Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

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Die einen empfinden es als Angriff auf die deutsche Sprache, die anderen sehen darin einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung: das Gendern dominiert und polarisiert die Debatte um Vielfalt und Diversität. Rechte Kräfte nehmen das zum Anlass, den Befürwortern geschlechtergerechter Sprache einen Hang zum Linksextremismus zu unterstellen. Sie könnten damit kaum falscher liegen, war es doch immer ein Anliegen des Linksextremismus, möglichst alle Unterschiede zu beseitigen.

Keine linke Partei

Kaum eine andere Partei greift ihre politischen Gegner so scharf an wie die AfD. Im Zentrum des Weltbilds dieser Partei steht die eigene Meinung. Abweichende Ansichten werden verächtlich gemacht und in eine Ecke gestellt, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Immer wieder sehen sich besonders die Grünen den verbalen Entgleisungen von AfD-Mitgliedern und -Funktionären ausgeliefert. Die rechte Truppe wirft den Parteien links der Union pauschal Ökosozialismus, Genderwahnsinn und teilweise sogar Linksextremismus vor. „Linksgrün-versifft“ ist dabei das beliebteste Schimpfwort der AfD.

Man unterstellt den eher progressiv eingestellten Politikern damit sozialistische bis kommunistische Methoden in ihrer Arbeit. All das basiert aber auf einer Lüge. Besonders die Grünen entfernen sich immer weiter von traditionell linker Politik. Die ehemalige Friedenspartei sagt immer entschiedener Ja zu bewaffneten Bundeswehreinsätzen im Ausland. Schaut man sich die Wählerklientel der Grünen an, so steht fest, dass es einen spürbaren Wechsel in der Wählerschaft gab. Beim persönlichen Einkommen machen die Grünenwähler zwischenzeitlich den Wählern der FDP deutlich Konkurrenz.

Die Angst vor dem Anderen

Es grenzt schon an massiven Realitätsverlust, ausgerechnet dieser Partei eine Tendenz zum linken Extremismus zu unterstellen. Es gibt ihn schlicht nicht. Solche haltlosen Diffamierungen verharmlosen echten Extremismus eher. Vor allem die rechten Schreihälse können dadurch von ihrem Extremismusproblem ablenken.

Denn dass die Parteiideologie der AfD auf rechten Ressentiments beruht, liegt auf der Hand. Im Kern betont der Rechtsextremismus die Unterschiede zwischen Gruppen, Völkern und Kulturen. Anhänger dieser Weltsicht glauben an menschliche Rassen, bei denen sich die eigene Rasse aus unterschiedlichsten Gründen als die vornehmste und leistungsstärkste erwiesen hat. Andere Gruppen werden mit entwürdigenden Attributen versehen und damit herabgesetzt. Rechtsextreme sehen andere Kulturen als Gefahr, deren Existenzgrundlage darin besteht, das eigene Volk auszulaugen, zu überrennen und der eigenen Werte zu berauben. Niemand kann vor solchen Tendenzen bei der AfD mehr die Augen verschließen.

Alles gleich

Bei linkem Extremismus hingegen steht die Überwindung sämtlicher Unterschiede im Mittelpunkt. Der Linksextremist träumt von einer Gesellschaft, in der alle gleich sind. Das geht weit über gleiche Bildungschancen bei Kindern hinaus und hat auch nichts mehr mit gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit zu tun. In dieser Ideologie stehen die Menschen morgens zur gleichen Zeit auf, sie nehmen jeden Tag den exakt gleichen Weg zur Arbeit, produzieren im Akkord eine vordefinierte Menge und tragen dabei die gleiche Kleidung. So entsteht eine Gesellschaft, in der der Einzelne immer steuerbarer wird. Bald gibt es keine Individuen mehr, sondern nur noch das Kollektiv.

Die extreme Rechte, allen voran die AfD, beruft sich auf solche Definitionen, um progressive Politik verächtlich zu machen und als potentiell gefährlich darzustellen. Besonders starke Aversionen ruft dabei die gendergerechte Sprache hervor. Jenseits jeglicher berechtigten Kritik stellt die Neue Rechte das Gendern als sprachlichen Ausdruck des Linksextremismus dar.

Hauptsache anders

Nun könnte man einen Moment lang geneigt sein, dieser Argumentation zu folgen. Immerhin möchte inklusive Sprache möglichst jeden ansprechen und mitnehmen, egal wie unterschiedlich die Menschen sind. Die Ansprache unterschiedlicher Menschen ist aber lange nicht gleichbedeutend damit, Unterschiede abzubauen oder sogar komplett abzuschaffen.

