„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

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Nie seit der Wende wurde in Deutschland so laut und so unüberhörbar „Wir sind das Volk“ gerufen wie in den letzten Jahren. Nie seit der Einheit wurden so ungeniert Deutschlandflaggen geschwenkt wie in den letzten Jahren, Fußball-Großereignisse ausgenommen. Und nie wurde trotz allem so sehr an der Meinungsfreiheit in unserem Land gezweifelt wie heute.

Ein geeintes und freies Land

Deutschland im Herbst 2019. Seit 30 Jahren ist die Mauer weg. Seit 29 Jahren ist auch die Einheit auf der Landkarte verwirklicht. Wovon viele Ostdeutsche jahrzehntelang träumten, ist nun auch in den neuen Bundesländern Realität: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Freiheit der Berufswahl, Freiheit der Person, Freiheit der Meinung und der Rede. Im Bundestag sitzen aktuell sieben Parteien, aufgeteilt in sechs Fraktionen. Eine solche Vielfalt an unterschiedlichen Strömungen war zuletzt Ende der 1950er im Bundesparlament vertreten.

Nichtsdestotrotz fallen immer wieder Begriffe wie „Altparteien“, „politischer Mainstream“ und „Lügenpresse“. Mancheiner spricht gar von Zensur. Menschen gehen zuhauf auf die Straße, um ihrer Empörung über die Politik der letzten Jahre Luft zu machen. Offen fordern sie die Bundeskanzlerin zum Rücktritt auf. Sie haben Angst vor einer Überfremdung im Land, sie bangen um ihre Jobs. Sie vermissen eine faire und kritische Berichterstattung in den Medien. Sie sagen ihre Meinung.

Das können sie in Deutschland auch. Denn hierzulande gilt die Meinungsfreiheit. Durch Artikel 5 des Grundgesetzes ist sie verbrieftes Recht eines jeden Bürgers. Doch die Bedeutung des Begriffs der Meinungsfreiheit hat sich in jüngster Zeit gewandelt. Immer häufiger wird Meinungsfreiheit mit ungezügelter Meinungsäußerung gleichgesetzt. Und genau das ist sie nicht. Bereits der Text im Grundgesetz macht auf die Grenzen der Meinungsfreiheit aufmerksam. So darf die geäußerte Meinung weder dem Strafgesetz zuwiderlaufen noch die „Ehre“ des anderen verletzen.

Von Gutmenschen, Kapazitätsgrenzen und Völkerball

Ganz praktisch heißt das, der Spaß hört auf, wenn zu Straftaten aufgerufen wird, der Holocaust geleugnet wird oder das Gegenüber schlicht beleidigt wird. Meinungsfreiheit bedeutet schließlich auch immer die Freiheit des anderen. Und genau hier liegt der Hund begraben. Was in den letzten Jahren zu beobachten ist, ist nicht der Abbau von Meinungsfreiheit. Es ist eine geringere Bereitschaft, die Meinung anderer zu akzeptieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen und den anderen ernstzunehmen.

Kritik begegnen viele mit einer fast automatischen Abwehrhaltung. Dem Gegenüber wird immer seltener die Freiheit zugestanden, anderer Meinung zu sein. Wer nicht alles in Grund und Boden verdammt, was von der Bundesregierung kommt, ist selbstredend ein linksgrün-versiffter Gutmensch. Dieser Mechanismus funktioniert auch in die andere Richtung. Sahra Wagenknecht spricht von offensichtlichen Grenzen der Aufnahmebereitschaft von Asylsuchenden? Kusch, kusch, ins braune Eck!

Solche Diffamierungen sind einer ernsthaften Debatte natürlich nicht zuträglich. Viel eher unterdrücken solche Verbarrikadierungen jede faire Diskussion. Es ist wesentlich bequemer, sich von Schutzwällen aus Anschuldigungen und Vorverurteilungen vor der Meinung anderer abzuschotten. Viele Menschen haben verlernt, was es bedeutet, miteinander zu diskutieren. Wer ernsthaft miteinander ins Gespräch kommen möchte, muss auch immer einen Teil seiner selbst offenlegen. Debattieren geht eben nicht ohne Zugeständnisse. Andere mit der eigenen Meinung abwerfen und bloß nicht vom Gegenüber getroffen werden – das bringt uns nicht weiter. Wir müssen weg von dieser Völkerballlogik. Es nützt viel mehr, die Hand aufzuhalten und den Ball wieder aufzufangen.

Der Wolf im Schafspelz

In Ray Bradburrys Roman „Fahrenheit 451“ löschen die Feuerwehrmänner nicht etwa Brände. Im Gegenteil, sie legen Feuer, um unliebsame Kritik aus der Welt zu schaffen. Etwas ähnliches können wir heute beobachten. Die am lautesten gegen Zensur auf die Straße gehen, haben oft mit Meinungsfreiheit selbst nicht viel am Hut. Nicht jeder, der sich zum Fürsprecher der freien Rede aufschwingt, lässt andere gerne zu Wort kommen. Wie in Bradburrys Klassiker tarnen sich die Feinde der Meinungsfreiheit als deren Verfechter, die den angeblich um sich greifenden Brand der Zensur löschen wollen. Sie implizieren, dass die freie Meinung in Deutschland akut bedroht sei. Wer jedoch auf die Straße gehen darf, umringt und geschützt von hunderten Polizisten, um den Verfall der Meinungsfreiheit zu beklagen, der braucht sich genau darum eigentlich keine Sorgen zu machen.

