Schwarzer Tag für Berlin

Lesedauer: 7 Minuten

Den meisten Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus dürfte es nicht gepasst haben, dass die Wahl von 2021 wiederholt werden musste. Das Wahlergebnis vom 12. Februar dürfte ihren Argwohn noch vergrößert haben: Die FDP fliegt aus dem Parlament, Rot-Grün-Rot ist schwach wie selten und der Regierungsauftrag liegt klar bei der CDU. Ein Grund zum Jubeln ist der Ausgang der Wahl sicher nicht, erst recht nicht, wenn man sich die erschreckend geringe Wahlbeteiligung ansieht. Weniger als zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner haben ihr Recht auf Mitbestimmung wahrgenommen. Das Vertrauen in die Politik ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Berlin steuert auf ungewisse Zeiten zu.

The same procedure…

Berlin hat gewählt. Mal wieder. Nachdem es bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus zu beschämenden Pannen kam, musste der komplette Vorgang wiederholt werden. Auch die damals gleichzeitig stattgefundene Bundestagswahl wird zumindest in einigen Wahlbezirken noch einmal stattfinden. Das Ergebnis der Wiederholungswahl vom 12. Februar könnte eindeutiger nicht sein: Die Berlinerinnen und Berliner haben keine Lust mehr auf den rot-grün-roten Senat.

Dramatisch verloren hat bei der Wahl wahrlich keine der drei Parteien. Entscheidend ist, wer gewonnen hat. Mit einem Zugewinn von etwa 10 Prozent hat die CDU den Wahlsonntag klar für sich entschieden. Auch wenn es der noch amtierenden Ersten Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nicht passen dürfte: Der Auftrag eine Regierung zu bilden, ging an die CDU und nicht an ihre Partei.

Immerhin haben die Sozialdemokraten gerade das mieseste Ergebnis zu verkraften, das sie bei einer Berliner Wahl seit der Wiedervereinigung erreicht haben. Mit ihren mickrigen 18 Prozent haben sie so gar nichts erreicht. Sie taugen weder zur Volkspartei noch als Splitteranhängsel einer Koalition aus stärkeren Parteien. Man fragt sich: Ist das Opposition oder kann das weg?

Ruhmreiche Verlierer

Theoretisch ist eine rot-grün-rote Mehrheit gegeben. Nach dem ersten Versuch der Wahl konnten sich die drei Koalitionäre noch damit brüsten, dass es keine Partei im Abgeordnetenhaus gab, die ein deutlich besseres Ergebnis eingefahren hätte als sie selbst. Die große Wählergunst der Grünen legitimierte dann schließlich die Regierung aus SPD, Grünen und Linken.

Knapp anderthalb Jahre später sieht das ganz anders aus. Die CDU ist der zweitplatzierten SPD haushoch überlegen, eine Regierung gegen die Konservativen grenzte an Wählerbetrug. Außerdem würde es in dem Dreierbündnis sicher schnell zu Reibereien kommen, weil sich SPD und Grüne über ihre jeweiligen Rollen und ihren Einfluss nicht so einfach einig werden könnten. Die Sozen haben immerhin gerade einmal 105 Stimmen mehr eingefahren als die Grünen.

Eine Fülle an Möglichkeiten

Das Wahldrama von Berlin ist mit dem 12. Februar lange nicht ausgestanden. Es zeichnet sich eine zähe Regierungsbildung ab, weil alle möglichen Bündnisse unrealistisch erscheinen. Die Wahlsiegerin CDU hätte es besonders schwer, Koalitionspartner für sich zu gewinnen. Theoretisch denkbar wäre eine Zusammenarbeit mit den Grünen. Da diese allerdings gerade aus einer linksgerichteten Regierung kommen, würden sie viele ihrer Wähler vor den Kopf stoßen, wenn sie nun mit der CDU koalierten.

Grundsätzlich möglich wäre auch eine Große Koalition mit der SPD. Dann jedoch würde Bürgermeisterin Giffey das Schröder-Schicksal ereilen: Eine Koalition mit der Union vehement ausschließen und dann über den Mehrheitsbeschluss der eigenen Partei stolpern. Wem wäre damit gedient?

