Politischer Neustart gesucht

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Die Demos gegen Rechts reißen nicht ab. Woche für Woche gehen zigtausende Menschen auf die Straße, um klare Kante zu zeigen gegen rechte Hetze, Radikalismus und Deportationsfantasien. Die Demos stellen eindrucksvoll unter Beweis, wie stark sich weite Teile der Bevölkerung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit identifizieren. Die Umfragewerte der AfD berührt das bisher nur peripher. Trotz der bekanntgewordenen Pläne zur sogenannten „Remigration“ von Menschen halten viele der AfD weiterhin die Stange. Hoffnung setzen viele in das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Ob die neue Partei die extreme Rechte wirklich schwächen kann, hängt davon ab, wie überzeugend sie ihr Programm und ihren neuen politischen Stil insbesondere gegenüber den Nichtwählern vertritt.

Die AfD halbieren?

Seit Monaten wird darüber spekuliert, was das neue BSW politisch in Deutschland bewirken kann. Wird es einen Politikwechsel geben? Schließt sich die Repräsentationslücke? Halbiert das Bündnis die AfD? Besonders ans letzterer Frage scheiden sich die Geister. Während manche in der Wagenknechtpartei nichts weiter sehen als neuen populistischen Ballast, glauben manche in der einstigen Linken-Ikone eine politische Heilsbringerin zu erkennen.

Die Umfragewerte der neuen Partei können sich jedenfalls sehen lassen. Schon seit letztem Sommer kursieren Stimmungswerte, die dem Bündnis teilweise mehr als 20 Prozent an Wählerzustimmung attestieren. Das ist insoweit fraglich, da vor einem guten halben Jahr noch nicht einmal feststand, ob die neue Partei überhaupt kommt. Klar wurde dadurch nur: Es gibt Bedarf an einer neuen politischen Akteurin.

Ein realistisches Bild

Seit Gründung des Vorgängervereins und schließlich der Partei ist die Lage nicht mehr so klar. Zwar gibt es immer noch Umfragen, die der Partei eine Zustimmung im deutlich zweistelligen Bereich bescheinigen, andererseits setzt allmählich eine Ernüchterung ein. Für die Thüringen-Wahl im nächsten Herbst beispielsweise klaffen die Prognosen besonders weit auseinander. Während manche Umfragen auf BSW-Werte von 17 Prozent kommen, schafft es die neue Partei in anderen Befragungen nicht einmal über die 5-Prozent – Hürde.

Auch auf Bundesebene scheint sich die Einstelligkeit zu verfestigen. Die Erfolgsaussichten des BSW schmälert das nur bedingt. Die Ergebnisse sind nach dem Gründungsparteitag und dem Bekanntwerden konkreter programmatischer Punkte lediglich realistischer geworden. Dass eine Partei aus dem Stand ein Fünftel der Wähler anspricht, wäre unglaubwürdig und wenig demokratisch gewesen. Für die Umfragewerte gilt vermutlich das gleiche wie für die Partei selbst: Sie wachsen langsam.

Abgestempelt

Obwohl viele von den EU-Wahlen im Juni sprechen, ist es bis dahin noch mehr als drei Monate hin. Sobald die Wahlen noch näherrücken und der Wahlkampf so richtig an Fahrt aufgenommen hat, wird es wahrscheinlich spürbare Veränderungen bei den Zustimmungswerten geben. Bislang zumindest ist von einer Halbierung der AfD durch das BSW wenig zu spüren. Viele sprechen von einer Stammwählerschaft, die für demokratische Alternativen nicht mehr zu gewinnen ist.

Auch hier wird die Zeit zeigen, was in der neuen Partei und vor allem in den bisherigen AfD-Wählern steckt. Denn durch brillante Ideen und großartige Inhalte hat sich die AfD bisweilen nicht hervorgetan. Stattdessen bietet sie ein Forum für verständliche Unzufriedenheit und Verärgerung auf die etablierten Parteien. Ihre Wähler als unrettbar verloren und ewig rechts zu geißeln, ist vermessen und viel zu kurzsichtig. Es ist diese Vorverurteilung, die sie von der selbsterklärten demokratischen Mitte immer weiter wegtreibt.

