Gefühlte Demokratie

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Wie es um unsere Demokratie und um unseren Rechtsstaat steht, dieser Frage kann man heute kaum aus dem Weg gehen. Ein Polit-Talk hier, eine Protestdemo dort. Die Menschen sind politisiert wie lange nicht. Dieser Trend lässt sich spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 beobachten. Immer mehr Menschen gehen immer lauter auf die Straße, um ihre Rechte einzufordern. Sei es, um zu zeigen, wer zum Volk gehört und wer nicht, um aufzuzeigen, wie das Klima gerettet werden kann oder um sich gegen die Beschneidung von Grundrechten zu wehren. Der Demokratie ist das nicht immer zuträglich.

Wahlen ohne Demokratie

Grundsätzlich gilt: Ein Land wird nicht deshalb zur Demokratie, weil in ihm regelmäßig Wahlen abgehalten werden. Nur der verwegenste Staatsforscher würde auf die Idee kommen, die Türkei als eine funktionierende Demokratie zu bezeichnen. Oder Beispiel Israel: Trotz hochfrequent stattfindender Wahlen ist dieses tief gespaltene Land immer weiter von einer echten Demokratie entfernt. Zuletzt haben sich die politischen Pole zu einer großen Koalition zusammengeschlossen. Wie lange das gutgeht, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass das mit Volkswille wenig zu tun hat.

Auch die deutsche Demokratie ist nach einer Serie von großen Koalitionen schwer gebeutelt. Über viele Jahrzehnte standen sich die beiden großen Volksparteien CDU und SPD in scharfer Konkurrenz gegenüber. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren – weder von der einstigen Größe noch von der verbissenen Konkurrenz. In einer Mischung aus Machtgier und Rechthaberei hat man sich auf einen faulen Kompromiss nach dem anderen eingelassen. Dass das Reichstagsgebäude inzwischen stattliche sechs Fraktionen beherbergt, ist ebenso nicht zwingend ein Ausdruck funktionierender Meinungspluralität.

Anscheinend hat selbst der verschlafenste Parlamentarier inzwischen erkannt, dass der Zustand der deutschen Demokratie kritisch ist. Das Thema kann noch so abstrakt oder willkürlich sein: in fast jeder Bundestagsdebatte findet sich mindestens ein Abgeordneter, der die Werte des Rechtsstaats hochhält. An und für sich kein weiter verwerfliches Verhalten, bedenkt man, dass das Grundgesetz in diesem Jahr stolze 75 wird. Aber warum ist das explizite Werben für Demokratie und Rechtsstaat überhaupt notwendig, wenn angeblich beides so gut funktioniert?

Sind wir Rechtsstaat?

Bis vor einigen Wochen waren sie kaum zu übersehen: An Bahnhöfen, auf öffentlichen Plätzen und bei Behörden sprangen einen die Plakate der Aktion „Wir sind Rechtsstaat.“ förmlich an. Offensiv wurde hier für das schwierige Geschäftsmodell Rechtsstaat geworben. Zunächst feierte ich die Plakate, auf denen Richterinnen, Journalisten und Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen zu sehen waren. Doch mit der Zeit dämmerte es mir, wie schwer es ist, Demokratie und Rechtsstaat per Werbekampagne zu promoten. Ein Blick in die Nachrichten zeigt, dass sich beides nicht erzwingen oder verschreiben lässt. Die Gesellschaft muss diese Werte leben. Ist es nicht beinahe zu spät, wenn der Staat Geschütze wie die PR-Kampagne „Demokratie und Rechtsstaat“ auffahren muss?

Denn wen der Rechtsstaat verloren hat, der ist nur sehr schwer wieder zurückzugewinnen. Die Kampagne hilft vor allen Dingen, Zweiflern die Stärke dieser Form der Volksherrschaft vor Augen zu führen. Fakt ist allerdings: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist in aller Munde. Beinahe penibel versuchen heute viele, möglichst gute Demokraten zu sein.  Die politischen Extreme scheuen nicht davor, den Demokratiebegriff für sich zu vereinnahmen und in den Dreck zu ziehen.