Das Gegenteil ist der Fall. Beim Gendern geht es immer darum, Unterschiede zu betonen und für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Ohne Unterschiede zwischen den Menschen könnte dieses sprachliche Konstrukt nicht bestehen. Auch bei anderen Anliegen der angeblich so grünsozialistischen Gutmenschen steht die Differenz im Mittelpunkt. Bei Quoten in Unternehmen und Parteien beispielsweise spielt die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen ebenfalls eine übergeordnete Rolle. Sie wird dabei sogar dermaßen erhöht, dass andere Eigenschaften der Betroffenen oftmals zurückstehen.

Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

Dass Gendern und Diversity ein Auswuchs des Linksextremismus ist, bleibt eine Legende. Aber was ist es dann? Besonders demokratisch führen sich seine ärgsten Verfechter in der Regel nicht auf. Wer versucht, konstruktive Kritik an Quoten und woker Sprache zu üben, findet sich viel zu oft unfreiwillig unter Rechten wieder. Im Namen der Political Correctness werden sie diffamiert und moralisch auseinandergenommen. Eine demokratische Auseinandersetzung ist selten möglich. Gepaart mit der übermäßigen Betonung von Unterschieden erinnert dieser Umgang mit Andersdenkenden eher an die Methoden von rechts.

Wer das Fass aufmacht, man dürfe aus Rücksicht vor People of Color nicht mehr von „Schwarzfahren“ reden, der spaltet eher als zu einen. Selbst den angeblichen Opfern von konventionellen Begriffen wird damit eingeredet, dass sie sich gefälligst auch als Zielscheibe von Rassismus und Benachteiligung zu definieren haben.

Mit woker Sprache, Quotenregelungen und Gendern macht man Unterschiede sichtbar und baut sie nicht ab. Das ist aber auch überhaupt nicht der Anspruch dieser Instrumente politischer Korrektheit. Sie zelebrieren die Diversität und machen sie auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Die sprachliche Sichtbarkeit ist dabei vielen ein Dorn im Auge.

Im moralischen Aus

Dass gendergerechte Sprache besonders gut als Vorlage für hitzige Debatten taugt, dürfte inzwischen jedem klar sein. Viele Menschen sehen schlicht keine Notwendigkeit für Gendersternchen, Sprechpausen und den generellen Einsatz des Partizip I. In ihrem Umfeld spielen solche Fragen keine Rolle. Es ist richtig, Menschen für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Wer allerdings acht Stunden am Tag mit einem Dutzend verschiedenen Kulturen in Berührung kommt, braucht sicherlich keine Nachhilfe in angewandter Vielfalt. In vielen Niedriglohnjobs ist das längst Realität.

Völlig zurecht interpretieren es die Betroffenen als Bevormundung, wenn man über ihre Köpfe hinweg entscheidet, was als angemessen gilt und was nicht. Sie haben keine Lust, sich für ihre Ausdrucksweise zu rechtfertigen und sich wegen des generischen Maskulinums als Anti-Feministen brandmarken zu lassen. In diesen Fällen führt Diversity eher zu Unruhe als zu gesellschaftlichem Frieden.

Das liegt allerdings nicht an der Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern daran, wie damit umgegangen wird. Würde man die verschiedenen Stärken und Schwächen, die kulturellen Hintergründe und die nationale Herkunft wertschätzen, anstatt sie permanent zum Thema zu machen, wäre ein friedliches Zusammenleben weitaus einfacher. Der Streit ums Gendersternchen hat immerhin noch nie dazu geführt, dass sich Minderheiten sicherer und respektierter fühlen.


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Was wir 2020 gelernt haben…

Vorschaubild: stux, pixaby, bearbeitet von Sven Rottner.

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2020 – was für ein Jahr! Viele werden dem Jahreswechsel hoffnungsvoll entgegenblicken. Grund dazu haben sie genug. Die Pandemie bestimmt schließlich weiterhin unseren Alltag. Das Jahr 2020 hat uns allen enorm viel abverlangt. Trotzdem konnten wir einiges von diesem beknackten Jahr lernen. Die zehn wichtigsten Erkenntnisgewinne sind hier zusammengefasst.

