Epidemische Realitätsverweigerung

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Mit dem 25. November 2021 endete in Deutschland die Pandemie offiziell. Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wurde nicht wieder verlängert. Gleichzeitig geraten immer mehr Krankenhäuser und Intensivstationen ans Limit, mancher denkt laut über Triage nach. Die Infektionszahlen schnellen seit Wochen in die Höhe, eine neue Virusvariante aus Südafrika reißt das Zepter an sich. Die Antworten der Politik auf diese bedrohliche Lage grenzt an Realitätsverweigerung: 2G muss ausgeweitet werden. Die Ungeimpften sind schuld an den katastrophalen Zuständen. Durch falsche Akzente und eine fehlgeleitete Kommunikation erweist sich der Staat in der Krise als immer handlungsunfähiger.

Weihnachtsmarkt in 2G

In Deutschland tobt die vierte Welle der Pandemie und fordert täglich hunderte Menschenleben. Die Intensivstationen laufen voll, das Personal ist am Limit. Die Nachrichtensendungen überschlagen sich mit neuen Rekordinzidenzen und düsteren Prognosen für unser Gesundheitssystem. Lange war die pandemische Lage nicht so bedrohlich wie in diesem Herbst.

Ungeachtet dieser dramatischen Entwicklungen locken die Weihnachtsmärkte vielerorts mit Glühwein, Bratwürsten und gebrannten Mandeln. Auch wenn vereinzelte Städte in diesem Jahr komplett auf das Spektakel verzichten, ließen sich Großstädte wie Frankfurt, Karlsruhe oder Stuttgart lange Zeit nicht beirren. Um dem ganzen einen Hauch von Sicherheit beizufügen, gibt es auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt einen exklusiven 2G-Bereich. In dieser Schutzzone können sich Geimpfte und Genesene so richtig austoben, bevor sie sich wieder unter den ungeimpften Pöbel begeben und die gerade aufgeschnappten Viren unkontrolliert an ihre Mitmenschen abgeben.

Auch die feierliche Eröffnung der fünften Jahreszeit wollten sich viele Karnevalsliebhaber nicht noch einmal nehmen lassen. Standesgemäß läuteten sie am 11. November um 11:11 Uhr die Narrenzeit ein – Schunkeln, Küsschen und Alkohol inklusive. Auch diese Sause stieg unter 2G-Bedingungen. Dem Virus war das herzlich egal.

Anonyme Infizierte

Und wie reagiert die Politik auf die sich zuspitzende Infektionslage? Obwohl die Inzidenzen bereits im Sommer wieder nach oben tendierten, schaffte die Regierung pünktlich zum Beginn der kalten Jahreszeit die kostenlosen Schnelltests ab. Die Begründung ist so fadenscheinig wie dünn: Weil fast allen Menschen im Land ein Impfangebot gemacht werden kann, sind flächendeckende Testmöglichkeiten nicht mehr nötig.

Dabei ist ein breites Testangebot gerade bei hoher Impfquote besonders wichtig. Bleiben schwere Verläufe oder sogar Symptome aufgrund der Impfung aus, können Infektionen fast ausschließlich von Tests aufgedeckt werden. Wer sich nicht impfen lassen kann oder will, ist ansonsten unnötig schwer gefährdet.

Das Ende der Pandemie

Im Bund schwelte aber über Wochen noch eine weitere brisante Diskussion. Schon in der zurückliegenden Legislaturperiode mehrten sich die Stimmen, die ein Ende der epidemischen Notlage herbeisehnten. Diese Strömungen haben sich nun durchgesetzt. Die noch nicht vereidigte Ampelkoalition nutzte ihre Mehrheit im Parlament, um die epidemische Notlage von nationaler Tragweite Ende November auslaufen zu lassen. Der zukünftigen Regierung war dieses Anliegen wohl besonders wichtig. Immerhin ist die alte Regierung der GroKo noch geschäftsführend im Amt. Die Union hat dem Ende der Notlage bezeichnenderweise widersprochen.

Diese weitreichende Entscheidung kam zum völlig falschen Zeitpunkt. Seit Monaten steigen die Inzidenzen und unterschieden sich zeitweise nicht all zu sehr von den Werten ein Jahr zuvor. Zwischenzeitlich toppen die Infektionszahlen aber sogar den bisherigen Höchststand in der dritten Welle. Es leuchtet nicht ein, warum der Bundestag gerade in dieser kritischen Phase diesen Weg einschlägt.

