Rückgratlos überzeugt

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Pegida-Demonstranten, Klimawandelleugner, Querdenker – Bei den Krisen der letzten Jahre trat eine dieser Minderheiten regelmäßig besonders laut auf. Sie beanspruchen für sich, die Wahrheit erkannt zu haben und lassen sich durch rationale Argumente selten beeindrucken. Zahlen und Daten missbrauchen sie, um ihre teilweise kruden Theorien auf ein halbwegs stabiles Fundament zu setzen. Sie tun dies auch, um vor sich und der Welt ihre wahren Beweggründe zu verschleiern. Wie Fähnchen im Wind lassen sie sich dabei von der extremen Rechten vor den Karren spannen. Und die Etablierten spielen munter mit.

Munteres Faktenpotpourri

“Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber…“ Wenn ein Gespräch so beginnt, ist klar, dass mit Niveau nicht mehr zu rechnen ist. Mit den Flüchtlingsströmen seit 2015 hat sich diese hohle Phrase in unseren alltäglichen Sprachgebrauch gemogelt und sich dort inzwischen fest etabliert. Der Satzanfang gilt mittlerweile als todsicherer Indikator dafür, dass hier jemand spricht, der einerseits gegen Asylantinnen und Asylanten wettern will und andererseits keine Ahnung hat.

An dieser Tatsache ändert auch nichts, dass auf den einfältigen Einstieg scheinbare Fakten folgen. Wahlweise handelt es sich dabei um horrende Unterstützungssummen, luxuriöse Ausstattungen von Flüchtlingsunterkünften oder seit neuestem auch furchteinflößende Todesopferzahlen von Impfkomplikationen. Mit den Zahlen und Daten wird so lange fröhlich jongliert und herumgewirbelt, bis sie irgendwann Sinn zu ergeben scheinen.

Der Zweck dieser Übung liegt auf der Hand: Fakten haben die Menschen schon immer überzeugt. Warum also nicht selbst einmal Fakten schaffen? Mit einem Schutzpanzer aus augenscheinlichen Tatsachen und wissenschaftlichen Erkenntnissen ziehen Querdenker und andere auf die Manege des offenen Meinungsstreits. Lügen und Hetze sind als wissenschaftliche Offensichtlichkeiten getarnt und sollen den angeblichen Verfechtern der Wahrheit Gehör verschaffen. Die Daten und Fakten verkommen dabei zum Vehikel von obskuren Theorien und narzisstischem Geltungsdrang.

Rückgratlose Schlechtmenschen

Würden sich die Spaziergänger, Querdenker und Frustrierten ehrlichmachen, müssten sie ihre Ergüsse eigentlich so beginnen: „Ich habe etwas gegen Flüchtlinge, weil…“. Auch an diesen Satzanfang könnten sie ihre zusammengebastelten Fakten grundsätzlich anhängen. Dann wiederum hätten sie das Problem, dass jeder ihre wahre Gesinnung sofort durchschauen würde. Sie wären als Schlechtmenschen bloßgestellt und müssten sich für ihre Anliegen rechtfertigen. Gepaart mit dem passenden Einstieg allerdings, stehen die Rückgratlosen mit ihren selbstkreierten Gründen gut vor sich und anderen da.

Die lauten Proteste und die pöbelhaften Parolen sind das Lebenselixier solcher Äußerungen. Wer auf diese Weise argumentiert, der braucht die routinemäßigen Aufmärsche, weil sie ihm die Bestätigung geben, gehört zu werden. Wären diese Menschen auf sich gestellt, würden sie zwar ähnliche Ansichten vertreten, sie aber niemals laut äußern. In einer solchen Konstellation würden sie sich sehr wahrscheinlich sogar der übergroßen Mehrheit beugen und Maßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandhalten zumindest einhalten. Auch mit zusammengeschusterter Propaganda gegen die Impfung wäre dann Schluss.

Diese Menschen sind stark in der Gruppe, aber schwach in der direkten Konfrontation. Sucht man die Diskussion, ist mit der vielgerühmten Sachlichkeit und Faktenbasiertheit schnell Schluss. Wesentlich bequemer finden sie dann die Opferrolle, die ihnen auf den Leib zugeschrieben ist. Auch persönliche Herabsetzungen und die Heraufbeschwörung einer Diskriminierungskampagne durch den Mainstream dürfen bei solchen Aufeinandertreffen auf keinen Fall fehlen.

