Epidemische Realitätsverweigerung

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Mit dem 25. November 2021 endete in Deutschland die Pandemie offiziell. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wurde nicht wieder verlängert. Gleichzeitig geraten immer mehr Krankenhäuser und Intensivstationen ans Limit, mancher denkt laut über Triage nach. Die Infektionszahlen schnellen seit Wochen in die Höhe, eine neue Virusvariante aus Südafrika reißt das Zepter an sich. Die Antworten der Politik auf diese bedrohliche Lage grenzt an Realitätsverweigerung: 2G muss ausgeweitet werden. Die Ungeimpften sind schuld an den katastrophalen Zuständen. Durch falsche Akzente und eine fehlgeleitete Kommunikation erweist sich der Staat in der Krise als immer handlungsunfähiger.

Weihnachtsmarkt in 2G

In Deutschland tobt die vierte Welle der Pandemie und fordert täglich hunderte Menschenleben. Die Intensivstationen laufen voll, das Personal ist am Limit. Die Nachrichtensendungen überschlagen sich mit neuen Rekordinzidenzen und düsteren Prognosen für unser Gesundheitssystem. Lange war die pandemische Lage nicht so bedrohlich wie in diesem Herbst.

Ungeachtet dieser dramatischen Entwicklungen locken die Weihnachtsmärkte vielerorts mit Glühwein, Bratwürsten und gebrannten Mandeln. Auch wenn vereinzelte Städte in diesem Jahr komplett auf das Spektakel verzichten, ließen sich Großstädte wie Frankfurt, Karlsruhe oder Stuttgart lange Zeit nicht beirren. Um dem ganzen einen Hauch von Sicherheit beizufügen, gibt es auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt einen exklusiven 2G-Bereich. In dieser Schutzzone können sich Geimpfte und Genesene so richtig austoben, bevor sie sich wieder unter den ungeimpften Pöbel begeben und die gerade aufgeschnappten Viren unkontrolliert an ihre Mitmenschen abgeben.

Auch die feierliche Eröffnung der fünften Jahreszeit wollten sich viele Karnevalsliebhaber nicht noch einmal nehmen lassen. Standesgemäß läuteten sie am 11. November um 11:11 Uhr die Narrenzeit ein – Schunkeln, Küsschen und Alkohol inklusive. Auch diese Sause stieg unter 2G-Bedingungen. Dem Virus war das herzlich egal.

Anonyme Infizierte

Und wie reagiert die Politik auf die sich zuspitzende Infektionslage? Obwohl die Inzidenzen bereits im Sommer wieder nach oben tendierten, schaffte die Regierung pünktlich zum Beginn der kalten Jahreszeit die kostenlosen Schnelltests ab. Die Begründung ist so fadenscheinig wie dünn: Weil fast allen Menschen im Land ein Impfangebot gemacht werden kann, sind flächendeckende Testmöglichkeiten nicht mehr nötig.

Dabei ist ein breites Testangebot gerade bei hoher Impfquote besonders wichtig. Bleiben schwere Verläufe oder sogar Symptome aufgrund der Impfung aus, können Infektionen fast ausschließlich von Tests aufgedeckt werden. Wer sich nicht impfen lassen kann oder will, ist ansonsten unnötig schwer gefährdet.

Das Ende der Pandemie

Im Bund schwelte aber über Wochen noch eine weitere brisante Diskussion. Schon in der zurückliegenden Legislaturperiode mehrten sich die Stimmen, die ein Ende der epidemischen Notlage herbeisehnten. Diese Strömungen haben sich nun durchgesetzt. Die noch nicht vereidigte Ampelkoalition nutzte ihre Mehrheit im Parlament, um die epidemische Notlage von nationaler Tragweite Ende November auslaufen zu lassen. Der zukünftigen Regierung war dieses Anliegen wohl besonders wichtig. Immerhin ist die alte Regierung der GroKo noch geschäftsführend im Amt. Die Union hat dem Ende der Notlage bezeichnenderweise widersprochen.

