. Dabei tummeln sich die Menschen seit Monaten eng an eng in deutschen Wohnzimmern. Die bisher geltenden Besuchsregelungen handhaben viele äußerst lax oder setzen sich grundsätzlich darüber hinweg. Aus rein menschlicher Sicht fällt es schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Als soziales Wesen braucht der Mensch die Begegnungen und den Austausch mit anderen. Regelmäßige Skype-Sessions und Telefonate können das auf Dauer nicht ersetzen. Eine Infektionsnachverfolgung im privaten Raum ist allerdings wesentlich schwieriger als in öffentlichen Einrichtungen.

Wenn der Staat als erstes diese Regelungen zurücknimmt, tut er sich damit keinen Gefallen. Schon jetzt entziehen sich die privaten Haushalte völlig zurecht der staatlichen Kontrolle. Anstatt möglichen Infektionstreibern mit den nun zugesprochenen Lockerungen einen Blankoscheck auszustellen, würde es deutlich mehr Sinn machen, sie aus den schwer kontrollierbaren Bereichen herauszuholen. Kombiniert mit den jetzt beschlossenen Lockerungen führt der schwache Infektionsschutz der Impfungen zu einer Reihe nicht erkannter Infektionen, die das Infektionsgeschehen weiter anheizen werden. Hätten die Menschen stattdessen die Möglichkeit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Infektionen zumindest teilweise nachverfolgt werden können, würde das die Infektionslage deutlich schneller beruhigen.

Experimentieren mit Halbwissen

Bei solchen Lockerungen wäre allerdings der Staat in der Pflicht. Das öffentliche Leben bedeutet auch öffentliche Verantwortung. Der Staat müsste dafür sorgen, dass die Gastronomie und kulturelle Einrichtungen die ihnen auferlegten Maßnahmen effektiv umsetzen können. Unterbesetzte Gesundheitsämter und kaputtgesparte Krankenhäuser führten jedoch bereits in der ersten Welle der Pandemie dazu, dass die Hygienemaßnahmen in diesen Betrieben in vielen Fällen ins Leere liefen. Dort entstandene Infektionen konnten bald nicht mehr nachverfolgt werden, weil den Behörden schlicht das Personal fehlte.

Die großzügigen Öffnungen im privaten Bereich entlassen den Staat aus dieser Pflicht. Die Geimpften und Nur-so-halb-Corona-Immunen tragen die Verantwortung allein. Trotz fehlender fundierter Erkenntnisse, gaukelt man dieser Gruppe vor, dass von ihr eine weitaus geringere Infektionsgefahr ausgeht als von Ungeimpften. Das kann sogar stimmen. Gesichert ist dieses Wissen aber nicht.

Auf wackeligen Beinen

Gerade in dieser Situation wäre es umso nötiger, die Lockerungen kontrolliert zu vollziehen. Es muss nachvollziehbar bleiben, an welchen Stellen sich Menschen weiterhin anstecken und in welcher Häufigkeit das geschieht. Im privaten Bereich wird das selbst mit stark besetzten und hochdigitalisierten Gesundheitsämtern nur schwer möglich sein. Die voranschreitende Impfkampagne wäre in Kombination mit einer strikten Testpflicht ein großer Schritt zu mehr Normalität gewesen. Gleichzeitig hätten viele gastronomische und kulturelle Betriebe und Geschäfte des Einzelhandels aus ihrer Zwangssiesta erwachen können.

Man hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen lässt man den Zug der Lockerungen ähnlich unkontrolliert rollen wie bereits in der ersten Welle der Pandemie. Die gebeutelte Wirtschaft lässt man damit erneut im Stich. Wenn beizeiten keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist der nächste Lockdown nur eine Frage der Zeit.


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Fair statt quer

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Corona erweist sich immer öfter als fataler Katalysator für Probleme in den unterschiedlichsten Bereichen. Es verschärft die prekären Verhältnisse in den Krankenhäusern und im Gesundheitswesen, es verschlimmert die unmenschlichen Zustände in Schlachtereien, aber es treibt auch die Entfremdung von der Demokratie voran, die lange vor Corona einsetzte. Nur ein echter Politikwechsel hin zu mehr Bürgernähe kann dazu beitragen, ein Auseinanderdriften in Zeiten ohne Abstand zu verhindern.