Indirekt haben die Abgeordneten bestätigt, dass die Lage weiterhin bedrohlich ist. Die Länder behalten weitreichende Kompetenzen zur Eindämmung der Pandemie. Auch das Infektionsschutzgesetz hat die neue Mehrheit geändert. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte bei gleichzeitiger Beendigung einer akuten Notlage ist eines Rechtsstaats unwürdig. Keine andere Regierung der Bundesrepublik hat sich so schnell dermaßen undemokratisch verhalten – und das noch vor der offiziellen Zusammensetzung.

Staatsoberhaupt auf Irrwegen

In ihrem Handeln ist die neue Regierung auch ausgesprochen unehrlich. Sie verweist auf die hohe Impfquote, die viele Maßnahmen angeblich nicht mehr nötig mache. Abgesehen davon, dass erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben bestehen, wird die Wirkdauer der neuen Impfstoffe von vielen seriösen Wissenschaftlern mittlerweile in Frage gestellt. Bei einigen Präparaten scheint bewiesen zu sein, dass die Schutzwirkung bereits nach wenigen Monaten rapide abnimmt. In dieser Situation von einem Ende der epidemischen Notlage zu sprechen, grenzt an fahrlässige Körperverletzung.

In einer Fernsehansprache wandte sich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 15. November direkt an die Bevölkerung. Er rief die bisher Ungeimpften eindringlich dazu auf, sich schnellstmöglich impfen zu lassen, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Er stellte ihnen die Frage, was denn noch passieren müsste, damit sie ihre Entscheidung endlich überdenken würden. Das Staatsoberhaupt schob mit dieser Frage ungeniert den Ungeimpften allein die Schuld an den bedrohlichen Verhältnissen zu.

Eingebildet gesund

Steinmeiers Appell kann 1:1 auf die regierende Politik umgemünzt werden. Was muss denn noch passieren, damit die Damen und Herren Politiker endlich begreifen, dass ihre derzeitige Coronapolitik die Lage eher verschärft als beruhigt? Der generelle Ausschluss von Ungeimpften aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens führt dazu, dass sich diese Menschen in den privaten Bereich zurückziehen. Das Virus kann sich dort viel leichter ausbreiten, was besonders im Herbst und Winter fatal ist.

Die 2G-Regelung schafft außerdem eine trügerische Scheinsicherheit. Der Wegfall der Testplicht für Geimpfte und Genesene suggeriert, dass von ihnen keine Infektionsgefahr mehr ausgeht. Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser These mittlerweile widersprechen, hält die Politik stur an dieser kontraproduktiven Maßnahme fest. Sie sucht die Schuld für die steigenden Fallzahlen lieber bei den Nicht-Geimpften, obwohl deren Zahl aufgrund der weiter steigenden Impfquote rückläufig ist.

Der Frust der Geimpften

Auch bei einem weiteren Phänomen machen sich die Politikerinnen und Politiker, aber auch Teile der Wissenschaft inzwischen vollkommen lächerlich. Die steigende Zahl an Impfdurchbrüchen begründen sie ausschließlich damit, dass immer mehr Menschen geimpft sind. Beharrlich weigern sie sich einzusehen, dass auch die abnehmende Schutzwirkung der Impfung zur steigenden Zahl an Durchbrüchen beiträgt. Stattdessen konstruieren sie lieber hanebüchene Zusammenhänge zwischen der Zahl an Ungeimpften und den steigenden Inzidenzen.

Es liegt längst auf der Hand, dass die Minderheit der Ungeimpften bei der sich zuspitzenden Lage nur eine untergeordnete Rolle spielt. Mit ihrer Kampagne gegen die Ungeimpften hat die Politik alle anderen quasi zur Unvorsicht aufgerufen. Die meisten sind diesem unverantwortlichen Aufruf zum Glück nicht gefolgt. Es wird aber ein hartes Stück Arbeit werden, auch diese Menschen davon zu überzeugen, dass auch sie von den harten Maßnahmen des nahenden Winters nicht ausgenommen sein werden.

