Die Ära der Unzufriedenheit

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Festgefahrene Querdenkerdemos, brutale Übergriffe in der Silvesternacht, enttarnte Reichsbürger – Deutschland geht es nicht gut. Die Politik will gegen diese Auswüchse von Gewalt und Brutalität vorgehen und die Demokratie stabilisieren. Sie verkennt dabei, dass das Problem viel tiefer liegt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass mittlerweile alles den Bach runtergeht. Gepaart mit dem latenten Verdacht, führende Politiker seien nicht zu 100 Prozent am Wohl des Volks interessiert, macht sich eine Stimmung des Frusts und des Argwohns breit. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie einerseits zur angeblichen Gefahr für die Demokratie stigmatisiert werden, andererseits aktiv von Teilhabe und Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Es steht nicht gut um unser Land.

Eskalationen in der Multikrise

2020 beherrschte uns Corona, im Folgejahr spitzte sich die Lage weiter zu. 2022 griff Russland die Ukraine an. Tod, Leid und Vertreibung waren die Folge. Die Auswirkungen des Krieges waren bis weit in Europa spürbar: Inflation, Energiekrise und gesellschaftliche Spaltung macht den Menschen zu schaffen. All diese Ereignisse trafen uns unvorbereitet und sind mit Kalenderdaten untrennbar verbunden. Die Hoffnung, dass es bald besser werden muss, überlebte nicht einmal die erste Nacht des Jahres. Nie dagewesene Ausschreitungen und Krawalle begleiteten mancherorts die Silversterfeierlichkeiten. Mit beispielloser Brutalität griffen hauptsächlich junge Menschen Rettungs- und Einsatzkräfte an. Die Gewalt war hemmungslos und völlig ohne Sinn. Es ging einzig darum, Schaden zu verursachen.

Die Neujahrsnacht 2023 ist für die wenigsten im Land repräsentativ und eignet sich doch hervorragend als Spiegel unserer Gesellschaft. Sie krankt an den Krisen unserer Zeit, auf die Politik, Wissenschaft und Wirtschaft seit vielen Jahren keine angemessenen Antworten mehr finden. Zu Jahresbeginn zeigte der Tumor aus Frust und Resignation seine hässliche Fratze.

Zeit der Unsicherheit

Die Übergriffe vom 1. Januar sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie sind trotzdem nur die oberste Schicht einer allgemeinen Frustration, die in der Gesellschaft schon lange schwelt. Teilweise weltumspannende Krisen reihen sich seit Jahren aneinander. Die hohen Arbeitslosenzahlen zu Beginn des Jahrtausends gingen fast nahtlos über in eine Finanz- und Eurokrise, die vielen ihr Erspartes nahm. Politik und Wirtschaft bemühten sich zwar, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, verloren durch ihre Machtlosigkeit aber viel von ihrer Glaubwürdigkeit.

Die Stimmung während der Flüchtlingskrise kippte bei vielen von einer allgemeinen Aufnahmeeuphorie in einen regelrechten Sozialneid mit den Geflüchteten. Corona brachte nicht wenige um ihre Existenz. Wer nicht das Privileg hatte, ins Home Office ausweichen zu dürfen, fürchtete in Kurzarbeit oder Beschäftigungsverbot um seine berufliche Zukunft. Die außer Kontrolle geratenen Energie- und Lebensmittelkosten treiben viele Menschen an den Rand der Verzweiflung. Nicht jeder sieht mehr den Zusammenhang zwischen Krieg in der Ukraine und den Preisschildern im Supermarkt. Eine Stimmung aus Misstrauen und Argwohn hat sich längst unter die allgemeine Frustration gemischt.

Blockierter Protest

Die Menschen haben mittlerweile immer häufiger das Gefühl, sie können sich auf nichts mehr verlassen. Vieles scheint von Zufall und Glück abhängig zu sein. Briefe kommen nicht oder nur mit erheblicher Verspätung ans Ziel, weil die Post schlechte Arbeit macht. Bus- und Bahnfahren wird besonders für Pendler immer mehr zur Hölle. Möchte man seine Hausapotheke aufstocken, um gegen die nächste Erkältungswelle gewappnet zu sein, sind selbst einfachste Arzneimittel in der Apotheke nicht mehr verfügbar. Noch größere Probleme machen die Lieferengpässe natürlich bei Behandlungen gegen Krebs oder andere lebensbedrohliche Krankheiten. Gepaart mit obskuren Vorschlägen aus der Ärzteschaft verlieren die Menschen völlig den Glauben an Vernunft und Verstand.