Schlecht, schlechter, Corona

Diskutieren Politiker, Wissenschaftler und andere Experten über die Folgen der Coronakrise, darf eines nicht fehlen: die Brennglas-Metapher. Besonders gut verdeutlicht sie die Missstände, die durch die Pandemie offensichtlich wurden. Dabei ist sie inzwischen schon fast zu einer Floskel verkommen. Das ist schade, bringt sie die Probleme doch besonders wahr und klar zum Ausdruck. Denn einerseits verschärfte sich die Situation in deutschen Krankenhäusern durch das Virus enorm. Wo der Betrieb bisher mit Ach und Krach gerade so am Laufen gehalten wurde, da befindet sich viel medizinisches Personal heute jenseits seines Limits. Andererseits kann das Brennglas auch nur dort verschlechtern, wo bereits zuvor ein Missstand war. Die extrem dünne Personaldecke in den Krankenhäusern oder die katastrophalen Zustände in deutschen Fleischereibetrieben sind keine Erfindung des Virus.

Unter diesen skandalösen Bedingungen konnte das Virus nur besonders gut gedeihen. Plötzlich wusste jeder im Land, dass die ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Morgen in überfüllten Bussen zur Arbeit gekarrt wurden. Außerhalb der viel zu langen Arbeitszeiten mussten sie in schuhkartonähnlichen Baracken ausharren. Man ist fast geneigt, von Massenarbeiterhaltung zu sprechen.

Ein ernsthaftes Problem

Es ist richtig, dass all das nun endlich an die Öffentlichkeit kam. Es ist ebenso richtig, dass sich die Menschen darüber empören und die Politik unter Druck setzen. Richtig wäre auch, wenn diesen Problemen endlich Abhilfe geschaffen würde. Es stimmt aber leider genau so, dass ein Missstand bis heute viel zu wenig zur Sprache kam. Die Corona-Pandemie hat doch auch offensichtlich gezeigt, in welch schlechtem Zustand sich unsere Demokratie heute befindet.

Ich meine damit übrigens nicht, dass die Parteien darüber streiten, wie sie rechtzeitig zur Bundestagswahl genügend Kandidaten aufstellen sollen oder in welcher Form die Wahlen überhaupt stattfinden. All das sind Probleme, die relativ leicht zu lösen sind. Ich rede vom frappierenden Vertrauensverlust gegenüber der Demokratie, der durch die Pandemie besonders deutlich wurde. Es ist nämlich nicht so, dass die selbsternannten Querdenker lediglich von Stadt zu Stadt ziehen und eine Demo nach der anderen abhalten. Sie ziehen regelmäßig tausende Menschen an, die ihnen folgen, ihnen zuhören und sie sogar bejubeln. Am schlimmsten allerdings ist: Sie glauben ihnen.

Nun kann man leicht die Nase rümpfen und sich über diese Aufläufe echauffieren. Man kann diese Menschen sehr einfach als Nazis, Reichsbürger und anderes undemokratisches Geschmeiß diffamieren. Und ganz bestimmt besteht der harte Kern der Querdenker aus solchen Leuten. Es leuchtet allerdings nicht ein, wo diese Anti-Demokraten auf einmal alle hergekommen sein sollen. Es muss doch einen Anlass dafür geben, warum sie für die Theorien dieser Szene so empfänglich sind. Sie protestieren laut, dass sie die Schnauze endgültig vollhaben. Was also hat ihre Schnauzen so lange gefüllt?

Eine Luftnummer

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das deutsche Grundgesetz ist eindeutig: Das Volk ist der Souverän. Die Politikerinnen und Politiker sind verpflichtet, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu handeln. Schaut man sich allerdings das Regierungshandeln der letzten Jahre an, so ist von diesem Grundsatz nicht viel geblieben. Menschen arbeiten in äußerst prekären Arbeitsverhältnissen, die Rente reicht vielen hinten und vorne nicht, in den Schulen bröckelt der Putz von der Decke. Gleichzeitig werden Millionen in unsinnigen Mautbestrebungen versenkt, die Rüstungsindustrie muss nicht einmal mehr „Bitte“ sagen und Banken werden mit Steuergeldern aus der selbstverschuldeten Krise gezogen. Mit echter Demokratie und Volksnähe hat das nichts zu tun.

Seit vielen Jahren hört die Regierung viel eher auf die Befindlichkeiten der Wirtschaft als auf die realen Nöte ihrer Bevölkerung. Den bisherigen Höhepunkt erreichte diese Interessensverirrung tatsächlich in der Coronakrise. Die Regierung steckte Milliarden an Steuergeld in die Lufthansa, um das marode Unternehmen auch in der Krise weich landen zu lassen. Wow, könnte man jetzt meinen, endlich mal was für Arbeitsplätze und soziale Absicherung. Doch weit gefehlt! Nicht ein Cent war an den tatsächlichen Erhalt eines einzigen Arbeitsplatzes geknüpft. Stattdessen kündigte Lufthansa jüngst an, fast 30.000 Stellen zu streichen.

