Gefühlte Demokratie

Lesedauer: 6 Minuten

Wie es um unsere Demokratie und um unseren Rechtsstaat steht, dieser Frage kann man heute kaum aus dem Weg gehen. Ein Polit-Talk hier, eine Protestdemo dort. Die Menschen sind politisiert wie lange nicht. Dieser Trend lässt sich spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 beobachten. Immer mehr Menschen gehen immer lauter auf die Straße, um ihre Rechte einzufordern. Sei es, um zu zeigen, wer zum Volk gehört und wer nicht, um aufzuzeigen, wie das Klima gerettet werden kann oder um sich gegen die Beschneidung von Grundrechten zu wehren. Der Demokratie ist das nicht immer zuträglich.

Wahlen ohne Demokratie

Grundsätzlich gilt: Ein Land wird nicht deshalb zur Demokratie, weil in ihm regelmäßig Wahlen abgehalten werden. Nur der verwegenste Staatsforscher würde auf die Idee kommen, die Türkei als eine funktionierende Demokratie zu bezeichnen. Oder Beispiel Israel: Trotz hochfrequent stattfindender Wahlen ist dieses tief gespaltene Land immer weiter von einer echten Demokratie entfernt. Zuletzt haben sich die politischen Pole zu einer großen Koalition zusammengeschlossen. Wie lange das gutgeht, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass das mit Volkswille wenig zu tun hat.

Auch die deutsche Demokratie ist nach einer Serie von großen Koalitionen schwer gebeutelt. Über viele Jahrzehnte standen sich die beiden großen Volksparteien CDU und SPD in scharfer Konkurrenz gegenüber. Heute ist davon nicht mehr viel zu spüren – weder von der einstigen Größe noch von der verbissenen Konkurrenz. In einer Mischung aus Machtgier und Rechthaberei hat man sich auf einen faulen Kompromiss nach dem anderen eingelassen. Dass das Reichstagsgebäude inzwischen stattliche sechs Fraktionen beherbergt, ist ebenso nicht zwingend ein Ausdruck funktionierender Meinungspluralität.

Anscheinend hat selbst der verschlafenste Parlamentarier inzwischen erkannt, dass der Zustand der deutschen Demokratie kritisch ist. Das Thema kann noch so abstrakt oder willkürlich sein: in fast jeder Bundestagsdebatte findet sich mindestens ein Abgeordneter, der die Werte des Rechtsstaats hochhält. An und für sich kein weiter verwerfliches Verhalten, bedenkt man, dass das Grundgesetz in diesem Jahr stolze 75 wird. Aber warum ist das explizite Werben für Demokratie und Rechtsstaat überhaupt notwendig, wenn angeblich beides so gut funktioniert?

Sind wir Rechtsstaat?

Bis vor einigen Wochen waren sie kaum zu übersehen: An Bahnhöfen, auf öffentlichen Plätzen und bei Behörden sprangen einen die Plakate der Aktion „Wir sind Rechtsstaat.“ förmlich an. Offensiv wurde hier für das schwierige Geschäftsmodell Rechtsstaat geworben. Zunächst feierte ich die Plakate, auf denen Richterinnen, Journalisten und Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen zu sehen waren. Doch mit der Zeit dämmerte es mir, wie schwer es ist, Demokratie und Rechtsstaat per Werbekampagne zu promoten. Ein Blick in die Nachrichten zeigt, dass sich beides nicht erzwingen oder verschreiben lässt. Die Gesellschaft muss diese Werte leben. Ist es nicht beinahe zu spät, wenn der Staat Geschütze wie die PR-Kampagne „Demokratie und Rechtsstaat“ auffahren muss?

Denn wen der Rechtsstaat verloren hat, der ist nur sehr schwer wieder zurückzugewinnen. Die Kampagne hilft vor allen Dingen, Zweiflern die Stärke dieser Form der Volksherrschaft vor Augen zu führen. Fakt ist allerdings: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist in aller Munde. Beinahe penibel versuchen heute viele, möglichst gute Demokraten zu sein.  Die politischen Extreme scheuen nicht davor, den Demokratiebegriff für sich zu vereinnahmen und in den Dreck zu ziehen.