Man könnte zwischenzeitlich der Idee verfallen, die Politik wollte die Leidensfähigkeit der Menschen testen. Denn breite Demonstrationen und Proteste gegen den gegenwärtigen Politikstil gibt es nicht. Wenn die Menschen doch auf die Straße gehen und sich Querdenkerdemos anschließen, werden sie in die rechte Ecke gestellt und verlacht. Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen kein wirkungsvoller Protest entstehen kann, wenn er von bestimmten politischen Strömungen nicht initiiert wird.

Politik als Schmierentheater

Viele Menschen fühlen sich den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft hilflos ausgeliefert. Immer mehr haben sie das Gefühl, „die da oben“ machten Politik nur für sich selbst oder um irgendwelche lästigen Verpflichtungen aus Koalitionsverträgen zu erfüllen. Die Antwort auf steigende Lebenshaltungskosten klammerte Rentner und Studierende zunächst komplett aus. Selbst die Union kritisierte das und schließlich wurde nachgebessert.

Doch auch CDU und CSU haben sich in ihrer mittlerweile gut einjährigen Oppositionskarriere nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das Schmierentheater, das sie bei der Einführung des Bürgergelds aufführten, war ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die sich nach Kräften abmühen, aus der Arbeitslosigkeit wieder herauszukommen. Endlich waren Verbesserungen für Menschen in prekären Verhältnissen zum Greifen nah. Doch die Union nutzte lieber ihre Mehrheit im Bundesrat, um selbst diese paar Korrekturen wieder einzukassieren.

Es ist immer das gleiche: Geht es um Maßnahmen, die der Mehrheit der Menschen im Land wirklich etwas bringen, mahlen die politischen Mühlen besonders langsam. Es ist gut, wenn tiefgreifende Maßnahmen angemessen diskutiert werden. Das Rumgeeiere beim Deutschlandticket ist aber ein Tiefpunkt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Monatelang wurde die Eintrittskarte in den beinahe kostenlosen ÖPNV als 49-Euro – Ticket vermarktet. Damit war eigentlich schon alles gesagt: Nicht die entlastende Wirkung des Tickets stand im Vordergrund, auch nicht der Zeitpunkt der Einführung, sondern die Kosten, die damit verbunden waren. Eine Schande.

Unrepräsentative Demokratie

Unsere Demokratie funktioniert nicht mehr – zumindest nicht für jeden. Gewalttätige Ausschreitungen, routinemäßige Querdenkerdemos, Umsturzpläne der Reichsbürger – all diese besorgniserregenden Entwicklungen deuten darauf hin. Daneben gibt es einen beträchtlichen Teil von Bürgerinnen und Bürgern, die sich von keiner der etablierten politischen Parteien mehr angesprochen fühlen. Wenn sie überhaupt noch wählen, entscheiden sie sich für das kleinste Übel. Was für ein Armutszeugnis für jede Demokratie!

Immer mehr Menschen in Deutschland haben keine politische Vertretung mehr. Manche bleiben daher den Wahlen ganz fern. Sie hören auf, sich politisch zu äußern und werden deswegen im politischen Spektrum nicht mehr erfasst. Oft sind das einkommensschwache Menschen, die vielleicht alleinerziehend oder seit längerem arbeitslos sind. Viele Menschen mit gesichertem oder sogar sehr hohem Einkommen gehen dafür umso häufiger zur Wahl. Sie artikulieren ihre politischen Interessen und bekommen in vielen Fällen, was sie bestellt haben. Ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.

