Zeit für Beteiligung

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Seit knapp einem Monat diskutieren Menschen unterschiedlichen Alters, sozialer Herkunft und Biographie zum Thema Ernährung. Der erste vom Bundestag bestellte Bürgerrat ist ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Demokratie. Zum ersten Mal haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, selbst konkrete Konzepte und Vorschläge zu erarbeiten, mit denen sich der Bundestag befassen muss. Der Bürgerrat ist nur eines unter vielen Beispielen, wie viel demokratisches Potenzial in der Bevölkerung steckt. Trotz Bürgerrat wird dieses Potenzial in jüngerer Zeit an wenigen anderen Stellen genutzt oder ausgebaut. In Zeiten chronischer Krisen und gesellschaftlicher Spaltung ist eine solche Blockade besonders fatal.

Demokratischer Meilenstein

Seit dem 29. September wird in Berlin Demokratiegeschichte geschrieben. 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger arbeiten seit diesem Tag im ersten vom Bundestag bestellten Bürgerrat zusammen. An drei Präsenzwochenenden und in sechs Online-Sitzungen treffen Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, mit vielfältigen Meinungen und Interessen und mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und Erfahrungen aufeinander. Sie alle werden bis Anfang des kommenden Jahres ein Gutachten erarbeiten, das im Anschluss dem Bundestag vorgelegt und verschiedene parlamentarische Prozesse durchlaufen wird. Dies kann dann dazu führen, dass sich Vorschläge aus dem Bürgerrat in künftigen Gesetzen niederschlagen werden.

Das Prinzip des Bürgerrats ist nicht neu. Irland führt ein ähnliches Modell schon seit Jahren erfolgreich durch und auch in Deutschland hat es bereits Bürgerräte gegeben. Im Gegensatz zum jetzigen Bürgerrat „Ernährung“ waren diese jedoch nicht offiziell vom Bundestag in Auftrag gegeben, sondern kamen durch das leidenschaftliche Engagement von Verbänden, Vereinen und NGOs zustande. Sie zeigten eindrucksvoll, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mehr direkte politische Beteiligung wünschen und im Ernstfall kluge und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können. Es ist ein gutes und ermutigendes Zeichen, dass Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Schirmherrschaft des ersten offiziellen bundesweiten Bürgerrats übernommen hat.

Lust auf Demokratie

In dieser Rolle betont die politisch mächtigste Frau im Land, dass der Bürgerrat keine Konkurrenzveranstaltung zum bewährten Parlamentarismus sei. Die vom Bürgerrat erarbeiteten Vorschläge sind nicht bindend, obwohl mit ihnen natürlich eine große politische Verantwortung und Erwartungshaltung einhergehe.

Dieses Schicksal teilt sich der erste offizielle Bürgerrat mit anderen bisherigen direktdemokratischen Bemühungen in der Bundesrepublik. Seit vielen Jahren versuchen verschiedene Organisationen und Initiativen, mehr Bürgerbeteiligung in Deutschland durchzusetzen. Mehr Demokratie e. V. führte beispielsweise kürzlich die zweite selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung zu kontroversen Themen durch. Die ungebrochen hohe Beteiligung an diesem Projekt zeigt deutlich, wie groß das Interesse in der Bevölkerung ist, stärker an wichtigen politischen Entscheidungen mitzuwirken.

Leuchtendes Beispiel

Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für gelebte und funktionierende direkte Demokratie. Dort können die Menschen regelmäßig zu ausgewählten Themen abstimmen. Viele sehen in dem Alpenstaat ein leuchtendes Vorbild, wenn es um Bürgerbeteiligung geht. Andererseits ist die Schweiz viel kleiner als Deutschland. Sie ist politisch, wirtschaftlich und räumlich anders geprägt als die Bundesrepublik. Ein direkter Vergleich ist daher nur begrenzt möglich.

Trotzdem wäre ein stärkerer Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Gesetzgebung auch hierzulande wünschenswert. Entsprechende Instrumente müssen dabei über die reine Abstimmung hinausgehen. Natürlich sollten die Menschen im Land bei strittigen Themen die Möglichkeit haben, ihre Meinung dazu zu sagen. Doch auch wenn kontroverse Gesetze vom Parlament beschlossen werden, darf der Einfluss der Bürger nicht enden. Neben der klassischen Volksabstimmung und dem Volksbegehren, das Gesetzesinitiativen anstößt, sollte auch der Volkseinwand eine zentrale Rolle spielen, mit dem sich Gesetze nachträglich überprüfen lassen. Selbstverständlich muss all das an klare Regularien und strikte Quoren gebunden sein, um Missbrauch auszuschließen und Gesetzgebungsverfahren nicht zu kompliziert und langwierig zu machen.