Eine Kulisse der Angst

Seit 2015 versammeln sich regelmäßig Menschen, die den deutschen Nationalstaat vor einer angeblichen Islamisierung bewahren wollen. Es ist gut und richtig, dass die Gegendemonstranten stets in der Überzahl sind. Doch leider tummeln sich unter diesen von rechts gehassten Gutmenschen auch eine ganze Menge Extremisten vom anderen Rand. Mit teilweise offener Gewalt stellen auch Linksradikale offen infrage, ob jeder Mensch gleich viel wert ist. Gegen rechte Hetze auf die Straße gehen – etwas richtigeres kann es dieser Tage kaum geben. Doch leider macht ein solches Engagement allein noch keinen guten Demokraten.

Auch Rechtsextreme sind keine guten Demokraten, nur weil sie den islamistischen Terror scharf verurteilen. Offenbar sieht das Rechtsaußen zwischenzeitlich genau so. Deswegen holen die Kameraden einen ganz alten Hut aus der braunen Trickkiste. Bereits zu Pegida-Zeiten beriefen sich die Demonstranten auf ihre Grundrechte, die sie bedroht sahen. Sie sehen sich genötigt, ihre Stimmen zu erheben, weil die Medien ihre Sicht der Dinge ja nicht widerspiegelten. Was 2015 schon totaler Käse war, ist auch in den letzten Jahren kaum gereift. Jede Demo zu Corona-Zeiten ist ein Ausdruck von Versammlungs- und Meinungsfreiheit in diesem Land – von telemedialer Aufmerksamkeit ganz zu schweigen.

Ein ungutes Gefühl

Das traurige an der Geschichte: Die Angstmache funktioniert trotzdem. Die Menschen gingen zu Pegida, weil sie das Gefühl hatten, dass der Islam unser Abendland überrennt. Die Menschen gehen auf die Hygienedemos, weil sie das Gefühl haben, dass die Grundrechte für immer auf dem Scheiterhaufen der Geschichte landen sollen. Vor allen Dingen gehen sie aber zu solchen Aufläufen, weil sie nicht das Gefühl haben, dass die Demokratie noch funktioniert. Viele Menschen haben schlicht das Interesse daran verloren, auf irgendetwas anderes zu hören als auf ihr Gefühl.

Und genau dieses Gefühl verhindert eine lebendige und funktionierende Demokratie. Ein Gefühl hat jeder Mensch von Natur aus. Eine eigene Meinung hoffentlich auch. Das alles ist nicht weiter demokratisch. Demokratisch ist es, wenn man die Chance hat, diese Meinungen auszutauschen. Vor allen Dingen ist es demokratisch, wenn man diesen Austausch überhaupt zulässt. Anstatt einzig auf ihr Gefühl zu hören, sollten sich viele Menschen lieber wieder gegenseitig zuhören und zu Wort kommen lassen. Denn der Einsatz für die Demokratie ist anstrengender als das bloße Hören auf ein Gefühl.

Doch immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen darf, ohne zumindest scheel angesehen zu werden. Das hindert die meisten aber nicht daran, ihre Meinung trotzdem zu sagen. Die Kultur der Meinungsäußerung ist also beim besten Willen nicht in Gefahr. Bedroht ist hingegen die Kultur des Meinungsaustausches. Die Pegisten und Hygienedemonstranten sehen es als einen ganz besonders demokratischen Akt, sich regelmäßig auszukotzen. Ein solches Verhalten ist aber weder ein außergewöhnlich starker Ausdruck von demokratischer Grundüberzeugung noch eine besonders gute Voraussetzung für einen gelingenden Dialog. Zwischen all den lauten Meinungen und Protesten ist dieser Dialog nötiger denn je.


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Hätte mir jemand noch vor wenigen Jahren gesagt, ich würde einmal einen Text schreiben, der sich gegen Demonstrationen richtet, bei denen Menschen für Grundrechte eintreten, ich hätte ihn vermutlich ausgelacht. Doch nun ist der Moment gekommen. Naja, fast zumindest. Denn um die Grundrechte geht es vielen Demonstranten heute in Wahrheit nicht. Es ist ein Trauerspiel, dass man inzwischen jede Demo, bei der es angeblich um die Grundrechte geht, genau hinterfragen muss, um nicht rechten oder linken Extremisten auf den Leim zu gehen. Selbst denken scheint immer mehr ein Tabu zu werden.