Den Artikel zum Wort „Virus“

Nachdem das Genus dieses Wortes besonders im Frühjahr noch für reichlich Irritationen sorgte, stand spätestens nach den ersten 10.000 Coronafällen offiziell fest: Es heißt DAS Virus. Obwohl viele in den ersten Monaten des Jahres krampfhaft versuchten, den männlichen Artikel für das Wort durchzudrücken, mussten sie gegenüber einer breiten Front von Sprachwissenschaftlern und Virologen klein beigeben. Diese bestimmten nämlich auf alle Ewigkeit: Virus ist Neutrum. Einzige Ausnahme gilt in Baden-Württemberg: Die Menschen von dort dürfen weiterhin ungestraft „der“ Virus sagen. Gegen die jahrhundertelange Tradition der artifiziellen Maskulinisierung von Substantiven kamen selbst die Gelehrten nicht an. Immerhin heißt es in dem südwestdeutschen Bundesland bis heute auch der Butter und der Klo.

Abstandsstriche ersetzen kostspielige IQ-Tests

In Zeiten der Pandemie ist eines ganz wichtig: Abstand voneinander halten. In einer überbevölkerten Welt, die immer enger zusammenwächst, fällt das vielen allerdings nicht leicht. Der Einzelhandel hat sich deswegen etwas ganz besonders gewieftes ausgedacht. Nach etlichen Stunden in den Laboren und nach so manchem rauchenden Kopf konnte die Branche stolz ihre Erfindung präsentieren. Mithilfe sogenannter Abstandsstriche sollte vor allem im Kassenbereich gewährleistet werden, dass die Menschen Abstand zueinander hielten. Es handelte sich dabei um speziell angefertigte Klebestreifen in leuchtenden Signalfarben, die die Menschen auf das Abstandsgebot aufmerksam machten.

Den erhofften Erfolg brachte die geniale Maßnahme leider nicht. Trotzdem stellte sich schon nach kurzer Zeit heraus, dass die Striche noch einen ganz anderen Effekt hatten. So ließen sie ohne viel technischen Schnickschnack für jedermann und jedefrau die Intelligenz der Kundinnen und Kunden erkennen. Ruben V., Filialleiter eines REWE-Marktes in Gütersloh bedauerte: „Es war für uns ein harter Schlag, dass fast zwei Drittel unserer Kundschaft einen Intelligenzquotienten von unter 40 haben. Das ist dümmer als Donald Trump.“

Da nicht in jeder Lebenslage ein Abstandsstrich zur Hand ist, gibt es eine noch alltäglichere Methode, um den IQ seiner Mitmenschen zu ermitteln. Die Art und Weise, wie die Maske getragen wird, spiegelt die Intelligenz des Tragenden sogar noch zuverlässiger wider als die farbigen Linien in den Supermärkten. Sollte jemand mit seiner Mund-Nasen – Bedeckung nur den Mund bedecken, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dieser bemitleidenswerte Zeitgenosse nicht weiß, was eine Nase ist. Dies ist Indikator dafür, dass der IQ nicht höher als 10 liegt.

Es gibt in Deutschland Heerscharen an renommierten Wissenschaftlern.

Als sich die pandemische Lage auf der Welt zuspitzte, da hatte ihre Stunde geschlagen: Die Wissenschaft ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und war in aller Munde. Nachdem sich die Menschen gerade in Deutschland ihre Fakten jahrelang zurechtbogen, wie es ihnen passte, hielt nun die faktenbasierte Recherche wieder Einzug. In schier obsessiver Leidenschaft haute so mancher Mitbürger eine wissenschaftlich fundierte Aussage nach der anderen raus. Mancheiner fand sogar den Mut, sich nach jahrelangem Versteckspiel als Wissenschaftler zu outen. Im April hatten wir dazu bereits den 76-jährigen Hermann S. befragt, der schon im Frühjahr einen eindeutigen Standpunkt hatte: „Dieses neuartige Virus ist nicht einmal so gefährlich wie eine Grippe. Studien haben ergeben, dass im Straßenverkehr dreimal so viele Menschen in Autounfällen sterben wie an Corona.“