Eine demokratische Tragödie

Darum ändern auch die zahlreichen Demos gegen Rechts kaum etwas an den Umfragewerten für die AfD.  Wer heute AfD wählt, fühlt sich von den Protesten nicht angesprochen, weil solche Wähler natürlich nicht für die Deportation von Menschen stehen. Es ist eine demokratische Tragödie, dass sie so viele Jahre der AfD überlassen wurden und der einzige Weg zurück zu einem völligen Gesichtsverlust führt, weil man sich eingestehen muss, dass man einer Partei gefolgt ist, die Menschen in Lager stecken will.

Die meisten heutigen AfD-Wähler werden sich bestimmt nicht die Blöße geben, nun doch wieder etabliert zu wählen. Eher noch gehen sie dahin zurück, wo sie herkamen: zu den Nichtwählern. Und tatsächlich befinden wir uns in Deutschland mittlerweile in einer Situation, wo man um jeden dankbar sein muss, der lieber nicht wählt, statt zur AfD überzulaufen. Mehr Politikversagen geht kaum.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die hohen Umfragewerte der AfD entsetzen viele deshalb, weil sie lange Zeit einem gewaltigen Irrtum aufsaßen. Wenn die SPD bei der letzten Bundestagswahl rund 26 Prozent erzielt, dann steht dieses Ergebnis immer in Relation zu allen abgegebenen Stimmen. Nichtwähler werden nicht berücksichtigt. Und ebenso wie sie bei den Wahlen aus dem Raster fallen, so hat man sie auch gesellschaftlich viel zu lange aus dem Blick verloren. Keinen scherte es, dass teilweise deutlich über 20 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause blieb. Dieses enorme demokratische Potenzial ist von den etablierten Parteien kaum noch zu erreichen – dafür aber von Protestparteien wie der AfD.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, die Menschen von der AfD zurückzugewinnen als jetzt. Wenn allen Ernstes über die Deportation von Migranten diskutiert wird, ist eine Grenze erreicht. Die etablierten Parteien bringen’s nicht, darum könnte das BSW als neue politische Kraft gute Chancen haben, Enttäuschte und Frustrierte wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden. Das bisherige Gebaren der neuen Partei lässt zumindest hoffen, dass sie für einen grundsätzlich anderen Politikstil steht.

Aber das BSW ist mehr als nur eine Anhäufung von Versprechen, die den Nichtwählern schon so oft gemacht wurden. Der Gründungsparteitag am 27. Januar hat gezeigt, dass die neue Partei alles andere ist als ein Sammelbecken gescheiterter Politiker. Im BSW engagieren sich erstaunlich viele Quereinsteiger, die mit Politik bislang wenig am Hut hatten. Das sendet ein wichtiges Signal an solche Menschen, die den Wahlen sonst fernblieben. Anders als die AfD verharrt das BSW nicht in der Empörung. Es steht viel mehr für einen politischen Neustart und weckt Hoffnung in den Menschen, dass auch sie die Kraft haben, etwas zu verändern.

Ein Schritt nach dem anderen

Das BSW ist noch keine zwei Monate alt, da beherrschen schon Koalitionsfragen die Debatte. Überraschend ist das nicht: 2024 stehen wichtige Wahlen an. Im Juni wird das EU-Parlament gewählt und im Herbst finden gleich drei Landtagswahlen in Ostdeutschland statt. Natürlich ist es interessant, welche Ambitionen die neue Partei bei diesen Wahlen hat.

Die Signale aus den anderen Parteien sind jedoch alles andere als hoffnungsvoll. Es wird also erst einmal auf die Oppositionsrolle hinauslaufen. Je stärker das BSW in der Opposition abschneidet umso besser. Denn insbesondere eine starke Opposition kann den Diskurs im Land verändern – die AfD ist ein beeindruckendes Negativbeispiel dafür.

Und auch wenn die Medienberichte anderes vermuten lassen: Sahra Wagenknecht steht nicht für jede beliebige Koalition zur Verfügung. Gedankenspiele zur Zusammenarbeit mit der CDU sind rein hypothetischer Natur und belegen stattdessen: Nur Inhalte übereinander legen reicht nicht aus. Viel wichtiger ist es, dass in den etablierten Parteien ein Sinneswandel zustandekommt. Wenn sie ihre Positionen und Ideen wieder so ausrichten, dass sie der Breite der Bevölkerung zugutekommen, ist der Zeitpunkt gekommen, um über Koalitionen zu sprechen.