Im gemachten Nest

Erstmals aufgetreten sind empörte Aufmärsche wie Pegida, Hygienedemos und Spaziergänge fast zeitgleich mit Entstehung der AfD. Fast ist man geneigt, allein die AfD für den Frust verantwortlich zu machen. Damit würde man die Macht der Rechtspopulisten aber grundsätzlich falsch einordnen. Die AfD hat zweifellos die Verrohung der Debatte geprägt und das sagbare Meinungsspektrum weit jenseits des Anständigen erweitert. Die AfD ist aber lediglich Treiber des Hasses und der Entfremdung, nicht deren Ursache.

Die Rechtsaußen-Partei bietet allen Enttäuschten ein politisches Forum, wo sie ihren Frust ungezügelt loswerden können. Die große Unzufriedenheit ist die Grundlage für die Existenz der Partei, deswegen haben ihre Funktionsträger natürlich überhaupt kein Interesse daran, die Lage der Menschen nachhaltig zu verbessern. Durch die Teilnahme an den sogenannten Spaziergängen, den Montagsdemonstrationen neuer Lesart und den Aktionen der AfD im Rahmen des heißen Herbsts verhelfen die ewig Missverstandenen dem Rechtsruck zur Unsterblichkeit. Für einen Moment fühlen sie sich wie ernstgenommene Demokraten und gehen für diesen erhabenen Augenblick eine Symbiose mit der extremen Rechten ein, die für die Demokratie alles andere als gesund ist. Letztendlich bleiben sie jedoch das, was sie für die anderen Parteien viel zu lange waren: naives Wahlvieh, das sich bereitwillig vor den Karren spannen lässt.

Die AfD braucht sich dafür nur ins gemachte Nest zu setzen. Die Parteien, die sie als Altparteien beschimpfen, haben gründliche Vorarbeit geleistet. Durch lobbyistische Verstrickungen und bürgerferne Politik haben sie in den vergangenen Jahrzehnten einen Großteil des Vertrauens vieler Wähler verspielt. Gründe gegen die Rechtspopulisten helfen da nicht weiter. Diese überzeugen bestenfalls Menschen, die sowieso nicht im Verdacht stehen, jemals AfD zu wählen. Es braucht einen grundlegenden politischen Kurswechsel, der den Menschen wieder Gründe für die Wahl demokratischer Parteien gibt. Anders lässt sich der Sumpf aus Empörung, Frust und chronischer Unzufriedenheit nicht trockenlegen.


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Protest aus Routine

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Falsche Schlüsse

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Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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Das Extrem ist bequem

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Wenn Verdrängen absichtlich passiert

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Könnte der Mensch nicht verdrängen, würde er keinen Millimeter nach vorne kommen. Die Fähigkeit, störendes auszublenden, ist Fluch und Segen zugleich. Zwar hilft es uns, besonders traumatische Ereignisse aus den Gedanken zu verbannen, andererseits verleitet uns das aktive Verdrängen oft zu ausgesprochen unvorsichtigen Taten. Denn wir Menschen sind unvorstellbar gut im Verdrängen. Die Probleme werden oftmals nicht einmal dann angepackt, wenn sie sich direkt vor unserer Nase breitmachen. Erst wenn wirklich alle die Konsequenzen spüren, wird kehrtgemacht. Bei manchen Problemen ist das zu spät.

Gegen das Vergessen ist kein Kraut gewachsen. Gegen das Verdrängen allerdings auch nicht. Jeder Mensch macht es regelmäßig. Vielleicht sogar mehrmals am Tag. Was sonst eher psychisch auffälligen Personen zugeschrieben wird, das können auch alle anderen. Um Geschehenes zu verdrängen, braucht es keinen Unfall und auch kein traumatisierendes Erlebnis. Verdrängen kann der Mensch auch so. Aktiv. Viele denken, es muss etwas ganz furchtbar schlimmes passieren, damit ein Verdrängungsmechanismus in Gang gesetzt wird. Verdrängen wird als etwas passives verstanden, worauf man kaum Einfluss nehmen kann. Doch regelmäßig beweisen wir selbst, dass auch aktiv verdrängt werden kann.

Ein ganz normaler Mechanismus

In erster Linie bedeutet Verdrängen die Ausblendung des Negativen. Kein Mensch verdrängt ein freudiges Ereignis. Dieses Negative wird soweit ausgeblendet bis nur noch das Positive zu erkennen ist. Häufig ist das ein Schutzmechanismus, um nicht ständig an besonders schwerwiegende Erlebnisse erinnert zu werden. Viele Zeugen grausamer Straftaten können sich beispielsweise nicht daran erinnern, was sie gesehen haben. Manchmal helfen sogenannte Trigger ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.