S. war früher Schaffner bei der Bundesbahn, betrieb aber heimlich ein eigenes Forschungszentrum im Keller, von dem weder seine Frau noch seine drei Kinder wussten. Auf seine Forschungen blickt er mit Stolz zurück: „Jahrzehntelang war es verpönt, empirische Studien zu betreiben. Hinter allem vermuteten die Menschen wirtschaftliche Interessen. Ich bin stolz darauf, meinen kleinen Beitrag zum Wiederaufleben der Gesundheitsforschung zu leisten. Das ist das einzige noch nicht korrumpierte Forschungsfeld, denn immerhin forschen die Labore fast ausschließlich nach einem Impfstoff, der für alle von Nutzen sein wird. Dahinter kann einfach kein Profitinteresse stehen.“

Die richte Aussprache des Worts „Quarantäne“

In Zusammenhang mit der Pandemie ist noch ein weiterer linguistischer Meilenstein gelegt worden. Ähnlich wie bei dem Genus des Wortes „Virus“ ist seit diesem Jahr für alle Zeiten klar, wie die medizinisch verordnete Isolation richtig ausgesprochen wird: Es heißt Karantäne, ohne einen eingeschobenen w-Laut, wie häufig falschgemacht. Eine Kwarantäne gibt es nicht. Diese Wortschöpfung ist genau so falsch wie eine revolutionäre Gerillja (Gerieja!), das stinklangweilige Fach Kemie (weiches ch wie in „rieCHen“) oder wie der klassische Anfängerfehler Leviosah.

Wir sind auf eine Pandemie schlecht vorbereitet

Mit dem Virus haben wir nun schon seit einigen Monaten zu kämpfen. Zeit also für eine Zwischenbilanz. Diese fällt jedoch ernüchternd aus: Obwohl Deutschland bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, gibt es eklatante Schwachstellen. Diese betreffen besonders die Frühphase der weltweiten Krise und haben deshalb auch Monate danach schwere Auswirkungen. Nachdem das Virus bereits in den ersten beiden Monaten des Jahres eindrucksvoll demonstriert hat, zu was es fähig ist, wartete man in Deutschland lieber seelenruhig ab, anstatt beizeiten geeignete Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen. Reiserückkehrer aus Risikogebieten konnten unbehelligt ihren Alltag in Deutschland wieder aufnehmen, ohne jemals auf das neuartige Virus getestet worden zu sein oder unter Karantäne gestellt zu werden.

Besonders blamabel an dieser Vorstellung: Geeignete Schutzkonzepte, um die Ausbreitung hochinfektiöser Krankheiten einzudämmen, lagen bereits zu Jahresbeginn vor. Zur Anwendung kam im Frühjahr kaum etwas. Schiefer ging in diesem Jahr einzig der bundesweite Sirenentest. Die Lehre von 2020 ist eindeutig: Wenn eine Krankheit erst einmal zu einer Pandemie ausgeartet ist, ist ambitioniertes Handeln reine Schadensbegrenzung.

Die AfD ist eine bürgerliche Partei

Lange angezweifelt, doch seit diesem Jahr eindeutig bewiesen: Die AfD ist eine Partei, die die Interessen der Mitte der Gesellschaft vertritt. Sie selbst verortet sich schon seit Jahren im konservativ-bürgerlichen Spektrum. Nach der Wahl des Abgeordneten Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen konnten selbst die etablierten Parteien die Augen davor nicht mehr verschließen. Immerhin war es maßgeblich der AfD zu verdanken, dass der Fünf-Prozent – Mann das höchste Amt im Freistaat bekleiden durfte, wenn auch nur für ein paar Stunden.

Die Partei unter Führung von Bernd Höcke hat am 5. Februar gezeigt, dass sie staatspolitische Verantwortung übernehmen kann, als sie dem glatzköpfigen Liberalen den Weg an die Spitze der thüringischen Regierung ebnete. Auch der frisch vereidigte Kemmerich signalisierte der bürgerlichen Höcke-Partei Entgegenkommen. Anders als so manche beleidigte Leberwurst im Saal warf er ihm weder einen Blumenstrauß vor die Füße noch verweigerte er ihm den Handschlag.

Die Internetabdeckung im Land ist grottig

Völlig überraschend mussten in diesem Jahr Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern feststellen, wie schlecht es um die Verbindung mit dem Internet bestellt ist. Nachdem auch die Politikerinnen und Politiker pandemiebedingt im Home Office arbeiten mussten, bemerkten sie plötzlich, dass sie völlig vergessen hatten, das Internet in Deutschland einzuschalten. Von dem Fauxpas betroffen waren auch viele Schülerinnen und Schüler. Die per E-Mail gesendeten Hausaufgaben haben sie nie erreicht. Im schlimmsten Fall kassierten sie dafür sogar einen Strich.