Gewinn für’s Parlament

Das vielbemühte Schreckensbild einer drohenden Paralleldemokratie und einer Schwächung und Unterwanderung des Parlaments gilt übrigens nicht. Viel eher sind direktdemokratische Elemente auf Bundesebene eine Bereicherung für die bestehenden parlamentarischen Strukturen, weil sie ihnen neues Futter geben. Mit Volksabstimmungen und Co. lassen sich die Stimmungen in der Bevölkerung viel leichter einfangen. Auch in der laufenden Legislaturperiode erhalten die Abgeordneten auf diese Weise ein klares Stimmungsbild, nach dem sie ihre Politik ausrichten können.

Auf der anderen Seite haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich mit wichtigen politischen Themen intensiver auseinanderzusetzen als es jetzt der Fall ist. Wenn die Bürgerinnen und Bürger direkt an der Gesetzgebung mitwirken, stärkt das die Identifikation mit und den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft. Die direkte Demokratie ist die beste Medizin gegen chronisches „Die da oben“, weil daraus ein „Mit uns allen“ wird.

Fatale Zeichen

Leider will die aktuelle Bundesregierung davon nichts wissen. Obwohl mittlerweile gleich drei Parteien an der Macht sind, die mehr Bürgerbeteiligung immer offen gegenüberstanden, blockieren sie demokratische Mitbestimmung, statt sie zu fördern. Jüngstes Meisterstück an Demokratieabbau ist die im vergangenen März beschlossene Wahlrechtsreform. Diese entwertet die Erststimme bei Bundestagswahlen, weil Direktmandate weniger zählen und im Zweifelsfall nicht mehr ausschlaggebend sind für die parlamentarische Existenz kleiner Parteien. Auf diese Weise werden nicht nur regionale politische Strömungen missachtet, sondern der Wille vieler Bürgerinnen und Bürger insgesamt.

Die im Frühjahr beschlossene Wahlrechtsreform behindert demokratischen Fortschritt und zementiert die eigene Macht. Dieser Anschlag auf unser Wahlrecht ist ein denkbar schlechtes Vorzeichen für mehr direkte Demokratie. In einer Zeit der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung war dies der ungünstigste Schritt, um die Wogen zu glätten. Mit einer Regierung, die grundsätzlich davon ausgeht, die Moral für sich gepachtet zu haben, und der Missachtung eines Teils der Wählerstimmen wird auch in Zukunft ein bürgernahes Regieren kaum möglich sein. In Anbetracht der zahlreichen Herausforderungen ist aber sicher nicht die Abschottung von den Bürgerinnen und Bürgern das Gebot der Stunde, sondern deren Einbindung.

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Fair Share

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Die zweite selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung steht in den Startlöchern. Momentan können die Bürgerinnen und Bürger auf der Beteiligungsplattform consul über die eingereichten Themenvorschläge abstimmen. Vorschläge zur Eindämmung des menschengemachten Klimawandels kommen dabei nicht zu kurz. Die Initiative „Earth Cent for Future, Peace and Climate“ sieht dabei vor, Unternehmen mit einer kontinuierlich steigenden Abgabe zu belasten und sie damit zum Umstieg auf klimafreundliches Wirtschaften zu animieren. Der Vorschlag ist intelligent und geeignet, muss aber an bestimmte Bedingungen geknüpft sein.

Der Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel ist eine globale Herausforderung. Deshalb spielen Konzerne und Unternehmen eine zentrale Rolle in dieser Menschheitsaufgabe. Die Bemühungen gegen die Erderwärmung geraten auch deshalb immer wieder ins Stocken, weil die Unternehmen ihre Verantwortung nur halbherzig wahrnehmen, während die Bürger das Gefühl haben, die Lasten des Klimawandels alleine tragen zu müssen. Dabei wäre eine nachhaltige Verhaltensänderung globaler Konzerne viel wirkungsvoller. Ein beherztes staatliches Eingreifen ist überfällig.

Fair Share

Immer wieder führen wirtschaftsnahe Verbände und Interessensgruppen das Argument an, dass ein radikaler Umbau der Unternehmenskultur massiv Arbeitsplätze kosten würde und ein klimafreundliches Wirtschaften dadurch erschwert würde. In vielen Fällen mögen das vorgeschobene Ausflüchte sein – aus der Luft gegriffen ist die Sorge dennoch nicht. Gerade kleinere Unternehmen kann man nicht in demselben Maße in die Pflicht nehmen wie multinationale Konzerne.

Das Konzept von Earth Cent ist hier ein kluger Ansatz, weil es gezielt auf das Ausmaß des klimaschädlichem Verhaltens einzelner Konzerne eingeht und dem einen Riegel vorschieben will. Es ist daher wichtig, dass sich die vorgesehene Steuer nicht nach einer absoluten Zahl richtet, sondern an einem prozentualen Anteil am Umsatz orientiert. Damit wäre sichergestellt, dass sich große Konzerne nicht einfach freikaufen könnten, während kleine und mittelständische Unternehmen über Gebühr belastet würden.