Zum Glück muss die SPD ihre Vorreiterrolle in einer Fortsetzung der jetzigen Regierung nicht an die Grünen abgeben. Der Gesichtsverlust für die noch amtierende Erste Bürgermeisterin wäre unvorstellbar, Reibereien scheinen vorprogrammiert. In letzter Konsequenz mündete diese ungünstige Konstellation in der Ausrufung von Neuwahlen. Es wäre nachvollziehbar, wenn sich die Bürger in diesem Falle verschaukelt fühlten.

Die kleine Mehrheit

Verschaukelt fühlten sich viele offensichtlich schon vor der Wiederholungswahl. Die Wahlbeteiligung liegt mit 63 Prozent beschämend niedrig. Die im nächsten Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien haben aber noch mehr Wählerinnen und Wähler verloren. Denn sowohl die FDP als auch die sonstigen Parteien haben erheblichen Einfluss auf die Mehrheitsbildung im neuen Parlament. Mit rund 14 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen sie in der Summe ein beachtliches Ergebnis – sind aber im Abgeordnetenhaus nicht vertreten. Wer diese Parteien wählte, bleibt die nächsten Jahre ohne politische Vertretung in der Hauptstadt – und das sind ziemlich viele Menschen.

Durch den hohen Anteil an Stimmen, die keine politische Abbildung finden, verschiebt sich das Mehrheitsverhältnis sehr zugunsten der fraktionsfähigen Parteien. Die absolute Mehrheit können sich die unterschiedlichen Bündnisse schon mit etwas mehr als 40 Prozent sichern. Allein dieser Umstand dürfte die Legitimierung einer wie auch immer gearteten Koalition in Zweifel ziehen.

Die Umfragen zu möglichen Zusammenarbeiten fallen umso vernichtender aus. Keine der denkbaren Koalitionen findet starken Rückhalt unter den Wahlberechtigten in Berlin. Eine von der CDU angeführte Regierung ist ebenso unbeliebt wie eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition. Es kann dafür nur eine Erklärung geben: Die Wählerinnen und Wähler haben das aus ihrer Sicht kleinste Übel gewählt. Zu keiner der zur Wahl stehenden aussichtsreichen Parteien haben sie Vertrauen. Zu oft wurden sie dafür enttäuscht.

Pleiten, Pech und Pannen

Neuwahlen würden dieses Problem nicht lösen. Es ist sogar zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung bei einem dritten Wahlgang noch geringer läge. Das Wahlverhalten am 12. Februar ist vor allem ein Zeugnis von Enttäuschung und Resignation unter den Wählerinnen und Wählern.

Nicht nur die schlechte Regierungs- und Oppositionsarbeit der verschiedenen Parteien rechtfertigt diesen Vertrauensverlust. Die zuständigen Wahlämter waren beim ersten Versuch 2021 nicht dazu in der Lage, eine vernünftige Wahl auf die Beine zu stellen. Jede Panne an diesem Tag – von den fehlenden Stiften über die ausgehenden Wahlzettel bis hin zu den plötzlich hochschnellenden Prognosebalken – war auf Unfähigkeit und Überforderung zurückzuführen. Es ist kein Wunder, dass sich viele Menschen dazu entschieden, diesem Affenzirkus dieses Mal fernzubleiben.

Repräsentatives Regieren

Zurück bleibt ein schwieriges Wahlergebnis. Damit müssen die Parteien jetzt umgehen. Um der Demokratie nicht noch weiteren Schaden zuzufügen, müssen sie schleunigst eine Lösung im Sinne Berlins finden. Dabei spielen gegenseitige Zugeständnisse eine zentrale Rolle. Die Versteifung auf potenzielle Mehrheiten bei dieser Ausgangslage ist kontraproduktiv.

Das diversifizierte Wahlverhalten muss in der nächsten Regierung berücksichtigt werden. Im Raum steht nicht weniger als eine Minderheitsregierung, die dem Abstimmungsergebnis Rechnung trägt. So kommen zumindest viele von denen zum Zug, die am Wahltag ihre Stimme abgaben. Damit würden die Parteien Anreize setzen, beim nächsten Mal wieder zur Wahl zu gehen. Damit würden sie von Verlierern zu Gewinnern werden.