Diese weitreichende Entscheidung kam zum völlig falschen Zeitpunkt. Seit Monaten steigen die Inzidenzen und unterschieden sich zeitweise nicht all zu sehr von den Werten ein Jahr zuvor. Zwischenzeitlich toppen die Infektionszahlen aber sogar den bisherigen Höchststand in der dritten Welle. Es leuchtet nicht ein, warum der Bundestag gerade in dieser kritischen Phase diesen Weg einschlägt.

Indirekt haben die Abgeordneten bestätigt, dass die Lage weiterhin bedrohlich ist. Die Länder behalten weitreichende Kompetenzen zur Eindämmung der Pandemie. Auch das Infektionsschutzgesetz hat die neue Mehrheit geändert. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte bei gleichzeitiger Beendigung einer akuten Notlage ist eines Rechtsstaats unwürdig. Keine andere Regierung der Bundesrepublik hat sich so schnell dermaßen undemokratisch verhalten – und das noch vor der offiziellen Zusammensetzung.

Staatsoberhaupt auf Irrwegen

In ihrem Handeln ist die neue Regierung auch ausgesprochen unehrlich. Sie verweist auf die hohe Impfquote, die viele Maßnahmen angeblich nicht mehr nötig mache. Abgesehen davon, dass erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben bestehen, wird die Wirkdauer der neuen Impfstoffe von vielen seriösen Wissenschaftlern mittlerweile in Frage gestellt. Bei einigen Präparaten scheint bewiesen zu sein, dass die Schutzwirkung bereits nach wenigen Monaten rapide abnimmt. In dieser Situation von einem Ende der epidemischen Notlage zu sprechen, grenzt an fahrlässige Körperverletzung.

In einer Fernsehansprache wandte sich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 15. November direkt an die Bevölkerung. Er rief die bisher Ungeimpften eindringlich dazu auf, sich schnellstmöglich impfen zu lassen, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Er stellte ihnen die Frage, was denn noch passieren müsste, damit sie ihre Entscheidung endlich überdenken würden. Das Staatsoberhaupt schob mit dieser Frage ungeniert den Ungeimpften allein die Schuld an den bedrohlichen Verhältnissen zu.

Eingebildet gesund

Steinmeiers Appell kann 1:1 auf die regierende Politik umgemünzt werden. Was muss denn noch passieren, damit die Damen und Herren Politiker endlich begreifen, dass ihre derzeitige Coronapolitik die Lage eher verschärft als beruhigt? Der generelle Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens führt dazu, dass sich diese Menschen in den privaten Bereich zurückziehen. Das Virus kann sich dort viel leichter ausbreiten, was besonders im Herbst und Winter fatal ist.

Die 2G-Regelung schafft außerdem eine trügerische Scheinsicherheit. Der Wegfall der Testplicht für Geimpfte und Genesene suggeriert, dass von ihnen keine Infektionsgefahr mehr ausgeht. Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser These mittlerweile widersprechen, hält die Politik stur an dieser kontraproduktiven Maßnahme fest. Sie sucht die Schuld für die steigenden Fallzahlen lieber bei den Nicht-Geimpften, obwohl deren Zahl aufgrund der weiter steigenden Impfquote rückläufig ist.

Der Frust der Geimpften

Auch bei einem weiteren Phänomen machen sich die Politikerinnen und Politiker, aber auch Teile der Wissenschaft inzwischen vollkommen lächerlich. Die steigende Zahl an Impfdurchbrüchen begründen sie ausschließlich damit, dass immer mehr Menschen geimpft sind. Beharrlich weigern sie sich einzusehen, dass auch die abnehmende Schutzwirkung der Impfung zur steigenden Zahl an Durchbrüchen beiträgt. Stattdessen konstruieren sie lieber hanebüchene Zusammenhänge zwischen der Zahl an Ungeimpften und den steigenden Inzidenzen.