Eines darf man nicht vergessen: Das BWS findet besonderen Anklang bei Menschen, die von der Politik enttäuscht sind oder sich schon abgewendet haben. Deren Interessen sind bei möglichen Koalitionen unbedingt zu beachten. Sollten sie die neue Partei wählen, ist ihr Vertrauen ein ganz besonders wertvolles Gut. Munteres Koalieren um jeden Preis wird solche Wähler wieder verprellen und sie noch weiter von der Parteiendemokratie entfremden. Nur den extremistischen Kräften wäre damit gedient.


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Munteres Farbenspiel

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Die Causa Hessen könnte Schule machen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) will mit der SPD koalieren. Diese ist nach zig GroKos auf Bundesebene und einer Endlosschleife an Wahlniederlagen auf Landesebene so beliebig und profillos geworden, dass niemand aus der Partei ernsthaft Bedenken gegen diese absurde Zusammenarbeit anmeldet. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Experimentierfreude an Koalitionsmöglichkeiten entstanden. Es mangelt an aufrechten Politikern, denen Rückgrat und Anstand nicht fremd sind. Stattdessen setzt sich der Typus Berufspolitiker immer weiter durch. Genutzt hat das fast ausschließlich der extremen Rechten.

Ein flaues Gefühl

Die Ergebnisse der beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen vom Oktober haben niemanden wirklich überrascht: Die CSU verharrt in ihrem Allzeittief, die AfD ist im Höhenflug und die SPD liegt in beiden Flächenländern am Boden. Umso erstaunter waren Berichterstatter, Medien und Öffentlichkeit, dass sich Boris Rhein (CDU) ausgerechnet für eine Koalition mit den Sozialdemokraten entschieden hat. Der bisherige Koalitionspartner war sowieso nie der Wunschkandidat gewesen und außerdem haben die Grünen in Hessen deutlich an Rückhalt verloren. Dass das auch bei der SPD der Fall ist, hindert den Ministerpräsidenten nicht daran, dieses politische Wagnis einzugehen.

Auch wenn die Grünen einst als Gegenpol zu konservativer und wirtschaftsliberaler Politik gegründet wurden: In den letzten Jahren hat man sich an das Zusammenspiel aus Christdemokraten einerseits und den Bündnisgrünen andererseits gewöhnt. Eine solche Konstellation stand nach der Bundestagswahl 2013 zumindest zur Debatte, in Baden-Württemberg regiert Grün-Schwarz seit mehreren Jahren. Eine Koalition aus CDU und SPD hingegen bereitet vielen weiterhin ein flaues Gefühl.

Selbst als die beiden Parteien noch in der Liga der Volksparteien spielten und sich unter Kanzlerin Merkel mehrfach in Großen Koalitionen zusammenfanden, war das Regierungsbündnis vielen ein Dorn im Auge. Und tatsächlich warnen nicht wenige Politikwissenschaftler vor den Risiken einer Regierungszusammenarbeit der beiden mandatsstärksten Fraktionen. Wichtige Wählerinteressen könnten hinten runterfallen und letzten Endes die politischen Ränder stärken.

Dafür oder dagegen

Nun handelt es sich bei einer Koalition von CDU und SPD auf Landesebene in vielen Fällen nicht mehr um eine Große Koalition. Gerade deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, dass die beiden Parteien eine Regierung bilden. Eigentlich sollten sie gegensätzliche politische Strömungen repräsentieren. Doch zur Wahrheit gehört: Sie tun es schon lange nicht mehr.

Die beiden ehemaligen Volksparteien haben sich gegenseitig kaputtkoaliert. Keiner kann mehr sagen, für was die beiden Parteien eigentlich stehen. Die ständigen GroKos unter Angela Merkel haben ein politisches Vakuum hinterlassen, dass andere Parteien vzu füllen versuchen. Besonders profitiert hat davon bisher die AfD.

Gerade weil es sich bei einer Großen Koalition um ein Regierungsbündnis der beiden Parteien mit der größten Wählerzustimmung handelt, ist es enorm schwierig, zu einem Kompromiss zu finden. Denn eigentlich ist eine Stimme für die stärkste Partei immer auch eine Stimme gegen die zweitstärkste und andersrum. Und tatsächlich hat die dauerhafte Suche nach Kompromissen bei beiden Parteien Spuren hinterlassen: Ihre Profile sind heute dermaßen ausgeleiert, dass sie grundsätzlich mit fast jeder anderen Partei koalieren könnten.