Wenn Rechte Rechte verteidigen

Gerade die Schwabenmetropole Stuttgart hat sich rasant zu einem Hotspot der sogenannten „Hygienedemos“ entwickelt. Woche für Woche lockt das Areal, auf welchem sonst eigentlich der Cannstatter Wasen stattfindet, tausende Menschen an. Von echter Hygiene in Zeiten der Pandemie ist bei diesen Aufläufen wenig zu spüren. Abstandsregeln werden missachtet, Reportern und Kamerateams werden die Viren im Nahkampf förmlich in die Fresse gedrückt, es wird gesungen und es wird laut protestiert. Mit großen Schildern machen viele der Demonstranten darauf aufmerksam, dass sie nicht bereit sind, ihre Grundrechte einfach so aufzugeben. Sie sind gekommen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Zumindest glauben sie das. Denn längst hat die extreme Rechte die Oberhand über diese Demos gewonnen. Was zunächst als linksalternativer Protest begann, wurde den roten Rebellen schneller aus der Hand gerissen als sie „Bolschewiki“ sagen konnten. Ein Konglomerat aus Reichsbürgern, AfDlern und anderen nationalistischen Gruppierungen weckt in vielen der Teilnehmern wieder einmal einen uralten Instinkt: das Nichtstun.

Anti-Fortschritt, Anti-Flüchtling, Anti-Pasti

Weil der Mensch aber nicht gerne zugibt, faul und träge zu sein, benutzen die ewig gestrigen die Demonstrationen als Fassade für ihren Putsch gegen die Solidarität in der Krise. Es ist nämlich auffallend, dass sich sämtliche Aktionen sogenannter Wutbürger immer für den Erhalt des Status quo einsetzen. Wer auf Hygienedemos geht, einen Pegida-Aufmarsch bereichert oder peinliche Teil-mich – Bilder in sozialen Medien postet, der nimmt für sich meist in Anspruch ein besonders kritischer Geist zu sein. In Wahrheit sind solche Leute allerdings vor allen Dingen Anti.

Sie sind Anti-Flüchtlinge, weil diese sich angeblich in unser Sozialsystem einschleichen und am Ende schuld daran sind, wenn die Oma keine angemessene Pflege im Heim bekommt. Sie sind Anti-Greta, weil diese die junge Generation manipuliert und uns alle ins Verderben reißen wird. Sie sind Anti – Corona-Maßnahmen, weil die Maßnahmen überhaupt nichts bringen und das Virus gar nicht so gefährlich ist wie die Rautenkanzlerin es immer predigt.

Noch nie hat sich jemand dieser Protestierenden, die sich penibel von den Gutmenschen abgrenzen, offensiv FÜR einen Fortschritt in der Gesellschaft eingesetzt. Diesen Schlechtmenschen reicht es offenbar vollkommen, jedwede Veränderung im Ansatz abzuwehren. Immerhin gab es kritische Widerworte in unserem Land viel zu lange nicht.

Würdevoller Protest?

Gut, die gefühlt ewige GroKo macht eine kontroverse politische Debatte wirklich nicht einfach, aber wird euch dieses Argument nicht langsam langweilig? Die Menschen, die gestern zu Pegida gingen und sich heute Hygienedemonstranten schimpfen, werden nicht müde, die fehlende Debattenkultur in unserem Land zu beklagen. Angeblich hört ihnen seit Jahren keiner mehr zu. Hätten sie allerdings pünktlich ihre GEZ-Gebühren gezahlt, dann wüssten sie, dass AfD, Wutbürger und jüngst auch Hygienedemos die Medien seit geraumer Zeit dominieren.

Wer sich heute auf den Cannstatter Wasen stellt und laut die Rückgabe der Grundrechte einfordert, der vergisst einen wichtigen Aspekt: Die Demo ist genehmigt. Um Versammlungsfreiheit kann es diesen Menschen also nicht gehen, sie dürfen sich schließlich versammeln. Um Meinungs- und Redefreiheit sicherlich auch nicht, schließlich kann man mit deren halbpolitischen Ergüssen inzwischen ganze Bücherregale füllen. Religionsfreiheit fällt auch weg – die Kirchen, Synagogen und Moscheen dürfen inzwischen auch wieder gemeinsam Wenimmer anbeten. Bleibt noch die Würde des Menschen. Würdevoll benehmen sich diese Aufrührer jedenfalls nicht.