Es liegt längst auf der Hand, dass die Minderheit der Ungeimpften bei der sich zuspitzenden Lage nur eine untergeordnete Rolle spielt. Mit ihrer Kampagne gegen die Ungeimpften hat die Politik alle anderen quasi zur Unvorsicht aufgerufen. Die meisten sind diesem unverantwortlichen Aufruf zum Glück nicht gefolgt. Es wird aber ein hartes Stück Arbeit werden, auch diese Menschen davon zu überzeugen, dass auch sie von den harten Maßnahmen des nahenden Winters nicht ausgenommen sein werden.

Die Regierung ist vor der Herausforderung eingeknickt, viele sinnvolle Maßnahmen auch für Geimpfte und Genesene aufrechtzuerhalten. Zu groß war die Angst, der hohen Impfmotivation dadurch einen Dämpfer zu verpassen.  Das zeugt von fehlendem Vertrauen auf beiden Seiten. Der künftigen Ampelregierung wird es aber viel schwerer fallen, auch bei Geimpften und Genesenen zu teils harten Einschränkungen zurückzukehren. Die voreilige Entlassung dieser Bevölkerungsgruppe aus dem Kampf gegen die Pandemie wird sich in den kommenden Monaten bitter rächen.


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Schuldfrage

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Der Weltärztebund-Chef Montgomery spricht von einer „Tyrannei der Ungeimpften“, Bundespräsident Steinmeier macht die Ungeimpften indirekt für die Lage auf den Intensivstationen verantwortlich und die Medien berichten vorrangig über die Einschränkungen für Ungeimpfte. Wenn eine Personengruppe derzeit überrepräsentiert ist, dann sind es die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich beharrlich einer Impfung gegen das Coronavirus verweigern. Mit der unfreiwilligen Aufmerksamkeit kommen allerdings auch die Wut und der Frust. Durch ständiges Wiederholen wird eine Lüge nicht automatisch zur Wahrheit, aber sie wird geglaubt. Dabei ist längst offensichtlich, dass die Ungeimpften allein nicht für die aktuelle Lage verantwortlich sind.

Die Infektionszahlen in Deutschland sind auf einem Rekordhoch. Noch nie haben sich so viele Menschen innerhalb von 24 Stunden mit SARS-Cov-2 infiziert wie diesen Herbst. Die aktuellen Zahlen übersteigen sogar die Werte vom letzten Winter und Frühjahr bei weitem. Immer lauter wird die Frage nach den Gründen dafür. Und immer stärker geraten dabei die Ungeimpften in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit.

Bequemer Sündenbock

Die derzeitige Situation hat sich lange abgezeichnet. Trotz hoher Impfbereitschaft und steigender Impfquote lagen schon vergangenen Sommer die Infektionszahlen nicht bedeutend unterhalb der Werte aus dem Vorjahr. Im Vergleich zu den erfassten Neuinfektionen im ersten Quartal 2021 hatte sich die Infektionslage zum Sommer hin zwar spürbar beruhigt, Entwarnung konnte aber zu keinem Zeitpunkt gegeben werden. Die Impfquote mag seit Sommer kontinuierlich gestiegen sein – die Infektionszahlen folgten allerdings einem ähnlichen Trend, wenn auch zeitlich verzögert.

Schon im letzten Sommer hatte sich die Legende durchgesetzt, die Ungeimpften seien dafür verantwortlich, dass in vielen Bereichen des Lebens weiterhin Einschränkungen gelten. Die fehlende Impfmotivation von zu vielen sei der Grund dafür, dass an Schulen, in Restaurants und im Kino weiterhin die Maskenpflicht bestehe. Zwischenzeitlich ist die Impfquote auf wahrscheinlich über 80 Prozent gestiegen. Der Sündenbock „Ungeimpfter“ hat trotzdem nichts von seiner Popularität eingebüßt.

Immer aggressiver versuchen Politik, Medien, aber auch Teile der Wissenschaft, die Minderheit der Ungeimpften für die erschreckend hohen Infektionszahlen und die katastrophale Lage auf deutschen Intensivstationen verantwortlich zu machen. Es leuchtet allerdings nicht ein, wie die knapp 20 Prozent der Nicht-Geimpften für mehr als 60.000 Infizierte und völlig überlastete Kliniken verantwortlich sein sollen. In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens gilt seit Monaten die 2G-Regel. Wer nicht gegen Covid-19 immunisiert ist, hat folglich keinen Zutritt zu teilnehmenden Restaurants, Kneipen und Theatern. Die Infektion an diesen Orten bleibt aus – zumindest für die Ungeimpften.