Opposition unerwünscht

Offensichtlich hat die Freude an der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner auf die anderen Parteien abgefärbt. Immer abenteuerlicher werden die Regierungsbündnisse, immer weniger unterscheidbar die Parteien. In Sachsen-Anhalt regiert seit über zwei Jahren eine Deutschlandkoalition, obwohl die FDP rein rechnerisch für eine Mehrheit gar nicht nötig wäre. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwafelt von einem Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik und möchte am liebsten auch den Oppositionsführer in die Regierungsarbeit einbinden. Wie wenig selbstbewusst und wie sehr zerstritten kann eine Koalition denn sein?

Harte und konstruktive Oppositionsarbeit scheint aber sowieso nicht mehr im Trend zu liegen. Nach der Kommunalwahl in Sonneberg im Juni riet FDP-Chef Lindner sogar dazu auf, aus Protest lieber Die Linke statt der AfD zu wählen. Opposition ja, aber nur, wenn sie schön handzahm ist. Ein Armutszeugnis für die sterbende Fraktion.

Nebenschauplätze

Widerspruch ist inzwischen bei vielen bedeutenden Themen nicht mehr angesagt. Wird über den Sonderhaushalt für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro diskutiert, müssen die wenigen wahrnehmbaren Gegenstimmen übelste Diffamierungen über sich ergehen lassen. Wer heute nicht mehr Geld für Aufrüstung ausgeben will, ist fast automatisch ein Putin-Freund. Harte Kontroversen gibt es stattdessen fast ausschließlich bei softeren Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz und der Legalisierung des Containerns.

Dieser latente Kuschelkurs hat den etablierten Parteien viel an Glaubwürdigkeit und Zustimmung gekostet. Doch reicht ein Programm allein nicht aus, eine Partei zu prägen. Letztendlich sind es die Personen, welche das Programm umsetzen – oder vorgeben es zu tun. In dieser Hinsicht taumelt insbesondere die SPD an der Schwelle zur Lächerlichkeit. Die künftige Koalition mit der CDU in Hessen ist nur eines von vielen Beispielen. Während Altkanzler Schröder nach seiner Wahlniederlage 2005 niemals in ein Kabinett Merkel eingetreten wäre, konnte sein Nachnachnachfolger Schulz mit Müh‘ und Not davon abgehalten werden, nicht doch noch Minister unter Mutti zu werden.

Verrat an der Demokratie

Ein ähnlich schamloses Verhalten legte jüngst Bundesinnenministerin Nancy Faeser an den Tag. Als Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen bescherte sie ihrer Partei eine krachende Niederlage und verspielte damit ihre komplette Glaubwürdigkeit als führende Politikerin. Doch von persönlichen Konsequenzen keine Spur. Stattdessen bleibt sie auf ihrem Posten im Bundeskabinett als wäre nichts gewesen. Man stelle sich vor, ein arbeitender Bürger hätte sich ein so unverschämtes doppeltes Spiel erlaubt.

Der erste Platz im Wettbewerb um den dreistesten weil folgenlosen Gesichtsverlust geht aber eindeutig an Franziska Giffey. Die ehemalige Erste Bürgermeisterin Berlins macht zuerst Wahlkampf gegen die CDU, um nach absehbarer Niederlage auf den Rang einer Senatorin degradiert zu werden. Scheinbar hat die Frau ein Faible für ehrloses Verhalten.

All diese Personen haben eines gemeinsam: Sie kleben an der Macht und an ihren Posten. Das Streben nach Einfluss und Ministersesseln hat sie blind gemacht für Anstand und Moral. Vielleicht ist der Ausgang der Sondierungen in Hessen daher doch keine so große Überraschung.

Es wird nicht lange dauern, bis die extreme Rechte daraus macht: Der Ausgang der Wahl stand schon vorher fest. Die haben sich alle abgesprochen. Und leider muss man sagen: Sie haben das Publikum dafür. Der Vertrauensverlust in die Politik und die Demokratie ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass dieses verschwörerische Geraune die Stimme der Vernunft immer häufiger übertönt. Immer mehr Menschen treten beiseite, weil sie der rechten Hetze nichts entgegenzusetzen haben. Politiker wie Faeser, Giffey und Co. ziehen den aufrechten Demokraten den Boden unter den Füßen weg. Der Fall wird lang und schmerzhaft.