Parteien wie die FDP und die Grünen haben es somit besonders leicht. Sie punkten besonders bei Gutverdienern in den Städten. Viele ihrer Wähler fahren ein E-Auto. Bei der letzten Bundestagswahl erreichten gerade die Grünen mit 14,8 Prozent das beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte. Wenn aber immer mehr Geringverdiener nicht mehr zur Wahl gehen, verliert ein solches Ergebnis an Repräsentanz. In einer gesunden Demokratie lägen die Grünen heute vermutlich nicht bei knapp 15, sondern nur bei 10 Prozent.

Die Klientelisierung der Politik

Im Vorfeld der Bundestagswahl wurde viel über das Selbstverständnis von Volksparteien gesprochen. Erstmals traten im Kanzlerduell nicht nur CDU und SPD gegeneinander an. Auch Annalena Bearbock (Grüne) war stets bemüht, das Bild einer künftigen Volkspartei zu zeichnen. Niemand nahm ihr das so recht ab. Es gibt dafür auch einen einfachen Grund: Auf Bundesebene sind die Grünen weiterhin eine Klientelpartei. Sie fokussieren sich auf die Interessen bestimmter Milieus und können daher nicht glaubwürdig den Anspruch einer Volkspartei vertreten.

Verfällt eine Nischenpartei dieser Versuchung doch, dann geht das nur, wenn sie bestimmte Wählergruppen ausschließt und ihre eigene Klientel zur Mehrheit erhebt. Das tut einer Demokratie auf Dauer nicht gut. Es ist nicht die Mehrheit. Leider schließen sich auch die ehemaligen Volksparteien diesem Trend an. Ihre sinkenden Zustimmungswerte haben sie dem Anspruch darauf, eine Volkspartei zu sein, sowieso beraubt. Anstatt sich die Zustimmung in der Bevölkerung durch ehrliche und bürgernahe Politik zurückzuerkämpfen, richten sie sich lieber in der Rolle einer Klientelpartei ein, die nur vorgibt, für das ganze Volk zu stehen.

Die Auswahl wird dadurch diverser, aber keinesfalls einfacher. Immer mehr Menschen fühlen sich durch einen solchen Politikstil verprellt. Tun sie ihren Protest kund, werden sie oftmals verlacht und beschimpft. Mit der Klientelisierung der Politik kommt leider auch die Spaltung. Es ist naiv, dabei an nur zwei Seiten zu denken, die auseinanderbrechen. Die politische Spaltung in Deutschland kennt nicht nur eine Richtung. Das Stadium der Polarisierung ist vorüber. Die politische Landschaft gleicht einem Scherbenhaufen.


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Rückgratlos überzeugt

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Pegida-Demonstranten, Klimawandelleugner, Querdenker – Bei den Krisen der letzten Jahre trat eine dieser Minderheiten regelmäßig besonders laut auf. Sie beanspruchen für sich, die Wahrheit erkannt zu haben und lassen sich durch rationale Argumente selten beeindrucken. Zahlen und Daten missbrauchen sie, um ihre teilweise kruden Theorien auf ein halbwegs stabiles Fundament zu setzen. Sie tun dies auch, um vor sich und der Welt ihre wahren Beweggründe zu verschleiern. Wie Fähnchen im Wind lassen sie sich dabei von der extremen Rechten vor den Karren spannen. Und die Etablierten spielen munter mit.

Munteres Faktenpotpourri

“Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber…“ Wenn ein Gespräch so beginnt, ist klar, dass mit Niveau nicht mehr zu rechnen ist. Mit den Flüchtlingsströmen seit 2015 hat sich diese hohle Phrase in unseren alltäglichen Sprachgebrauch gemogelt und sich dort inzwischen fest etabliert. Der Satzanfang gilt mittlerweile als todsicherer Indikator dafür, dass hier jemand spricht, der einerseits gegen Asylantinnen und Asylanten wettern will und andererseits keine Ahnung hat.

An dieser Tatsache ändert auch nichts, dass auf den einfältigen Einstieg scheinbare Fakten folgen. Wahlweise handelt es sich dabei um horrende Unterstützungssummen, luxuriöse Ausstattungen von Flüchtlingsunterkünften oder seit neuestem auch furchteinflößende Todesopferzahlen von Impfkomplikationen. Mit den Zahlen und Daten wird so lange fröhlich jongliert und herumgewirbelt, bis sie irgendwann Sinn zu ergeben scheinen.