Kein Ende in Sicht?

Insgesamt wird der Einfluss der Ungeimpften auf das Infektionsgeschehen dramatisch überbewertet. Es steht außer Frage, dass von Ungeimpften ein höheres Infektionsrisiko ausgeht als von Geimpften. Wer doppelt geimpft ist, erkrankt seltener an Covid-19. Schwere Verläufe mit Impfung sind weiterhin äußerst selten. Auch die Weitergabe des Virus wird durch eine Impfung unwahrscheinlicher. Trotzdem gibt es Faktoren, die im Infektionsgeschehen weitaus schwerer zu Buche schlagen als der noch überschaubare Kreis der Ungeimpften.

Zum einen haben wir es mittlerweile mit einer aggressiveren und infektiöseren Virusvariante zu tun als noch vor einem Jahr. Auf die Deltavariante waren die Impfstoffhersteller bei der Entwicklung ihrer Präparate nur unzureichend vorbereitet. Vermutlich ist diese dominante Virusmutation auch für die steigende Zahl an Impfdurchbrüchen verantwortlich. Ungeimpfte haben durch sie ein noch höheres Risiko, an Covid-19 zu erkranken.

Die Deltavariante des Coronavirus hat die Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Pandemie zunichtegemacht. Die steigende Impfquote konnte dagegen kaum etwas ausrichten. Die zugelassenen Impfstoffe versprachen immerhin zu keinem Zeitpunkt eine sterile Immunisierung. Geimpfte Personen konnten sich weiterhin mit dem Virus infizieren und erkranken. Offensichtlich lässt der Impfschutz auch schneller nach als zunächst erwartet. Bereits nach wenigen Monaten steigt das Risiko einer Erkrankung deutlich an. Folglich müsste die Frequenz der Impfung erhöht werden, um den Schutz aufrechtzuerhalten. Dies steht allerdings unter finanziellem und medizinischem Vorbehalt.

Unterschätztes Risiko

Wer heute doppelt geimpft ist, der ist von den meisten Einschränkungen ausgenommen. Zugangsbeschränkungen und horrende Kosten für Tests treffen fast ausschließlich die Ungeimpften. Bei den Geimpften entsteht so schnell ein trügerisches Gefühl der absoluten Sicherheit. Es häufen sich allmählich die Berichte über Superspreader-Events, die unter 2G-Bedingungen stattfanden. Immer mehr seriöse Studien weisen darauf hin, dass Geimpfte im Falle einer Infektion fast genau so ansteckend sind wie Ungeimpfte. Ungefähr ein Fünftel der Corona-Intensivpatienten sind doppelt geimpft.

Trotzdem hält die Politik an ihrer Strategie fest, ausschließlich den Ungeimpften harte Einschränkungen aufzuerlegen. Diese notorische Fokussierung auf vermeintliche Querdenker und Spinner suggeriert allen anderen, aus dem Kampf gegen die Pandemie entlassen zu sein. Zu viele nehmen dieses Angebot gerne an. Es kommt zu Leichtsinnigkeit und einem laxen Umgang mit Maßnahmen wie Abstandhalten und Maskenpflicht.

Fataler Fehler

Der mit Abstand größte Infektionstreiber war aber die Abschaffung kostenloser Testmöglichkeiten. Diese sinnvolle Maßnahme, schnell Infektionsketten zu durchbrechen, wurde dem Ziel geopfert, möglichst viele Menschen durch Einschränkung ihrer Bequemlichkeit zum Impfen zu bewegen. Ohne Übertreibung handelte es sich dabei um die fatalste politische Entscheidung seit Jahrzehnten.