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Zum Schwarzärgern

Lesedauer: 6 Minuten

In den vergangenen Wochen meldeten sich gleich mehrere Verkehrsunternehmen zu Wort: In ihren Bussen und Bahnen soll Schwarzfahren künftig nicht mehr möglich sein. Fahrgäste können sich die entsprechende Leistung zwar weiterhin erschleichen, was sie aber dann tun, soll fortan einen Namen tragen, welcher nicht mehr diskriminierend aufgefasst werden kann. Mit dem Vorstoß wird ein weiteres altes deutsches Wort praktisch unbrauchbar, weil es derart rassistisch entstellt wird, damit es danach niemand mehr ungestraft in den Mund nimmt. An echtem Rassismus ändert die Entscheidung wenig. Das Image der Verkehrsunternehmen poliert sie dafür ordentlich auf.

Aus Spaß wird Ernst

Vor kurzem gaben die Verkehrsbetriebe München und Berlin bekannt, dass sie in Zukunft auf den Begriff „Schwarzfahren“ verzichten wollten. Sie reagierten damit auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber sprachlicher Diskriminierung. Das Fahren ohne gültigen Fahrschein stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, die bundesweit zu hohen Bußgeldern führen kann. Man wollte diesen Regelverstoß nicht in Zusammenhang mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit afrikanischen Wurzeln bringen. Zwischenzeitlich zogen die Hannoverschen Verkehrsbetriebe bei dieser Antidiskriminierungskampagne nach. Auch sie verzichten fortan auf die Bezeichnung des Schwarzfahrens.

Vor wenigen Jahren hätte auf diese Weise eine bissige Satire begonnen. Sie hätte gezeigt, wie leicht ein an und für sich gutes Anliegen ad absurdum geführt werden kann. Die genannten Verkehrsunternehmen haben diese Überspitzung nun in die Tat umgesetzt. Aus Fiktion wurde Realität, aus Satire bitterer Ernst.

Zurück zu den Wurzeln

Dabei ist selbst den Verkehrsunternehmen klar, dass sich das Wort „Schwarzfahren“ nicht von der Farbe ableitet. Das Wort entstammt dem Jiddischen, wo „shvarts“ so viel wie „arm“ bedeutet. Schwarzfahrer sind also eigentlich arme Menschen, die sich eine Leistung erschleichen, weil sie nicht genug Geld haben, um dafür zu bezahlen. Doch wie man es dreht und wendet, es bleibt eine Ordnungswidrigkeit, die in bestimmten Fällen sogar strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Natürlich möchte man niemanden pauschal mit dieser illegalen und sinistren Note versehen.

Immerhin wissen die Befürwortern nur zu gut, dass das Konstrukt Sprache einem ständigen Wandel unterliegt. Fast jeder assoziiert den Begriff „Schwarzfahren“ heute mit der Farbe Schwarz und denkt dabei an nichts Gutes. Gleichzeitig hat sich das Wort „Schwarze“ für Menschen mit ursprünglich afrikanischer Herkunft eingebürgert. Dieses unweigerliche Paradox muss nun unter allen Umständen aufgelöst werden.

Sprache im Wandel

Was liegt da näher als die Kriminalisierung des Worts „Schwarzfahren“? Die Debatte um diesen Begriff erfreut sich besonders in linksliberalen Kreisen großer Beliebtheit. Gerade Vertreter aus diesem Milieu weisen immer wieder auf den immerwährenden Wandel von Sprache hin. Sie erkennen dabei aber stets nur einen einseitigen Wandel. Dieser Wandel zielt immer auf die Diskriminierung von Minderheiten ab. Aus diesem Grund ist der Begriff „Zigeuner“ heute auch nicht nur aus den Supermarktregalen verschwunden, es ist heute ebenfalls verpönt, unartige Kinder ebenso zu bezeichnen. Allerdings haben die meisten Menschen dabei gar keine diskriminierenden Hintergedanken. Ein Wandel des Worts hin zu einer belanglosen Beschreibung von schlechtem Benehmen ist für den selbsternannten linksliberalen Sprachforscher nicht denkbar.