Der Zweck dieser Übung liegt auf der Hand: Fakten haben die Menschen schon immer überzeugt. Warum also nicht selbst einmal Fakten schaffen? Mit einem Schutzpanzer aus augenscheinlichen Tatsachen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ziehen Querdenker und andere auf die Manege des offenen Meinungsstreits. Lügen und Hetze sind als wissenschaftliche Offensichtlichkeiten getarnt und sollen den angeblichen Verfechtern der Wahrheit Gehör verschaffen. Die Daten und Fakten verkommen dabei zum Vehikel von obskuren Theorien und narzisstischem Geltungsdrang.

Rückgratlose Schlechtmenschen

Würden sich die Spaziergänger, Querdenker und Frustrierten ehrlichmachen, müssten sie ihre Ergüsse eigentlich so beginnen: „Ich habe etwas gegen Flüchtlinge, weil…“. Auch an diesen Satzanfang könnten sie ihre zusammengebastelten Fakten grundsätzlich anhängen. Dann wiederum hätten sie das Problem, dass jeder ihre wahre Gesinnung sofort durchschauen würde. Sie wären als Schlechtmenschen bloßgestellt und müssten sich für ihre Anliegen rechtfertigen. Gepaart mit dem passenden Einstieg allerdings, stehen die Rückgratlosen mit ihren selbstkreierten Gründen gut vor sich und anderen da.

Die lauten Proteste und die pöbelhaften Parolen sind das Lebenselixier solcher Äußerungen. Wer auf diese Weise argumentiert, der braucht die routinemäßigen Aufmärsche, weil sie ihm die Bestätigung geben, gehört zu werden. Wären diese Menschen auf sich gestellt, würden sie zwar ähnliche Ansichten vertreten, sie aber niemals laut äußern. In einer solchen Konstellation würden sie sich sehr wahrscheinlich sogar der übergroßen Mehrheit beugen und Maßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandhalten zumindest einhalten. Auch mit zusammengeschusterter Propaganda gegen die Impfung wäre dann Schluss.

Diese Menschen sind stark in der Gruppe, aber schwach in der direkten Konfrontation. Sucht man die Diskussion, ist mit der vielgerühmten Sachlichkeit und Faktenbasiertheit schnell Schluss. Wesentlich bequemer finden sie dann die Opferrolle, die ihnen auf den Leib zugeschrieben ist. Auch persönliche Herabsetzungen und die Heraufbeschwörung einer Diskriminierungskampagne durch den Mainstream dürfen bei solchen Aufeinandertreffen auf keinen Fall fehlen.

Im gemachten Nest

Erstmals aufgetreten sind empörte Aufmärsche wie Pegida, Hygienedemos und Spaziergänge fast zeitgleich mit Entstehung der AfD. Fast ist man geneigt, allein die AfD für den Frust verantwortlich zu machen. Damit würde man die Macht der Rechtspopulisten aber grundsätzlich falsch einordnen. Die AfD hat zweifellos die Verrohung der Debatte geprägt und das sagbare Meinungsspektrum weit jenseits des Anständigen erweitert. Die AfD ist aber lediglich Treiber des Hasses und der Entfremdung, nicht deren Ursache.

Die Rechtsaußen-Partei bietet allen Enttäuschten ein politisches Forum, wo sie ihren Frust ungezügelt loswerden können. Die große Unzufriedenheit ist die Grundlage für die Existenz der Partei, deswegen haben ihre Funktionsträger natürlich überhaupt kein Interesse daran, die Lage der Menschen nachhaltig zu verbessern. Durch die Teilnahme an den sogenannten Spaziergängen, den Montagsdemonstrationen neuer Lesart und den Aktionen der AfD im Rahmen des heißen Herbsts verhelfen die ewig Missverstandenen dem Rechtsruck zur Unsterblichkeit. Für einen Moment fühlen sie sich wie ernstgenommene Demokraten und gehen für diesen erhabenen Augenblick eine Symbiose mit der extremen Rechten ein, die für die Demokratie alles andere als gesund ist. Letztendlich bleiben sie jedoch das, was sie für die anderen Parteien viel zu lange waren: naives Wahlvieh, das sich bereitwillig vor den Karren spannen lässt.