Die Folgen sind bereits nach einigen Wochen spürbar. Die Zahlen schnellen nicht nur wegen sinkender Temperaturen in die Höhe, sondern weil alle, Geimpfte wie Ungeimpfte, das Virus völlig unkontrolliert weitergeben. Besonders bei Menschen mit doppelter Impfung rächt sich das nun bitter. Im Falle einer Infektion schöpfen sie aufgrund ausbleibender Symptome keinen Verdacht. Das Virus hat es so spielend einfach.

Ansteckung im Verborgenen

Die Ungeimpften hingegen gehen zwar nicht mehr ins Restaurant, dafür aber weiterhin zur Arbeit. Die besonders umsichtigen unter ihnen müssten für regelmäßige Tests vor Dienstbeginn ein kleines Vermögen ansparen. Die Androhung, dass Ungeimpften im Quarantänefall der Lohn gestrichen wird, kann ebenfalls als Punkt für das Virus gezählt werden.

Solche Regelungen verlagern das Infektionsgeschehen fast ausschließlich auf den privaten Raum. Anders als im öffentlichen Bereich sind hier keine kostenpflichtigen Tests vorgeschrieben, um sich zu treffen. Auf diese Weise kann sich die Pandemie ungehindert ausbreiten. Wieder einmal zeigte sich die Politik ausgesprochen lernresistent. Schon in der dritten Welle verbannte sie das Infektionsgeschehen durch Ausgangssperren ins Verborgene.

Die Wiedereinführung kostenfreier Test war ein Schritt in die richtige Richtung. Für viele Bundesländer kam er aber zu spät. In Baden-Württemberg gilt seit Mittwoch die Alarmstufe. Schnelltests sind kaum noch etwas wert. Es ist an der Zeit im Kampf gegen die Pandemie umzusteuern. Corona ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe. Keine Gruppe trägt pauschal mehr Verantwortung an der Lage als andere. Solidarität bedeutet Zusammenhalt. Die derzeitige Kampagne gegen das Virus setzt aber auf Spaltung, Moral und Privilegierung. Neid und Hass sind schlechte Wegweiser in der Krise. Wir müssen auf einen gemeinsamen Pfad zurückfinden, auf dem sich jeder seiner Verantwortung stellt.


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Die Demokratie ist bedroht – auch in Deutschland. Doch militante Nazis, fanatische Terroristen und paranoide Querdenker sind nur ein Teil des Problems. Die Coronakrise zeigte deutlich, dass auch ein lange totgeglaubtes demokratiefeindliches Phänomen schnell wieder zur Hochkonjunktur auflaufen kann. In diesen Tagen feiert das Mitläufertum sein zweifelhaftes Comeback. Kritik an den harten Maßnahmen gegen Ungeimpfte bleibt Sache der Betroffenen. Viel zu groß ist die Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Eine moralisch aufgeladene Debatte sorgt dafür, dass breiter Unmut gegen die restriktive Politik bislang ausbleibt.

Einmal und nie wieder

In keiner anderen Phase der Bundesrepublik diskutierten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags so häufig über die Verteidigung der Demokratie und über den Kampf gegen Rechtsextremismus wie in Zeiten von Flüchtlingsströmen, Klimawandel und Coronakrise. Die Gefahr ist erschreckend real. Mit der AfD hat sich vor vier Jahren eine in Teilen offen rechtsextreme Partei im Reichstagsgebäude eingenistet. Was unter Historikern schon lange als sicher gilt, erleben auch viele Politiker heute hautnah: Es ist einmal passiert und es kann wieder passieren.

Die deutschen Wähler wurden seitdem mehrfach Zeuge von flammenden Reden, mit denen verschiedene Abgeordnete inbrünstig die Demokratie beschworen und sich klipp und klar von den Feinden der Demokratie auf der rechten Seite des Saals distanzierten.  Eines durfte dabei nicht fehlen: Das berühmte Zitat von Bertolt Brecht, mit dem er bereits Ende der1950er-Jahre auf ein faschistisches Potenzial hinwies. Pegida, Klimaleugner und Querdenker beweisen tatsächlich: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Gegen die Mehrheit

Rassismus, Homophobie und Antisemitismus sind die bekanntesten Auswüchse des rechten Extremismus. Dieser systematische Menschenhass war leider nie ganz weg. Die Flüchtlingswelle von 2015 hat gezeigt, dass viele fremdenfeindliche Ressentiments weiter vorhanden sind. Besonders männliche Homosexuelle können sich in einigen Gegenden nicht angstfrei küssen. Alle zwei Wochen wird in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet.