Die Regierung ist vor der Herausforderung eingeknickt, viele sinnvolle Maßnahmen auch für Geimpfte und Genesene aufrechtzuerhalten. Zu groß war die Angst, der hohen Impfmotivation dadurch einen Dämpfer zu verpassen.  Das zeugt von fehlendem Vertrauen auf beiden Seiten. Der künftigen Ampelregierung wird es aber viel schwerer fallen, auch bei Geimpften und Genesenen zu teils harten Einschränkungen zurückzukehren. Die voreilige Entlassung dieser Bevölkerungsgruppe aus dem Kampf gegen die Pandemie wird sich in den kommenden Monaten bitter rächen.


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Nachträglicher Blankoscheck

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Die Impfkampagne kommt in Deutschland allmählich in die Gänge. Eine beachtliche Zahl an Menschen hat bereits die Erstimpfung erhalten. Manche sind sogar bereits komplett durchgeimpft. Die Impfung ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Der Bundestag hat darum jüngst beschlossen, dass Geimpfte und Genesene von einem Teil der Beschränkungen ausgenommen werden. Diese Lockerungen betreffen aber zunächst nur den privaten Bereich, in dem viele Menschen seit Monaten munter gegen die Auflagen verstoßen. Kaputtgesparte Krankenhäuser und unterbesetzte Gesundheitsämter lassen eine Öffnung des öffentlichen Bereichs weiter nicht zu.

Ein Stückchen mehr Freiheit

Worauf viele seit Monaten gehofft haben, hat der Bundestag nun in der vergangenen Woche beschlossen: Die Grundrechtseinschränkungen von Geimpften und Genesenen werden teilweise zurückgenommen. Wer vollständig gegen Covid-19 geimpft ist oder in den vergangenen sechs Monaten eine Erkrankung überstanden hat, ist fortan mit negativ getesteten Personen rechtlich gleichgestellt.

Die Entscheidung wurde von vielen sehnsüchtig erwartet. Immerhin gelten entsprechende Regelungen in an deren Ländern schon seit längerem. Im Gegensatz zu Deutschland haben in diesen Ländern bereits weit mehr Menschen eine vollständige Impfung gegen das Virus erhalten. Trotzdem ist es richtig, die Grundrechtseinschränkungen laufend zu überprüfen und zurückzunehmen, falls der Grund für die Einschränkungen wegfällt.

Testpflicht statt Impfpflicht

Bis zuletzt hat sich in diesem Zusammenhang besonders Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gegen den Begriff „Privilegien“ gesperrt. Und sie hat völlig recht: Die Rückgabe elementarer Grundrechte ist keine edelmütige Tat, es ist keine staatliche Großzügigkeit, es ist eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall der umfassenden Einschränkungen ist auch verantwortbar, wenn ein adäquates Mittel gefunden ist, das Neuinfektionen verhindert, ohne dass Menschen auf einige ihrer Grundrechte verzichten müssen.

Eine vollständige Impfung gegen das Virus allein reicht hier nicht. Bislang ist weiter ungeklärt, mit welcher Wirksamkeit die Impfstoffe Infektionen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Die Zahlen, die dabei immer wieder in den Raum geworfen werden, basieren auf Testverfahren, die nach weniger als einem Jahr abgeschlossen wurden. Niemand kann bei einer solch verkürzten Forschungsphase seriös die Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit eines Präparats belegen.

Nach aktuellem Kenntnisstand beugen die Impfstoffe zwar einem schweren Krankheitsverlauf vor, die Weitergabe des Virus wird aber nur unzureichend verhindert. Genau darum sollte es beim Kampf gegen die Pandemie aber gehen. Im Vordergrund sollte der Schutz der Gemeinschaft stehen. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn man dafür sorgt, dass man möglichst wenige Menschen ansteckt. Eine Impfung kann ein erster Schritt dazu sein, reicht aber bei weitem nicht aus. Viel sinnvoller wäre die Aufrechterhaltung der Testpflicht für alle Menschen. Auch die Tests arbeiten nicht immer ganz zuverlässig, können im Zweifelsfall aber Infizierte gezielt isolieren, anstatt ihnen einen Freibrief auszustellen.