Die AfD braucht sich dafür nur ins gemachte Nest zu setzen. Die Parteien, die sie als Altparteien beschimpfen, haben gründliche Vorarbeit geleistet. Durch lobbyistische Verstrickungen und bürgerferne Politik haben sie in den vergangenen Jahrzehnten einen Großteil des Vertrauens vieler Wähler verspielt. Gründe gegen die Rechtspopulisten helfen da nicht weiter. Diese überzeugen bestenfalls Menschen, die sowieso nicht im Verdacht stehen, jemals AfD zu wählen. Es braucht einen grundlegenden politischen Kurswechsel, der den Menschen wieder Gründe für die Wahl demokratischer Parteien gibt. Anders lässt sich der Sumpf aus Empörung, Frust und chronischer Unzufriedenheit nicht trockenlegen.


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Auf dem Weg in die Postdemokratie?

Lesedauer: 6 Minuten

Die Demokratie ist eine jahrtausendealte Idee. So richtig angekommen ist sie aber erst vor einigen Jahrzehnten. In Deutschland erweist sie sich seit Ende der 1940er-Jahre als überaus erfolgreich und krisenfest. In den letzten Jahren kommen ihre Grundfesten aber immer weiter ins Wanken. Wir erleben eine Polarisierung und Radikalisierung, in deren Zusammenhang regelmäßig von den sozialen Medien die Rede ist. Tatsächlich scheint sich immer mehr zu bewahrheiten, dass ein demokratischer Konsens immer schwerer wird, je mehr Menschen daran teilhaben sollen.

Konsens im 18. Jahrhundert

Immanuel Kant gilt al seiner der bedeutendsten Philosophen und Denker des 18. Jahrhunderts. Auf ihn geht unter anderem der Kategorische Imperativ zurück, der in leicht abgewandelter Form heute bereits Kindern beigebracht wird. Kant äußerte sich aber auch politisch und traute es einer demokratischen Verfassung nicht zu, lange Bestand zu haben oder gar zu einem friedvollen Umgang miteinander zu führen. Stattdessen befürchtete er, dass in einer Demokratie die Mehrheit stets gegen die Minderheit agieren würde. Der Schritt zu einer Pöbelherrschaft ist nach dieser Logik nicht besonders groß.

Mit seiner Einschätzung stand Kant nicht allein da. Viele namhafte Staatstheoretiker der Neuzeit hegten ein tiefes Misstrauen gegen die aufkeimende Regierungsform der Demokratie. Sie hielten es für quasi unmöglich, dass in einer Gesellschaft, in der alle mitentscheiden, ein tragfähiger Kompromiss zustandekäme.

Eine Frage der Dimension

Die deutsche Demokratie prägt unser Land zwischenzeitlich seit mehr als 70 Jahren. In ihrer Blütezeit strafte sie die Köpfe von damals lügen und sorgte für Fortschritt und Wohlstand. Kant & Co. muss zugestanden sein, dass auch sie von ihrer jeweiligen Gegenwart gezeichnet waren. Die Demokratie war damals nichts weiter als ein ganz zartes Pflänzchen und stand im krassen Gegensatz zur vorherrschenden Monarchie, die in vielen Fällen noch absolutistisch war.

Trotzdem bezogen sich die Philosophen des 18. Jahrhunderts auf eine wesentlich kleinere Dimension als wir sie heute erleben. Andere Länder waren damals für die durchschnittlichen Bürger schier unerreichbar, selbst das nächste Dorf bedurfte gefühlt einer halben Weltreise. Heute ist das anders: In Zeiten der Globalisierung ist die Welt enger zusammengewachsen. Auslandsreisen sind für viele heute kein Luxus mehr. Allein Deutschland zählt über 80 Millionen Einwohner. Vor drei Jahrhunderten war eine solche Zahl unvorstellbar.