Eine Kulisse der Angst

Seit 2015 versammeln sich regelmäßig Menschen, die den deutschen Nationalstaat vor einer angeblichen Islamisierung bewahren wollen. Es ist gut und richtig, dass die Gegendemonstranten stets in der Überzahl sind. Doch leider tummeln sich unter diesen von rechts gehassten Gutmenschen auch eine ganze Menge Extremisten vom anderen Rand. Mit teilweise offener Gewalt stellen auch Linksradikale offen infrage, ob jeder Mensch gleich viel wert ist. Gegen rechte Hetze auf die Straße gehen – etwas richtigeres kann es dieser Tage kaum geben. Doch leider macht ein solches Engagement allein noch keinen guten Demokraten.

Auch Rechtsextreme sind keine guten Demokraten, nur weil sie den islamistischen Terror scharf verurteilen. Offenbar sieht das Rechtsaußen zwischenzeitlich genau so. Deswegen holen die Kameraden einen ganz alten Hut aus der braunen Trickkiste. Bereits zu Pegida-Zeiten beriefen sich die Demonstranten auf ihre Grundrechte, die sie bedroht sahen. Sie sehen sich genötigt, ihre Stimmen zu erheben, weil die Medien ihre Sicht der Dinge ja nicht widerspiegelten. Was 2015 schon totaler Käse war, ist auch in den letzten Jahren kaum gereift. Jede Demo zu Corona-Zeiten ist ein Ausdruck von Versammlungs- und Meinungsfreiheit in diesem Land – von telemedialer Aufmerksamkeit ganz zu schweigen.

Ein ungutes Gefühl

Das traurige an der Geschichte: Die Angstmache funktioniert trotzdem. Die Menschen gingen zu Pegida, weil sie das Gefühl hatten, dass der Islam unser Abendland überrennt. Die Menschen gehen auf die Hygienedemos, weil sie das Gefühl haben, dass die Grundrechte für immer auf dem Scheiterhaufen der Geschichte landen sollen. Vor allen Dingen gehen sie aber zu solchen Aufläufen, weil sie nicht das Gefühl haben, dass die Demokratie noch funktioniert. Viele Menschen haben schlicht das Interesse daran verloren, auf irgendetwas anderes zu hören als auf ihr Gefühl.

Und genau dieses Gefühl verhindert eine lebendige und funktionierende Demokratie. Ein Gefühl hat jeder Mensch von Natur aus. Eine eigene Meinung hoffentlich auch. Das alles ist nicht weiter demokratisch. Demokratisch ist es, wenn man die Chance hat, diese Meinungen auszutauschen. Vor allen Dingen ist es demokratisch, wenn man diesen Austausch überhaupt zulässt. Anstatt einzig auf ihr Gefühl zu hören, sollten sich viele Menschen lieber wieder gegenseitig zuhören und zu Wort kommen lassen. Denn der Einsatz für die Demokratie ist anstrengender als das bloße Hören auf ein Gefühl.

Doch immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen darf, ohne zumindest scheel angesehen zu werden. Das hindert die meisten aber nicht daran, ihre Meinung trotzdem zu sagen. Die Kultur der Meinungsäußerung ist also beim besten Willen nicht in Gefahr. Bedroht ist hingegen die Kultur des Meinungsaustausches. Die Pegisten und Hygienedemonstranten sehen es als einen ganz besonders demokratischen Akt, sich regelmäßig auszukotzen. Ein solches Verhalten ist aber weder ein außergewöhnlich starker Ausdruck von demokratischer Grundüberzeugung noch eine besonders gute Voraussetzung für einen gelingenden Dialog. Zwischen all den lauten Meinungen und Protesten ist dieser Dialog nötiger denn je.


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