Womöglich wäre das aktive Erinnern an solche Begebenheiten schlicht zu zeit- und energieaufreibend. Das Gehirn möchte sich diese Strapazen gerne ersparen und verdrängt das Erlebte. Das klingt soweit ganz gesund. Menschen müssen wegen bestimmter Vorkommnisse also nicht auf Dauer innehalten, sondern können weitergehen.

Das Gute an Donald Trump

So viel zum passiven Verdrängen. Das aktive Verdrängen wiederum ist eine ganz besondere Form der Realitätsverweigerung. Menschen können sich ihre Welt so zusammenschustern, wie sie gerade Lust haben, das ist keine Neuigkeit. Sie können die Augen aber auch so fest vor der Realität verschließen, dass durchaus von Verdrängung gesprochen werden kann. Das tun sie meistens dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Wenn ihr Tun zwar erhebliche Risiken birgt, aber sie zumindest kurzfristig aus ihrer Misere entlässt – oder wenn sie das Gefühl haben, dass es das kann.

Hardliner wird es immer geben, auch dagegen ist wohl kaum ein Kraut gewachsen. Aber gerade in der Politik verhalten sich viele Menschen nur deshalb irrational, weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Obwohl die Nachteile von Donald Trumps Präsidentschaft auf der Hand lagen, machte ihn ein Großteil der US-Amerikaner zum mächtigsten Mann im Staatenbund. Sie bejubeln einen Mann, der die Welt ins Verderben stürzen kann. All das ist vielen Menschen in den USA irgendwie bewusst, aber sie schaffen es, diese Nachteile auszublenden, weil sie sich Vorteile von Trump als Präsidenten erhoffen. Viele gebaren sich als überzeugte Trump-Anhänger, verweigern sich in Wahrheit aber aktiv der Realität.

Es gelingt diesen Menschen die überwältigende Fülle an Negativem zu ignorieren, es im Prinzip überhaupt nicht wahrzunehmen, und nur das Positive an diesem Mann zu sehen. Denn irgendwas positives bleibt bei jedem Menschen übrig, auch bei Donald Trump. Immerhin hat er … Kinder.

Es müssen mehr werden

Aber so konkret wie Donald Trump muss man gar nicht werden. Zugegeben macht es der Mann einem auch nicht besonders leicht, über seine fragwürdigen Aktivitäten hinwegzusehen. Es gibt andere Dinge, bei denen ein Wegsehen wesentlich einfacher ist. Der Klimawandel ist beispielsweise so ein Fall. Jeder weiß, dass da irgendwas im Busch ist. Jeder weiß, dass alle immer vom Klimawandel reden. Und jeder weiß, dass mehr als 40 Grad in Mitteleuropa nicht gesund sind. Um die katastrophalen Folgen des Klimawandels abzuwenden, passiert aber erschreckend wenig. Das liegt hauptsächlich daran, dass die wirklich gravierenden Folgen der Erderwärmung noch nicht ausreichend stark zu spüren sind – zumindest nicht für die, deren Handeln wirklich etwas bewegen könnte.

Machen wir uns nichts vor: Der globale Norden hat es in der Hand. Gerade in den USA, in Europa und in China sitzen die Menschen, die einen echten Wandel einleiten können. Greta kann noch so hartnäckig protestieren, ihr grimmiges Gesicht allein wird die Welt nicht vor dem Verderben schützen. Erst wenn ein großer Teil der Menschheit umdenkt, wird sich wirklich etwas verändern. Aber dazu müssen die Menschen begreifen. Der Klimawandel lässt sich aber nicht so leicht begreifen. Trotz des Getöses freitags auf den Straßen, kommt er schleichend. Und was so leise daherkommt, das lässt sich leicht verdrängen.

Eine neue Flüchtlingswelle?

Bisher ist der Klimawandel vielen noch zu theoretisch. Von der gewaltigen Dimension des Temperaturanstiegs haben die meisten zwar gehört, aber verstanden haben sie sie nicht. Es gibt bisher kaum Menschen, die ihre Heimat des Klimas wegen verlassen. Die Flüchtlinge von gestern und von heute versuchen Krieg und Hunger zu entkommen. Noch wird dieser Hunger durch politische Entscheidungen des globalen Nordens verursacht. Schon bald könnte sich das aber ändern. Dann flüchten die Menschen, weil sie ihre Heimat nicht durch einen Bombeneinschlag verloren haben, sondern weil ihre Siedlung plötzlich verschwunden war, weil der Grund darunter nachgab.