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Schwarzer Tag für Berlin

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Den meisten Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus dürfte es nicht gepasst haben, dass die Wahl von 2021 wiederholt werden musste. Das Wahlergebnis vom 12. Februar dürfte ihren Argwohn noch vergrößert haben: Die FDP fliegt aus dem Parlament, Rot-Grün-Rot ist schwach wie selten und der Regierungsauftrag liegt klar bei der CDU. Ein Grund zum Jubeln ist der Ausgang der Wahl sicher nicht, erst recht nicht, wenn man sich die erschreckend geringe Wahlbeteiligung ansieht. Weniger als zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner haben ihr Recht auf Mitbestimmung wahrgenommen. Das Vertrauen in die Politik ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Berlin steuert auf ungewisse Zeiten zu.

The same procedure…

Berlin hat gewählt. Mal wieder. Nachdem es bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus zu beschämenden Pannen kam, musste der komplette Vorgang wiederholt werden. Auch die damals gleichzeitig stattgefundene Bundestagswahl wird zumindest in einigen Wahlbezirken noch einmal stattfinden. Das Ergebnis der Wiederholungswahl vom 12. Februar könnte eindeutiger nicht sein: Die Berlinerinnen und Berliner haben keine Lust mehr auf den rot-grün-roten Senat.

Dramatisch verloren hat bei der Wahl wahrlich keine der drei Parteien. Entscheidend ist, wer gewonnen hat. Mit einem Zugewinn von etwa 10 Prozent hat die CDU den Wahlsonntag klar für sich entschieden. Auch wenn es der noch amtierenden Ersten Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nicht passen dürfte: Der Auftrag eine Regierung zu bilden, ging an die CDU und nicht an ihre Partei.

Immerhin haben die Sozialdemokraten gerade das mieseste Ergebnis zu verkraften, das sie bei einer Berliner Wahl seit der Wiedervereinigung erreicht haben. Mit ihren mickrigen 18 Prozent haben sie so gar nichts erreicht. Sie taugen weder zur Volkspartei noch als Splitteranhängsel einer Koalition aus stärkeren Parteien. Man fragt sich: Ist das Opposition oder kann das weg?

Ruhmreiche Verlierer

Theoretisch ist eine rot-grün-rote Mehrheit gegeben. Nach dem ersten Versuch der Wahl konnten sich die drei Koalitionäre noch damit brüsten, dass es keine Partei im Abgeordnetenhaus gab, die ein deutlich besseres Ergebnis eingefahren hätte als sie selbst. Die große Wählergunst der Grünen legitimierte dann schließlich die Regierung aus SPD, Grünen und Linken.

Knapp anderthalb Jahre später sieht das ganz anders aus. Die CDU ist der zweitplatzierten SPD haushoch überlegen, eine Regierung gegen die Konservativen grenzte an Wählerbetrug. Außerdem würde es in dem Dreierbündnis sicher schnell zu Reibereien kommen, weil sich SPD und Grüne über ihre jeweiligen Rollen und ihren Einfluss nicht so einfach einig werden könnten. Die Sozen haben immerhin gerade einmal 105 Stimmen mehr eingefahren als die Grünen.

Eine Fülle an Möglichkeiten

Das Wahldrama von Berlin ist mit dem 12. Februar lange nicht ausgestanden. Es zeichnet sich eine zähe Regierungsbildung ab, weil alle möglichen Bündnisse unrealistisch erscheinen. Die Wahlsiegerin CDU hätte es besonders schwer, Koalitionspartner für sich zu gewinnen. Theoretisch denkbar wäre eine Zusammenarbeit mit den Grünen. Da diese allerdings gerade aus einer linksgerichteten Regierung kommen, würden sie viele ihrer Wähler vor den Kopf stoßen, wenn sie nun mit der CDU koalierten.

Grundsätzlich möglich wäre auch eine Große Koalition mit der SPD. Dann jedoch würde Bürgermeisterin Giffey das Schröder-Schicksal ereilen: Eine Koalition mit der Union vehement ausschließen und dann über den Mehrheitsbeschluss der eigenen Partei stolpern. Wem wäre damit gedient?