Neues gelingt nur mit Mut

Aufzustehen und seine Meinung zu sagen erfordert Mut. Partout gegen alles neue zu sein, tut das allerdings nicht. Wer generell alles neue verteufelt und nicht dazu bereit ist, sich zu bewegen, der ist nicht mutig. Und so jemand ist auch nicht kritisch. Er ist nur eines: bequem. Immer wieder missbraucht dieses Heer an trägen Protestlern den Begriff der Kritik im Namen der Bequemlichkeit.

Es ist verdammt einfach, gegen Neues zu sein. Verantwortung zu übernehmen und für Neues einzustehen, ist meist allerdings schwerer als gedacht. Von dieser Inbrunst, von diesem Mut und von dieser Leidenschaft ist bei den Hygienedemos nur wenig zu spüren. Denn wenn eine Marionette den Kopf schüttelt, dann ist das selten auf ihren Mut zurückzuführen. Konsequent verschließen die Demonstranten die Augen davor, in wessen Interesse sie eigentlich handeln. Sicherlich nicht im Namen der Demokratie, die ihnen so heilig scheint. Und sicher auch nicht im Sinne ihrer Mitmenschen, von denen jeder der Überträger eines überaus aggressiven Virus sein kann.

Demonstrativ verweigern sich die Hygienedemonstranten der Verantwortung, die sie schultern müssten, wenn sie die Augen aufmachen würden. Sie bemerken nicht, dass ihre Verantwortung nicht die über 8.000 Toten in Deutschland sind, die dem Virus bereits zum Opfer gefallen sind. Es sind die zigtausenden Toten mehr, die zur Debatte stünden, würden wir dem kopflosen Getöse der Demonstranten nachgeben. Es wäre unser kollabierendes Gesundheitssystem, das auf das Konto der Aufständischen ginge, würden wir ihrer Vorstellung der Pandemiebekämpfung folgen. Es ist beinahe zynisch, dass die Menschen, die sich angeblich so gut mit den Grundrechten auskennen, im Alltag in großer Zahl trotzdem Maske tragen. Das klitzekleine bisschen Rückgrat, welches sie auf den Demos zu besitzen vorgeben, wird damit sofort wieder vernichtet.

Ein Land voller Wissenschaftler

In dieser notorischen Unfähigkeit, sich der gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, schustern sich viele dieser Menschen ihre eigene Wahrheit zusammen. Diese Wahrheit schließt nicht ein, sich in seiner Position nur ein klein wenig zu bewegen, geschweige denn, anderen Menschen entgegenzukommen. In diesem unendlichen Kosmos aus reinem Egoismus zählt nur der eigene Bestand. Die allgemein geltende Maskenpflicht ist ein gut sichtbares Symbol dieser Krise. Augen und Herzen dieser Menschen waren aber schon während der letzten Krise gut bedeckt.

Blind und taub glaubten sie allen, die sie in ihrer engstirnigen Sichtweise bestärkten. Vieles, was einst als unscheinbare Fake News begonnen hat, ist inzwischen zu einer regelrechten Pseudowissenschaft ausgewachsen. Egal, wen man fragt, unser Land wimmelt plötzlich vor gut informierten Ärzten und Wissenschaftlern. Da könnten wir uns doch eigentlich glücklich schätzen. Doch außer gut gemeinten Ratschlägen und Binsenweisheiten kommt bei den Experten von heute selten was rum. Viel zu emsig sind sie damit beschäftigt, den Begriff „Wissenschaft“ zu vergewaltigen und für ihre kruden Ideen zu missbrauchen. Und das alles nur, weil sie es einfach nicht über sich bringen, von ihrem bequemen Sessel aufzustehen und für echte Veränderung einzustehen. Dabei brauchen wir mutige und starke Menschen heute mehr denn je.


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Die beschlossenen Lockerungen der Sicherheitsmaßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von Covid-19 lösten eine Welle der Erleichterung aus. Nach Wochen der Isolation und der Einschränkung nehmen viele Menschen die wiedergewonnenen Freiheiten nur all zu gerne an. Konkret sollen ab Anfang Mai kleinere Geschäfte wieder öffnen, dazu zählen offiziell auch Autohäuser. Das Aufatmen der Menschen ist verständlich, die Hintergründe der Lockerungen allerdings nicht zu unterschätzen. Wer glaubt, nun läuft wieder alles wie gehabt, sitzt einem gewaltigen Irrtum auf.