Es ist kein Wunder, dass viele Menschen die Lockerungen für Geimpfte als Privilegien verstehen, wenn für sie mit der Impfung der Kampf gegen die Pandemie endet. Solange nicht klar ist, dass Geimpfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Überträger des Virus mehr sein können, muss auch für diese Gruppe die Testpflicht weiterhin gelten. Stattdessen dürfen sie nach der Impfung genau das wieder tun, was viele von ihnen seit Monaten sowieso wieder tun.

Infektionen im Verborgenen

Ausgerechnet die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen fallen für Geimpfte als erstes. Dabei tummeln sich die Menschen seit Monaten eng an eng in deutschen Wohnzimmern. Die bisher geltenden Besuchsregelungen handhaben viele äußerst lax oder setzen sich grundsätzlich darüber hinweg. Aus rein menschlicher Sicht fällt es schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Als soziales Wesen braucht der Mensch die Begegnungen und den Austausch mit anderen. Regelmäßige Skype-Sessions und Telefonate können das auf Dauer nicht ersetzen. Eine Infektionsnachverfolgung im privaten Raum ist allerdings wesentlich schwieriger als in öffentlichen Einrichtungen.

Wenn der Staat als erstes diese Regelungen zurücknimmt, tut er sich damit keinen Gefallen. Schon jetzt entziehen sich die privaten Haushalte völlig zurecht der staatlichen Kontrolle. Anstatt möglichen Infektionstreibern mit den nun zugesprochenen Lockerungen einen Blankoscheck auszustellen, würde es deutlich mehr Sinn machen, sie aus den schwer kontrollierbaren Bereichen herauszuholen. Kombiniert mit den jetzt beschlossenen Lockerungen führt der schwache Infektionsschutz der Impfungen zu einer Reihe nicht erkannter Infektionen, die das Infektionsgeschehen weiter anheizen werden. Hätten die Menschen stattdessen die Möglichkeit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Infektionen zumindest teilweise nachverfolgt werden können, würde das die Infektionslage deutlich schneller beruhigen.

Experimentieren mit Halbwissen

Bei solchen Lockerungen wäre allerdings der Staat in der Pflicht. Das öffentliche Leben bedeutet auch öffentliche Verantwortung. Der Staat müsste dafür sorgen, dass die Gastronomie und kulturelle Einrichtungen die ihnen auferlegten Maßnahmen effektiv umsetzen können. Unterbesetzte Gesundheitsämter und kaputtgesparte Krankenhäuser führten jedoch bereits in der ersten Welle der Pandemie dazu, dass die Hygienemaßnahmen in diesen Betrieben in vielen Fällen ins Leere liefen. Dort entstandene Infektionen konnten bald nicht mehr nachverfolgt werden, weil den Behörden schlicht das Personal fehlte.

Die großzügigen Öffnungen im privaten Bereich entlassen den Staat aus dieser Pflicht. Die Geimpften und Nur-so-halb-Corona-Immunen tragen die Verantwortung allein. Trotz fehlender fundierter Erkenntnisse, gaukelt man dieser Gruppe vor, dass von ihr eine weitaus geringere Infektionsgefahr ausgeht als von Ungeimpften. Das kann sogar stimmen. Gesichert ist dieses Wissen aber nicht.

Auf wackeligen Beinen

Gerade in dieser Situation wäre es umso nötiger, die Lockerungen kontrolliert zu vollziehen. Es muss nachvollziehbar bleiben, an welchen Stellen sich Menschen weiterhin anstecken und in welcher Häufigkeit das geschieht. Im privaten Bereich wird das selbst mit stark besetzten und hochdigitalisierten Gesundheitsämtern nur schwer möglich sein. Die voranschreitende Impfkampagne wäre in Kombination mit einer strikten Testpflicht ein großer Schritt zu mehr Normalität gewesen. Gleichzeitig hätten viele gastronomische und kulturelle Betriebe und Geschäfte des Einzelhandels aus ihrer Zwangssiesta erwachen können.

Man hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen lässt man den Zug der Lockerungen ähnlich unkontrolliert rollen wie bereits in der ersten Welle der Pandemie. Die gebeutelte Wirtschaft lässt man damit erneut im Stich. Wenn beizeiten keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist der nächste Lockdown nur eine Frage der Zeit.


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