Wenn Protest in Mode kommt

Wir erleben dennoch, dass sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren verändert hat. Die Fähigkeit zum Konsens hat merklich nachgelassen, bei vielen Themen spüren wir eine regelrechte Polarisierung. Schon bei der Flüchtlingskrise ab 2015 standen sich manche Menschen unversöhnlich gegenüber. Die Coronakrise hat diese Spaltung in der Gesellschaft nur vorangetrieben.

Seit Pegida gehen Woche für Woche Menschen auf die Straße, um gegen die Herrschenden zu demonstrieren. Sie schwingen Transparente und Deutschlandfahnen und geben vor, eine politische Botschaft zu haben. In Wahrheit jedoch sind sie beherrscht von einer undefinierten Unzufriedenheit. Gründe für diesen Frust gibt es zuhauf, die Demonstrationen von Ex-Pegisten, Verschwörungstheoretikern und selbsternannten Querdenkern werden währenddessen zu Sammelbecken für alle Menschen, die im weitesten Sinne unzufrieden mit der Politik sind.

Unendliche Möglichkeiten, keine Regeln

Und die Kunde verbreitet sich rasend schnell. Im Zeitalter der sozialen Medien bestehen fast endlos viele Vernetzungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Politisierung der Massen findet nicht mehr nur am Küchentisch oder in der Tagesschau statt. Facebook, Telegram, Instagram und andere Plattformen geben den Nutzern das Gefühl, wichtig und gefragt zu sein. Viel eher ist man dann geneigt, neben Urlaubsfotos und Foodporn auch seine politische Meinung bekanntzugeben.

Das Problem an diesem technologischen Geniestreich: Die Menschen sind größtenteils auf sich allein gestellt. Die Politik hat es schlicht versäumt, diese Räume angemessen zu erschließen oder sie in einen Rahmen einzubetten, welcher einer gesunden Demokratie zuträglich ist. Bei anderen technologischen Fortschritten war das anders. Gezielt nutzte die Politik seinerzeit Zeitungen, Radio und das Fernsehen, um einen Bezug zu den Wählerinnen und Wählern herzustellen. Da sie damit nur indirekt in einen Dialog mit der Bevölkerung eintraten und damit allein die Macht und Verantwortung über das Gesprochene besaßen, mussten sie sich viel weniger Gedanken darum machen, welche Kreise das ganze ziehen würde.

Diese Dynamik machen sich bestimmte politische Strömungen gezielt zunutze. In den letzten Jahren wurde die manipulative Komponente der sozialen Medien regelmäßig offensichtlich. Fake News machten als scheinbare Tatsachen die Runde und heizten die Stimmung der Nutzer weiter an. Zusammen mit einer schlechten Politik der Bundesregierung ergibt sich eine toxische Mischung, die sich aktuell in vielen Demonstrationen und Aufmärschen niederschlägt. Legitimer Protest und aggressive Hetze sind in manchen Fällen nicht mehr voneinander unterscheidbar. Besonders im Internet herrscht eine Stimmung aus Wut und Unzufriedenheit.

Es ist unsagbar schwer, diesen Unmut wieder einzufangen. Eine Regulierung der sozialen Medien ist nur in einer idealen Welt erreichbar. Mit Eingriffen in private Chats erreicht man sehr schnell die Grenzen dessen, was in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist.


Anders als vor 250 Jahren spielt sich die Kommunikation nicht nur im unmittelbaren Umfeld ab. Das Internet ist zugleich Produkt und Treiber der Globalisierung. Durch diese Entdimensionalisierung von Kommunikation, Gesellschaft und Politik scheint es eine unlösbare Herausforderung zu sein, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. In gewisser Weise erleben wir heute das, was die Philosophen von damals nur ahnten. Die Konsensbildung wird umso schwerer, je größer die Masse an Beteiligten ist. Kant und andere mögen bei der Einschätzung der Bezugsgröße mächtig danebengegriffen haben, aber offenbar stimmt es, dass eine demokratische Gesellschaft nicht beliebig vergrößert werden kann. Sie ist in einem fest definierten Rahmen mit klaren Regeln durchaus erfolgreich. Greifen diese Normen jedoch nicht mehr, lässt die Ochlokratie, also die Herrschaft des Pöbels, nicht lange auf sich warten.


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