Immerhin sind Wirbelstürme noch lange nicht an der Tagesordnung. In bestimmten Regionen der Erde gehören sie zu bestimmten Jahreszeiten zum ganz natürlichen Bild. Sie mögen in den letzten Jahren zwar etwas heftiger ausgefallen sein, aber Häuser haben die Wirbelstürme auch schon vor Jahrzehnten verwüstet. Der Klimawandel findet in einer Zeitspanne statt, die das Denken der Menschen übersteigt. Die wirklich dramatischen Folgen werden erst in vielen Jahren spürbar sein, was macht es da aus, wenn heute wieder ein Gletscher dahinschmilzt? Es gibt ja noch genügend andere.

Dieser Sommer beispielsweise ist bisher alles andere als der typische Rekordsommer. Die 40-Grad – Marke wurde bisher nicht überschritten, nur gelegentlich stieg das Thermometer über 30 Grad. Aber sagen wir mal so: Vier Monate am Stück 28 Grad mit viel zu wenig Regen mögen viele zwar als besonders angenehm empfinden; das Ökosystem leidet allerdings enorm darunter.

Wirtschaftskrise oder Gesundheitskrise?

Bereits heute sind viele Folgen des Klimawandels greifbar. Man muss nur genau hinsehen. Frühling und Herbst gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Übrig blieben nur Sommer und Winter, die sich alle halbe Jahre abwechseln. Weil man an diese „normalen“ Extreme gewöhnt ist (und gegen einen schönen Sommer oder einen zünftigen Winter im Grunde nichts einzuwenden ist), wird das von vielen als der normale Lauf der Dinge hingenommen. Die Belege für den Klimawandel sind lange da. Man muss aber zumindest aktiv hinsehen und darüber nachdenken, um die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Egal wie minimal dieser Aufwand auch ist, es ist eine gewisse Form der Anstrengung. Und die fällt der Verdrängung zum Opfer.

Denn der Mensch glaubt nur das, was er sieht. Und er versteht nur das, was er spürt. Den Klimawandel spüren viele noch nicht in ausreichendem Maße als dass sie geeignete Maßnahmen dagegen ergreifen würden. Aktuell ist dieses aktive Verdrängen auch bei der Corona-Pandemie zu beobachten. Die Infektionszahlen in Deutschland sind seit einiger Zeit wieder deutlich steigend. Vielleicht hängt das mit den ganzen Auslandsreisenden zusammen, vielleicht aber auch an den Wiedereröffnungen gastronomischer Betriebe. Ganz bestimmt liegt es aber daran, dass viel zu viele Menschen die Augen vor der Gefährlichkeit des Virus verschließen.

Obwohl ein Großteil der Fälle gemäßigt verläuft, gibt es Fälle der Erkrankung, die erschreckend schwerwiegend ausfallen. Corona ist eben nicht mit einer gewöhnlichen Grippewelle vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings hoch, dass die Menschen, die einen Infizierten kennen oder sogar selbst erkrankt sind, glimpflich davongekommen sind. Dem gegenüber stehen die drastischen Schutzmaßnahmen, die eine Ausbreitung des Virus eindämmen sollen. Immer mehr Menschen empfinden diese Einschränkungen als strapaziöser als das Virus an sich. Viele können die Alternative, explodierende Infektionszahlen und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems, nicht begreifen, weil dieses Szenario bisher erfolgreich verhindert wurde.

Dazu kommt, dass viele immer schwerer zwischen einer Wirtschafts- und einer Gesundheitskrise unterscheiden können. Die Folgen des wirtschaftlichen Rückgangs werden für viele tatsächlich spürbarer sein als die gesundheitlichen Folgen einer möglichen Infektion. Sie fürchten die Wirtschaftskrise derzeit mehr als das verheerende Ausmaß der Pandemie – schlicht und ergreifend, weil das eine für die Mehrheit spürbarer ist als das andere. Um diesem wirtschaftlichen Absturz zu entgehen, tun viele das Naheliegende: die gesundheitlichen Konsequenzen der Pandemie verdrängen. Denn es ist nur da, was man spüren kann. Eine Welt ohne Maske bedeutet für viele eine Welt ohne Pandemie.

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