Und raus bist du

Die Bodenhaftung und das Gespür für die Sorgen und Nöte der ganz normalen Bevölkerung hat die Politik vor langer Zeit verloren. Resigniert haben viele längst das Handtuch geworfen und wurden zu Nichtwählern. Es ändert sich ja doch nichts. Man kann wählen, wen man will, die persönlichen Lebensumstände tangiert das nicht einmal peripher. Diese Ignoranz hat viele Menschen vom demokratischen Diskurs entwöhnt. Sie selbst haben viele der Spielregeln der Demokratie verlernt, weil sie lange nicht mitspielen durften. Das führt dann beispielsweise zu einer völligen Umdeutung des Begriffs der Meinungsfreiheit. Für immer mehr bedeutet die Meinungsfreiheit heute, dass sie unwidersprochen sagen können, was sie wollen. Es ist die penetrante Taubheit der Regierung gegenüber den Menschen, die zu dieser verqueren Entwicklung geführt hat.

Durch Corona sind wir einer Situation gelandet, die schnelles und unbequemes Handeln erfordert. Das beinhaltet auch eine temporäre Einschränkung einiger Grundrechte. Selbst in Zeiten einer blühenden Demokratie wäre so etwas eine Zumutung. Doch in der jetzigen Situation haben wir es mit einer großen Zahl an Skeptikern zu tun, die sich in ihrer Meinung bestätigt fühlen. Die Beschneidung der Grundrechte interpretieren sie doch zwangsläufig als direkten Angriff auf die Demokratie. Nachdem lange an ihnen vorbeiregiert wurde, müssen sie doch jetzt davon ausgehen, dass es tatsächlich ihrer persönlichen Freiheit an den Kragen geht.

Mehr als drei Kreuzchen

Rechten Rattenfängern spielt das natürlich in die Karten. Längst hat sich die AfD mit der Querdenkerszene verbrüdert. Anstatt nun alle Menschen, die auf solche Demos gehen, pauschal als Verschwörungstheoretiker und Rechte abzutun, muss es doch die oberste Priorität echter Demokraten sein, diesem wilden Treiben von rechts Einhalt zu gebieten. Denn die Ultrarechte wird es immer geben. Wichtigstes Anliegen muss sein, die Menschen durch echte Bürgerbeteiligung nicht einmal in diese Richtung denken zu lassen.

Offensichtlich reicht es vielen Menschen nicht aus, alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen. Zwischen den Wahlen fühlen sie sich häufig ohnmächtig. In Deutschland hat sich eine politische Kultur etabliert, in der von den Bürgern erwartet wird, ihre demokratischen Rechte in der Wahlkabine abzugeben. Aber nur wenn die Geschicke des Landes auch nach und vor einer Wahl beeinflusst werden können, entsteht echte Demokratie. Nur wenn das Volk das Parlament effektiv kontrollieren kann, wird Frust zu Begeisterung und Verdruss zu Motivation.

Wenn der Souverän entscheidet

Ein Bürgerrat ist ein sinnvoller Schritt, um die Interessen aus dem Volk ins Parlament zu tragen. Über Bürgervetos sollen die Menschen bemächtigt werden, Nein zu kritischen Gesetzen zu sagen, wenn sie andere konstruktive Vorschläge machen können. Sollten Bürgerbegehren tatsächlich zu Gesetzesvorlagen führen, sollten die Menschen dazu berechtigt sein, in bundesweiten Volksabstimmungen darüber zu entscheiden.

All diese Initiativen würden die Politik enorm beleben. Besonders die Parteien würden davon profitieren, weil sie neue Anreize hätten, möglichst viele Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. Auch die Menschen selbst wären zufriedener, weil sie die Gewissheit hätten, dass sie an den Entscheidungen beteiligt waren. Sie würden viel eher hinter Gesetzen stehen, als wenn jemand darüber entscheidet, dem sie vor Urzeiten einmal ihre Stimme gegeben haben.

Das alles lässt sich aber nur dann realisieren, wenn die Politik endlich begreift, dass sie mit ihrer unsäglichen Wirtschaftshörigkeit auf keinen grünen Zweig kommt. Es muss nicht immer darum gehen, dass sie etwas rechnet. In manchen Bereichen hat der Profitgedanke nichts zu suchen. Wirtschaftspolitische Entscheidungen müssen im Einklang mit Bürgerinteressen stehen. Wenn es andersrum erwartet wird, verlieren die Menschen den Glauben an die Demokratie. Stattdessen glauben sie solchen, denen es ganz bestimmt nicht um die Wahrheit geht.


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„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

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