Um diesem Problem zügig Abhilfe zu verschaffen, kündigte Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) jüngst an, in allen deutschen Ortschaften großzügig Milchkannen zu verteilen. Diese seien prädestiniert für einen ruckelfreien Internetempfang.

Wir haben ein Rechtsextremismus- und Antisemitismusproblem

Hanau und Halle sind zwei Städte, die in diesem Jahr traurige Bekanntschaft erlangt haben, die weit über die deutsche Bundesgrenze hinausreicht. Sie stehen symbolisch für die schlimmsten rechtsextremen Anschläge, die es in Nachkriegsdeutschland je gab. Die beiden Täter metzelten auf ihren rassistischen Mordzügen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie mögen Einzeltäter gewesen sein, doch gleichzeitig sind sie auch Ausdruck eines viel tieferliegenden Problems. Wenn in Deutschland regelmäßig jüdische Friedhöfe geschändet werden, dann ist es umso trauriger, dass es der beiden Täter aus Halle und Hanau bedurfte, um auf dieses eindeutige Rechtsextremismus- und Antisemitismusproblem aufmerksam zu werden.

Die Bereitschaft, vieler Demonstrierenden, rechtsextremen Symbolen hinterherzulaufen und sich gleichzeitig als ganz besonders überzeugte Demokraten zu gerieren, ist nicht nur heuchlerisch, sondern vor allem besorgniserregend. Die Grenzen zwischen Legitimität und absolutem No-Go verschwimmen immer mehr. Die Stimmen, die sich dagegen wehren, werden an vielen Stellen niedergebrüllt. Das Gewaltmonopol des Staats steht nicht zuletzt deshalb in Frage, weil selbst in der Polizei seit langem ein rechtsextremer Geist herumspukt. Anstatt dieses Problem ernstzunehmen und der Mehrheit der rechtschaffenden Polizistinnen und Polizisten den Rücken zu stärken, schiebt unser werter Herr Innenminister in einem Anfall von altersbedingter Sturheit und Senilität das Problem einfach beiseite. Horst Seehofer ist nicht die Lösung des Problems, sondern ein Teil davon.

Sophie Scholl lebt

Lange lehrten uns die Geschichtsbücher, dass die mutige Widerstandskämpferin Sophie Scholl am 22. Februar 1943 von den Nazis ermordet wurde. In diesem Jahr kam es aber in Hannover zu einer wundersamen Wendung. Die bisher unscheinbare Jana aus Kassel trat nämlich auf einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen auf und machte unmissverständlich klar: Der Geist von Sophie Scholl ist in sie eingefahren und hat sie zur Gegenbewehr berufen. Nicht noch einmal sollte es so weit kommen, dass Deutschland von angeblichen Demokraten zu einer Diktatur umgebaut würde. Dieses Mal seien sie und ihre Gefährten besser gerüstet: tausende Menschen auf Demonstrationen statt ein paar Dutzend Flugblätter an der Uni, öffentliche Entrüstung statt stillem Protest, mediale Aufmerksamkeit statt klammheimlicher Gerichtsverfahren. Ihre 1,0 im Leistungskurs bei Herrn Höcke hat sich dieses Mädel wahrlich verdient!

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„Last Christmas“ von Wham! ist ein nerviger Song

Der Pandemie fiel dieses Jahr auch ein echter Kultklassiker zum Opfer. Kein Weihnachtsfest der vergangenen 30 Jahre verging ohne den legendären Ohrwurm von Wham!, der uns Jahr für Jahr darauf einschwor, im nächsten Jahr nicht so leichtgläubig das eigene Herz zu verschenken. Er lief wirklich überall: im Radio, im Supermarkt, im Kaufhaus, in der Bahnhofshalle, teilweise sogar im Fahrstuhl. In der Zwischenzeit konnte man sich mit seinen Liebsten treffen und sich über die virtuosen Vorzüge dieses Meisterwerks austauschen. Genau diese Gelegenheit fiel dieses Jahr wegen Corona weg. Die Menschen hatten keine Möglichkeit, dieses Lied wenigstens für ein paar Minuten hinter sich zu lassen. Schnell verkam der sonst so beliebte Weihnachtssong zu einer nervtötenden Begleitmusik, die wir im nächsten Jahr sicher nicht mehr hören wollen.

Gegenvorschlag:

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Falsche Schlüsse

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Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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