Zum Glück muss die SPD ihre Vorreiterrolle in einer Fortsetzung der jetzigen Regierung nicht an die Grünen abgeben. Der Gesichtsverlust für die noch amtierende Erste Bürgermeisterin wäre unvorstellbar, Reibereien scheinen vorprogrammiert. In letzter Konsequenz mündete diese ungünstige Konstellation in der Ausrufung von Neuwahlen. Es wäre nachvollziehbar, wenn sich die Bürger in diesem Falle verschaukelt fühlten.

Die kleine Mehrheit

Verschaukelt fühlten sich viele offensichtlich schon vor der Wiederholungswahl. Die Wahlbeteiligung liegt mit 63 Prozent beschämend niedrig. Die im nächsten Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien haben aber noch mehr Wählerinnen und Wähler verloren. Denn sowohl die FDP als auch die sonstigen Parteien haben erheblichen Einfluss auf die Mehrheitsbildung im neuen Parlament. Mit rund 14 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen sie in der Summe ein beachtliches Ergebnis – sind aber im Abgeordnetenhaus nicht vertreten. Wer diese Parteien wählte, bleibt die nächsten Jahre ohne politische Vertretung in der Hauptstadt – und das sind ziemlich viele Menschen.

Durch den hohen Anteil an Stimmen, die keine politische Abbildung finden, verschiebt sich das Mehrheitsverhältnis sehr zugunsten der fraktionsfähigen Parteien. Die absolute Mehrheit können sich die unterschiedlichen Bündnisse schon mit etwas mehr als 40 Prozent sichern. Allein dieser Umstand dürfte die Legitimierung einer wie auch immer gearteten Koalition in Zweifel ziehen.

Die Umfragen zu möglichen Zusammenarbeiten fallen umso vernichtender aus. Keine der denkbaren Koalitionen findet starken Rückhalt unter den Wahlberechtigten in Berlin. Eine von der CDU angeführte Regierung ist ebenso unbeliebt wie eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition. Es kann dafür nur eine Erklärung geben: Die Wählerinnen und Wähler haben das aus ihrer Sicht kleinste Übel gewählt. Zu keiner der zur Wahl stehenden aussichtsreichen Parteien haben sie Vertrauen. Zu oft wurden sie dafür enttäuscht.

Pleiten, Pech und Pannen

Neuwahlen würden dieses Problem nicht lösen. Es ist sogar zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung bei einem dritten Wahlgang noch geringer läge. Das Wahlverhalten am 12. Februar ist vor allem ein Zeugnis von Enttäuschung und Resignation unter den Wählerinnen und Wählern.

Nicht nur die schlechte Regierungs- und Oppositionsarbeit der verschiedenen Parteien rechtfertigt diesen Vertrauensverlust. Die zuständigen Wahlämter waren beim ersten Versuch 2021 nicht dazu in der Lage, eine vernünftige Wahl auf die Beine zu stellen. Jede Panne an diesem Tag – von den fehlenden Stiften über die ausgehenden Wahlzettel bis hin zu den plötzlich hochschnellenden Prognosebalken – war auf Unfähigkeit und Überforderung zurückzuführen. Es ist kein Wunder, dass sich viele Menschen dazu entschieden, diesem Affenzirkus dieses Mal fernzubleiben.

Repräsentatives Regieren

Zurück bleibt ein schwieriges Wahlergebnis. Damit müssen die Parteien jetzt umgehen. Um der Demokratie nicht noch weiteren Schaden zuzufügen, müssen sie schleunigst eine Lösung im Sinne Berlins finden. Dabei spielen gegenseitige Zugeständnisse eine zentrale Rolle. Die Versteifung auf potenzielle Mehrheiten bei dieser Ausgangslage ist kontraproduktiv.

Das diversifizierte Wahlverhalten muss in der nächsten Regierung berücksichtigt werden. Im Raum steht nicht weniger als eine Minderheitsregierung, die dem Abstimmungsergebnis Rechnung trägt. So kommen zumindest viele von denen zum Zug, die am Wahltag ihre Stimme abgaben. Damit würden die Parteien Anreize setzen, beim nächsten Mal wieder zur Wahl zu gehen. Damit würden sie von Verlierern zu Gewinnern werden.

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