Keinen Menschen interessiert heute mehr, dass das Wort „Schwarzfahren“ seinen Ursprung im Jiddischen hat. Für die meisten ist die Farbe Schwarz eine böse Farbe, eine finstere Farbe. Sie haben damit nicht Unrecht. Von jeher wurde die Farbe Schwarz mit dem Bösen assoziiert. In der Literatur war sie schon immer die Farbe der Nacht und des Todes. Daher ist es auch kein Zufall, dass sich der Begriff „Schwarzfahren“ für dieses Erschleichen von Leistungen etabliert hat. Besonders gut untermauerte der Begriff das Verbotene an dieser Verhaltensweise.

Am Ziel vorbei

Die linksliberalen Sprachforscher stecken nun in einer schwierigen Zwickmühle. Einerseits müssen sie anerkennen, welche Bedeutung die Farbe Schwarz in Literatur und Kultur hat, andererseits haben sie selbst den Begriff „Schwarze“ für Menschen mit afrikanischen Wurzeln durchgedrückt, um wirklich rassistische Bezeichnungen für diese Menschen zu unterbinden. Wenn sie nun den Begriff „Schwarzfahren“ aus dem Sprachgebrauch verbannen möchten, um weiter gegen Rassismus und Diskriminierung vorzugehen, erweisen sie diesem wichtigen Anliegen allerdings einen Bärendienst. Sie verlagern fast die gesamte Aufmerksamkeit auf die negative Konnotation des Worts „schwarz“ und schüren damit rassistische Ressentiments, wenn manche Mitmenschen als „Schwarze“ bezeichnet werden.

Immer deutlicher wird dadurch, dass nicht der Begriff des Schwarzfahrens rassistisch ist, sondern die generelle Pauschalisierung bestimmter Menschen als Schwarze. Plakativ gesprochen reißen die größten Gegner des Worts „Schwarzfahren“ mit dem Hinterteil das ein, was sie mit den Händen aufgebaut haben. Außerdem gibt es einige Anhaltspunkte, dass es diesen Verfechtern politisch korrekter Sprache überhaupt nicht um Antidiskriminierung geht.

Ein PR-Gag

Wenn einzelne Verkehrsunternehmen das Wort „Schwarzfahren“ aus ihrem Vokabular verbannen, weil es ihrer Meinung nach rassistisch aufgegriffen werden kann, dann ist das ihr gutes Recht. Sprache ist nicht in Stein gemeißelt. Die deutsche Sprache bietet eine Fülle anderer Möglichkeiten, die besagte Ordnungswidrigkeit zu umschreiben. Sobald sie dieses Vorhaben allerdings derart penetrant publik machen, dazu Pressemitteilungen verschicken und Interviews geben, wird ihre wahre Motivation deutlich.

Die Verkehrsunternehmen haben erkannt, dass es inzwischen durchaus gesellschaftliche Pluspunkte zu sammeln gibt, wenn man sich öffentlich derart vielfältig und tolerant darstellt. Das bloße Statement, möglichst antirassistisch zu sein, zählt mehr als der wahre Schutz von Minderheiten vor tatsächlicher Diskriminierung. Immerhin schüren diese Betriebe rechte Ressentiments, wenn sie die Aufmerksamkeit derart auf die negative Konnotation des Worts „schwarz“ lenken.

Dass es diesen Unternehmen in erster Linie um die Abgabe politisch gefeierter Statements geht, wird aber auch aus einem anderen Grund offensichtlich. In vielen anderen Verkehrsunternehmen ist es nämlich längst üblich, auf den alten Begriff des Schwarzfahrens zu verzichten. Hier wurde diese Bezeichnung ebenfalls durch andere Begriffe ersetzt. Diese entsprechen in den meisten Fällen außerdem der geschätzten deutschen bürokratischen Präzision. Und damit ist der Kuchen gegessen. Viele Verkehrsverbünde begnügten sich damit, diese Angelegenheit schnell und reibungslos über die Bühne zu bringen. Sie hatten nie vor, das Thema derart aufzubauschen und ihren Fahrgästen ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn sie bestimmte Begriffe verwendeten. Kein Hahn hätte danach gekräht. Aber genau das ist den Verkehrsunternehmen von München, Berlin & Co. zu leise.

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Falsche Schlüsse

Lesdedauer: 9 Minuten

Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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Das Extrem ist bequem

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