Im öffentlichen Bewusstsein blieben vor allem die Anschläge von Halle und Hanau und der Mord an Walter Lübcke als rechtsextreme Gewalttaten haften. Einige der Täter waren mit der rechtsextremen Szene vernetzt. Trotzdem handelten sie allein. Ihre menschenverachtenden Verbrechen waren nicht dazu geeignet, den Umsturz des Systems herbeizuführen. Sie stießen auf blankes Entsetzen, auf Trauer und auf Wut.

Auch die neuerdings 10 Prozent der AfD-Wähler sind zwar frustriert und unzufrieden, die wenigsten unter ihnen sind aber bereit dazu, den Staat mit der Waffe zu bekämpfen. Die Erzählung vom rassistischen AfD-Wähler ist und bleibt eine Legende. Selbst wenn die AfD immer unverhohlener ihr wahres Gesicht zeigt, gilt das für die Mehrheit ihrer Wähler nicht. Die meisten von ihnen sind keine Rassisten und Menschenfeinde. Es ist fraglich, woher eine so große Zahl an Rassisten plötzlich herkommen sollte. Rassistische und antisemitische Tendenzen waren über viele Jahrzehnte in der deutschen Gesellschaft vorhanden. Blinder Rassismus und Antisemitismus sprießt aber nicht wie wild aus dem Boden.

Sehenden Auges

Viele Wählerinnen und Wähler geben der AfD trotzdem ihre Stimme. Sie nehmen für sich in Anspruch, keine Rassisten zu sein und wählen sehenden Auges eine Partei, die sich mit jedem Tweet und jedem Talkshowauftritt ein Stück weiter vom Rechtsstaat entfernt. Willfährig versuchen sie, eine Partei auf den Thron zu heben, die von der großen Mehrheit der Gesellschaft weiterhin abgelehnt wird.

Spätestens mit der Flüchtlingskrise haben die Rechtspopulisten ein Bindemittel gefunden, dass diesen Nicht-Rassisten das Maul stopft. Mit Horrorszenarien von kriminellen Asylsuchenden und einem importierten Terrorismus machen sie es ihren Wählern leicht, über ihre offensichtlichen rechtsextremen Tendenzen hinwegzusehen oder diese sogar billigend in Kauf zu nehmen. Geschickt machte sich die AfD die existenziellen Ängste ihrer potenziellen Wähler zunutze, um an ihre Stimmen zu kommen. Dieses Spiel hatte die Rechte schon immer gut drauf, egal ob sich die Gesellschaft mit einem Krieg, einer Wirtschaftskrise oder mit einer Pandemie konfrontiert sah.

Keine vertrauensbildende Maßnahme

Am 3. November 2021 riefen die baden-württembergischen Behörden die Corona-Warnstufe aus. Bereits in den Tagen zuvor spekulierten die Medien über eine anstehende Verschärfung der Maßnahmen. Ausführlich kündigten sie an, welche Einschränkungen Ungeimpfte in der Warnstufe zu erwarten hätten. Spätestens in der Unterüberschrift fiel das Stichwort.

Zwar setzten sich viele Artikel auch mit steigenden Inzidenzen und überlasteten Krankenhäusern auseinander, im Fokus standen aber viel zu oft die Ungeimpften. Das sendete ein falsches Signal an alle anderen. Eine solche Berichterstattung entlässt die Geimpften und Genesenen aus der medizinischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Mit der Impfung erhalten die Menschen keinen Freibrief, sondern einen umfangreichen Schutz vor dem Coronavirus. Die Medien unterstützen diese Sichtweise leider nicht.