Glaubt man gewissen rechten Parteien, so könnte man meinen, der Staat wirft im Minutentakt unliebsame Kritiker in die Kerker unter dem Kanzleramt. Fakt ist allerdings: Noch nie wurde in diesem Land ein einziger Demonstrant von Pegida, noch ein anderer „besorgter Bürger“, aufgrund seiner bloßen Meinung mit staatlichen Repressalien überzogen. Der inzwischen beinahe geflügelte Satz „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ impliziert, dass bereits heute tabu ist, was gestern noch völlig legitim war. Die wenigsten realisieren, dass das gesagte schon immer tabu war. Sie entlassen sich mit diesem Satz selbst aus der Verantwortung, das geäußerte kritisch zu hinterfragen. Sie mobilisieren sich gegenseitig und begreifen nicht, dass am Ende genau das Gegenteil von echter Meinungsfreiheit steht.

Meinungsfreiheit vs. Meinungsäußerung

Künstliche Bedrohungskulissen haben schon oft zum Ziel geführt. Die Rechtspopulisten heute bringen sich in die Opferrolle, um unliebsame Kritik zu entwerten. Sie suggerieren direkte Angriffe auf die Meinungsfreiheit, um die Freiheit anderer einzuschränken. Doch ein solch perfides Vorgehen lässt sich auch bei anderen Akteuren beobachten. Stichwort „Rüstungsetat“: Die Verteidigungsministerin AKK will auf Biegen und Brechen das heilige Zwei-Prozent – Ziel erreichen. Ihre Logik geht an den Fakten ebenso vorbei wie die der AfD. Lauscht man AKKs Reden, so könnte man meinen, der Russe stünde vor dem Brandenburger Tor, während der Franzose gerade im Saarland einmarschiert. Das ist ebenso an den Haaren herbeigezogen wie die von Rechtspopulisten verbreitete Mär, es gäbe Gesinnungshaft.

Immer häufiger wird Meinungsäußerung gegen Meinungsfreiheit ausgespielt. Es gibt einen Ort auf dieser Welt, an dem das häufiger geschieht als anderswo. Ein Ort, wo jeder das sagt, was ihm auf der Seele brennt. Ein Ort, an dem sich die meisten unangreifbar fühlen und nicht mit Gegenwehr rechnen: Der Küchentisch. Dort wird alles rausgehauen, was in anständigen Diskussionen keinen Platz gefunden hat. Entweder, weil die nötigen Argumente fehlen oder weil man eigentlich gar keine Lust hat, darüber ernsthaft zu debattieren. Das gute am Küchentisch: Was dort gesagt wird, bleibt dort.

Beim Internet ist das nicht so. Dieser gigantische öffentliche Küchentisch ist eine wahre Fundgrube an unterschiedlichen Ansichten und Meinungen. Kopflos wird hier eine Provokation nach der anderen vom Stapel gelassen. Guter Nährboden für eine sachliche Diskussion ist das wirklich nicht. Und genau darum geht es im Internet auch gar nicht. Viele Menschen sind einfach froh, dort all das sagen zu dürfen, womit sie anderswo mit Gegenwind zu rechnen hätten. Einige verkriechen sich hinter der Anonymität des Netzes. Meinungsaustausch rückt immer mehr in den Hintergrund. Meinungsmache leider nicht.

Immerhin gibt es bestimmte Algorithmen, die die angezeigten Inhalte für Nutzer vorauswählen. Ein negativer Kommentar unter einem Bild kann dazu führen, dass man bald eine Reihe weiterer negativer Kommentare zu dem Werk vorgeführt bekommt. Man fühlt sich kurzzeitig in seiner Meinung bestätigt, bevor sachlich recherchierte Nachrichten das soeben errichtete Gebäude zum Einsturz bringen wollen. Natürlich reagiert man dann mit Entrüstung. Und mancheiner spricht dann sogar von Lügenpresse.

Die digitale Ghettoisierung

Das wirklich bedenkliche ist, dass das Internet zum Teil ein rechtsfreier Raum ist. Erst kürzlich hat das Landgericht Berlin entschieden, dass die Bundestagsabgeordnete Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) auf das übelste beleidigt werden darf. Viel zu lange hat man versäumt, das Strafrecht auch im Internet anzuwenden – und es wird weiter versäumt. Es greift nicht einmal zu weit, wenn man sagt, es entstünden regelrechte Parallelwelten im Internet. Im Zuge dieser digitalen Ghettoisierung kann jeder beinahe unbehelligt in seiner Blase leben. Jeder kann sich seine eigene Realität so herrichten, wie es ihm beliebt. Das Internet bietet die ideale Voraussetzung dafür: Unpassende Fakten und Meinungen werden einfach ausgeblendet. Passt doch einmal etwas nicht in die eigene Wirklichkeit, wird mit harten Bandagen zurückgeschlagen.

Fakt ist: Es gibt in Deutschland die Meinungsfreiheit – und es wird sie auch weiterhin geben. Aber man darf eben nicht alles sagen, was man denkt. Wer es trotzdem tut, der leidet an Tourette. Das war viele Jahre lang absolut unstrittig. Heute ist es das nicht mehr. Ja, die Meinungsfreiheit in diesem Land ist bedroht. Aber nicht von staatlicher Zensur. Die Menschen scheinen eher zu vergessen, was Meinungsfreiheit bedeutet und wie wertvoll sie ist.

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