Starthilfe für den Markt

Besonders fair an Earth Cent ist, dass es den Wirtschaftsakteuren Planungssicherheit und Transparenz verspricht. Jeder wüsste, was ihn erwartet und könnte entsprechend einlenken. Die Arbeitnehmer würden stärker eingebunden werden, weil sie durch betriebliches Engagement beizeiten Einfluss nehmen und nötigenfalls Druck auf die Unternehmensführung ausüben könnten, um Arbeitsplätze zu sichern.

Earth Cent richtet sich an die Unternehmen und ihre Art des Wirtschaftens. Die zusätzlichen Abgaben fließen direkt in weiteres Engagement gegen den Klimawandel. Es muss dabei unbedingt verhindert werden, dass die steigenden Kosten an die Kunden weitergegeben werden. Nachhaltige Alternativen müssen bezahlbar sein, sonst machen sie keinen Sinn. Genau so wie es dem Markt immer gelungen ist, Schlupflöcher zu finden, findet der Markt auch kostenschonende Möglichkeiten, wenn eine neue Situation eintritt. Wenn sich klimafreundliche Alternativen unter diesen Voraussetzungen durchsetzen, werden die Kunden dem guten Beispiel von selbst folgen.


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Die zweite selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung steht in den Startlöchern. Momentan können die Bürgerinnen und Bürger auf der Beteiligungsplattform consul über die eingereichten Themenvorschläge abstimmen. Viele umtreibt dabei die sinkende Repräsentation des Wählerwillens in den Parlamenten, weil sich immer weniger Menschen von den etablierten Parteien vertreten fühlen. Um ihre Stimmen nicht verfallen zu lassen, soll es nun eine Ersatzstimme richten. So originell der Vorschlag auch sein mag, verfehlt er das eigentliche Ziel. Gestärkt wird nicht die demokratische Teilhabe, sondern Verdruss und politischer Stillstand.

Im politischen Abseits

Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist zu gering. Auch wenn sich die Quote bei den letzten Wahlen bei ungefähr 75 Prozent eingependelt hat, besteht für Schulterklopfen kein Anlass. Dazu kommt, dass sich immer mehr Menschen von keiner kandidierenden Partei mehr vertreten fühlen oder ihre Stimme nicht gezählt wird, weil die Partei ihrer Wahl an der 5-Prozent – Hürde gescheitert ist. Bei der Bundestagswahl 2013 beispielsweise traf das auf rund ein Zehntel der Wählerinnen und Wähler zu, weil sowohl AfD als auch FDP den Einzug in den Bundestag knapp verpasst hatten.

Immer lauter werden jetzt die Rufe nach einer Ersatzstimme, damit der eigene politische Wille auf jeden Fall abgebildet wird. Falls die erste Wahl nicht in den Bundestag einzieht, zählt die Ersatzstimme für eine der etablierten Parteien. Für ebendiese ist eine solche Regelung auch gedacht. Eine Ersatzstimme gäbe den großen Parteien die Gewissheit, am Ende sowieso gewählt zu werden. Die Ersatzstimme zementiert ihre Macht und verhindert demokratischen Wandel, anstatt ihn zu fördern.

Wählen mit Weitsicht?

Eine dritte Stimme wäre zudem ein Hindernis, um politische Unzufriedenheit auszudrücken. Denn wer wählt aus Protest eine kleine Partei, wenn er sich mit der Ersatzstimme die Option einer großen Partei offenhält? Für echte Protestwähler ist dieser Vorschlag überhaupt nicht geeignet.

Die Ersatzstimme ist außerdem undemokratisch, weil bestimmte Wählerinnen und Wähler dadurch eine Stimme mehr hätten als andere. Wer von der Ersatzstimme Gebrauch macht, bereitet sich auf ein mögliches Szenario vor. Bei freien demokratischen Wahlen geht es aber gerade darum, dass man das Ergebnis nicht kennt und sich entsprechend nicht darauf vorbereiten kann.

Zweite Wahl

Die Gewissheit – oder zumindest der Verdacht – man war für die Wähler nur zweite Wahl, kann sich nachteilig auf politisches Engagement in den Parteien auswirken. Die Gefahr von Abgeordneten zweiter Klasse ist nicht von der Hand zu weisen, wenn manche Parlamentarier einzig aufgrund der Ersatzstimme im Plenum sitzen. Auch politische Innovation wird auf diese Weise unterdrückt.

Die zentrale Überlegung bei einer Ersatzstimme ist die Wahrung der politischen Repräsentation möglichst vieler Menschen. Genau das Gegenteil wird aber eintreten. Es wird immer so sein, dass die zweite Wahl mit höherer Wahrscheinlich zum Zuge kommt als die erste Wahl. Zwar drückt die Ersatzstimme die theoretische Präferenz aus, kleine Parteien werden dennoch abgewürgt.

In Zeiten der zunehmenden politischen Diversifizierung und der gerade beschlossenen Wahlrechtsreform wäre es daher sinnvoller, das Quorum auf beispielsweise 3 Prozent zu senken. So würden auch solche Wähler gehört werden, die sich von keiner der etablierten Parteien vertreten fühlen. Es wäre ein echter Anstoß für die großen Parteien, über ihre Programme nachzudenken.

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