Stattdessen unterstützen sie mit solchen Beiträgen die Kampagne gegen Ungeimpfte. Seit Monaten versucht die Regierung, bislang Ungeimpfte durch finanziellen und gesellschaftlichen Druck zu einer Impfung zu bewegen. Eine vertrauensbildende Maßnahme ist das nicht. Stattdessen empfinden viele Betroffene diese Agitationen als Zwang. Beugen sie sich dem Druck, dann nur unter Protest. Besonders erfolgreich waren die staatlichen Maßnahmen bisher auch nicht: Die Mehrheit der Ungeimpften gab an, sich trotz des Drucks auf keinen Fall impfen zu lassen. Die Entscheidung gegen die Impfung scheint in Stein gemeißelt zu sein.

Bedrohliche Entwicklungen

Moralisch aufgeladene Debatten vertiefen die Gräben zusätzlich. Wer die explodierenden Infektionszahlen und die Überlastung des Gesundheitswesens ausschließlich oder vorrangig auf die Minderheit der Ungeimpften zurückführt, suggeriert damit, dass die Ungeimpften schlechte Menschen sind. Solche Schlussfolgerungen werfen den Ungeimpften vor, ihnen wären schwer kranke und leidende Menschen egal. Ließen sich die Ungeimpften aufgrund dieser Schein-Argumente doch impfen, würden sie diesen Vorwurf indirekt bestätigen. Weil aber kein Mensch schlecht sein will, verfestigt sich ihre Entscheidung gegen die Impfung.

Tatsächlich bricht sich immer mehr eine Rhetorik der offenen Drohgebärde Bahn. Nicht der Schutz der Ungeimpften steht im Vordergrund, sondern deren Bestrafung. Wenn der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) ankündigt, der Ausbau mobiler Impfstationen in der Stadt diene vorrangig dem Zweck, „auch den Rest der Ungeimpften [zu] kriegen“, dann ist diese Drohung nicht mehr subtil.

Augen zu und durch

Immer unverhohlener werden die Ungeimpften für die aktuelle Situation verantwortlich gemacht. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery sprach erst am vergangenen Sonntag bei Anne Will von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Warum regt sich gegen solche Diffamierungen kein breiter Widerstand? Es ist im Grunde ganz leicht: Die Geimpften haben Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Die Impfung wird als solidarischer Akt angepriesen. Diese Legende ist das Bindemittel, damit die Mehrheit der Geimpften den Mund hält, wenn die Minderheit der Ungeimpften mit fragwürdigen Methoden unter Druck gesetzt wird. Weitreichende Lockerungen machen es den Geimpften zusätzlich leicht, vor solchen Offensichtlichkeiten die Augen zu verschließen. Wer in einem schicken 2G-Restaurant sitzt, hat die Ausgeschlossenen schnell vergessen.

Mit ihren Maßnahmen erhöht die Regierung die Geimpften auf eine Position, von der es sich leicht auf die angeblich unsolidarischen Impfverweigerer herabsehen lässt. Geschickt lenkt die Politik dadurch von der Tatsache ab, dass sie selbst in der Vergangenheit alles andere als solidarisch war. Es ist ausgesprochen unsozial, Pflegekräfte mit mickrigen Löhnen abzuspeisen und allein im ersten Jahr der Pandemie zwanzig Krankenhäuser samt Intensivstationen dichtzumachen. Solche Entscheidungen tragen deutlich stärker zu einer Überlastung des Gesundheitswesens bei als der Entschluss, sich nicht impfen zu lassen. Die viel diskutierte Impfpflicht im Pflegebereich kommt nur deshalb nicht, weil die Regierung weiß, dass die Lage in Krankenhäusern und Heimen schon jetzt katastrophal ist.

Die Mehrheit der Geimpften begehrt gegen solche Ungerechtigkeiten nicht auf. Für sie sind die Ungeimpften die Buhmänner. Wegen persönlicher und sozialer Verlustängste schweigen sie lieber und reden sich ein, dass alles halb so wild sei: Die Ungeimpften können diesen Zustand schließlich jederzeit durch eine Impfung beenden. Dieses Mitläufertum war schon immer das Erfolgsrezept von Staaten, die nicht demokratisch verfasst sind. Einmal mehr steht fest: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.


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