Anfang mit Ende

Nach dem allgemeinen Entsetzen über die rasche Ausbreitung des Corona-Virus und den strengen Sicherheitsmaßnahmen hat die öffentliche Debatte ein neues Lieblingsthema gefunden. Es sind die Lockerungen von Kontaktverboten und Ladenschließungen, die derzeit heiß diskutiert und vereinzelt bereits umgesetzt werden. Noch vor einigen Tagen wiesen vor allem Politiker diese Debatten als zu früh ab. Sie zeigten Verständnis für die Belastung der Bevölkerung, riefen aber gleichzeitig zu Zuversicht und Geduld auf. Heute hat sich der Wind gedreht und das Thema Lockerungen scheint in aller Munde zu sein.

Die Diskussion über etwaige Lockerungen wurde über Wochen unterdrückt. Es ist also überhaupt kein Wunder, dass nun so leidenschaftlich darüber debattiert wird. Ausgangssperren wie in Italien gab es kaum in Deutschland. Die getroffenen Maßnahmen waren allerdings einschneidend genug, um die Menschen mürbe zu machen. Dass in diesem Zuge keine Aussicht auf Lockerung oder gar Rücknahme der Verordnungen gegeben wurde, belastete viele zusätzlich. Dabei wäre es dringend geboten gewesen, nicht nur über Einschränkungen und Verbote, sondern auch über deren Ende zu sprechen. Und zwar von Anfang an.

Ein Leben mit dem Virus

Die aktuelle Krise legitimiert die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen. Es ist richtig, dass in Geschäften großer Wert auf einen Mindestabstand von zwei Metern gelegt wird. Es ist genau so richtig, dass öffentliche Großveranstaltungen auf Monate abgesagt sind. Es ist richtig, dass Gottesdienste nicht mehr dicht an dicht in Kirchen stattfinden.

Fast noch richtiger wäre es allerdings gewesen, man hätte von Anfang an auch darüber geredet, wie sich solche Maßnahmen zurücknehmen lassen, ohne ein deutlich erhöhtes gesundheitliches Risiko für die Bevölkerung einzugehen. Das Virus hat Zeit, das haben wir in den letzten Wochen gesehen. Die Infektionszahlen in Deutschland steigen zwar langsamer an, allgemeine Entwarnung kann aber noch lange nicht gegeben werden. Wir müssen uns darauf einstellen, eine ganze Zeit lang MIT dem Virus, aber OHNE Medikamente zu leben.

Ein solches kann nur gelingen, wenn die viel beschworenen Lockerungen nicht postwendend zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen führen. Das gilt es allerdings zu befürchten, wenn kleine Geschäfte wieder öffnen dürfen, die Versorgung der Bevölkerung mit Schutzmasken allerdings nicht gewährleistet werden kann. Stattdessen gibt es eine dringende Mahnung, die Masken in geschlossenen Räumen zu verwenden. Im Notfall können auch Schals als viraler Schutzschild herhalten. In diesem Punkt bietet unsere Regierung ein blamables Bild.

Maskenpflicht nur so halb

In der Krise lernen wir immer wieder dazu. Wir lernen beispielsweise dieser Tage, wie wichtig es ist, gewisse Sicherungsmaßnahmen frühzeitig einzuleiten und nicht erst dann darüber zu diskutieren, wenn der Unmut in der Bevölkerung wächst. Es muss außerdem regelmäßig geprüft werden, ob die getroffenen Maßnahmen überhaupt noch verhältnismäßig sind. Es heißt nicht umsonst, dass sich ein funktionierender Rechtsstaat am ehesten in seinen dunkelsten Stunden bewährt.

Deswegen verstehe ich die Skepsis und die Empörung mancher Menschen angesichts der Einschränkungen der letzten Wochen. Es ist für die meisten einfach nicht verständlich, warum die Krise in Bayern anders gemanaged wird als in NRW. Warum gibt es in Sachsen eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, bundesweit aber lediglich einen Appell an die Bevölkerung? Wieso tritt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz regelmäßig mit einer Schutzmaske vor die Presse, während sich Angela Merkel noch nie mit einem solchen Teil hat sehen lassen?

All diese Widersprüche verunsichern die Menschen. Sie kosten Vertrauen und sie erinnern an Willkür. Vor allem lassen sie aber die Unkoordiniertheit in dieser Krise offen zu Tage treten. Viele sorgen sich um die Grundrechte. Es geht bei manchen sogar die Angst um, die Krise könne dazu genutzt werden, ihnen diese Rechte dauerhaft zu entziehen. Eine Corona-App stößt bei vielen auf Ablehnung, weil datenschutzrechtliche Bedenken nicht von der Hand gewiesen werden können. Die Datenskandale und Leaks jüngerer Zeit sind dabei nicht gerade vertrauensbildende Maßnahmen gewesen.

Lockerungen einfach so?!

Völlig zurecht werden die harten Einschnitte in das persönliche Leben eines jeden einzelnen kritisch hinterfragt. Deswegen verwundert es auch besonders, dass die gleiche Skepsis nicht bei den aktuellen Lockerungen an den Tag gelegt wird. Klar, man will kein Spielverderber sein und es wäre so viel bequemer, wenn der Biergarten um die Ecke wieder aufhätte. Während sich ein Großteil der Bevölkerung allerdings fragt, wer von den Beschränkungen eventuell profitieren könnte, bleibt eine ähnliche Weitsichtigkeit beim Thema Lockerungen bisher auf der Strecke.

Dabei ist doch völlig offensichtlich, weswegen die ersten Lockerungen nun doch so rasch kommen. Der wirtschaftliche Druck ist einfach zu groß geworden. Wirtschaftsnahe Gesellschaften wie die Leopoldina dominieren die Debatte. Wie eine viel zu laute konstante Begleitmusik mischten sie sich immer wieder in das Management der Krise ein.

Selbstverständlich ist es richtig und wichtig, auch wirtschaftliche Interessen im Blick zu haben. Es kann nicht sein, dass zigtausende von Menschen die nächsten Monate in Kurzarbeit oder im Zwangsurlaub fristen müssen und die Produktion stillsteht. Dass sich aber kaum jemand ernsthaft fragt, warum der Ausstieg aus der Quarantäne nun doch so zügig vonstattengeht, verwundert doch sehr. Um demokratieschonende Maßnahmen geht es zumindest nicht. Das tut sich nur gut als Legende, um andere Interessen zu kaschieren.

Wenn der Lieferant zehnmal klingelt

Wenn man dennoch einmal aus dem Haus geht und die Leute genau beobachtet, dann wird man schnell feststellen, dass die angekündigten Lockerungen bereits jetzt für viele zu gelten scheinen. Masken werden immer mehr zum Mainstream, also warum nicht selbst eine aufsetzen? Viele scheinen dabei aber leider zu vergessen, dass eine solche Atemschutzmaske keinen Universalschutz bietet. Sie schützt eigentlich sogar nur sehr unzureichend vor einer eigenen Infektion mit was auch immer. Ihr Zweck ist viel mehr, andere zu schützen. Das Robert-Koch – Institut wird nicht müde, diesen Fakt zu kommunizieren und trotzdem legen viele ihre Achtsamkeit und Rücksicht in dem Moment ab, wenn sie die Schutzmasken anlegen. Als würde ein Sicherheitsgurt rücksichtsloses Fahren provozieren…

So sind immer wieder kleine Gruppen zu beobachten, die nach erledigtem Großeinkauf nicht etwa vor den Supermarktpforten oder auf dem Parkplatz ein Schwätzchen halten. Ihr ununterdrückbarer Drang, den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen überkommt sie, sobald die Kassiererin die Kasse zugeklappt hat. Wer niemanden zum Quatschen hat, der verweilt auch schon einmal eine knappe Stunde in der Textilabteilung von Warenhäusern. Die anderen Läden haben ja schließlich alle dicht. Und immerhin schützen Handschuhe und Maske zuverlässig vor Corona, Filzläusen und braunem Gedankengut.

Hochkonjunktur feiert derzeit auch der Online-Versand. Das Online-Einkaufsverhalten mancher Mitbürgerinnen und Mitbürger erreicht zur Zeit obsessive Ausmaße. Wenn der digitale Kaufrausch einmal so richtig zuschlägt, bleibt kein Wunsch unerfüllt, kein Sparstrumpf voll – und kein Lieferant gesund. Es ist schlichtweg unsolidarisch, seine Einkäufe nun über Gebühr in den digitalen Raum zu verlagern. Von A nach B kommen diese Waren nämlich nur durch die Mitarbeiter eines Subsubsubunternehmens. Und die kratzen auch ohne Corona schon ordentlich am Burn-Out. Und von dem verprassten Geld sehen die … nichts.


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