Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

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Die einen empfinden es als Angriff auf die deutsche Sprache, die anderen sehen darin einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung: das Gendern dominiert und polarisiert die Debatte um Vielfalt und Diversität. Rechte Kräfte nehmen das zum Anlass, den Befürwortern geschlechtergerechter Sprache einen Hang zum Linksextremismus zu unterstellen. Sie könnten damit kaum falscher liegen, war es doch immer ein Anliegen des Linksextremismus, möglichst alle Unterschiede zu beseitigen.

Keine linke Partei

Kaum eine andere Partei greift ihre politischen Gegner so scharf an wie die AfD. Im Zentrum des Weltbilds dieser Partei steht die eigene Meinung. Abweichende Ansichten werden verächtlich gemacht und in eine Ecke gestellt, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Immer wieder sehen sich besonders die Grünen den verbalen Entgleisungen von AfD-Mitgliedern und -Funktionären ausgeliefert. Die rechte Truppe wirft den Parteien links der Union pauschal Ökosozialismus, Genderwahnsinn und teilweise sogar Linksextremismus vor. „Linksgrün-versifft“ ist dabei das beliebteste Schimpfwort der AfD.

Man unterstellt den eher progressiv eingestellten Politikern damit sozialistische bis kommunistische Methoden in ihrer Arbeit. All das basiert aber auf einer Lüge. Besonders die Grünen entfernen sich immer weiter von traditionell linker Politik. Die ehemalige Friedenspartei sagt immer entschiedener Ja zu bewaffneten Bundeswehreinsätzen im Ausland. Schaut man sich die Wählerklientel der Grünen an, so steht fest, dass es einen spürbaren Wechsel in der Wählerschaft gab. Beim persönlichen Einkommen machen die Grünenwähler zwischenzeitlich den Wählern der FDP deutlich Konkurrenz.

Die Angst vor dem Anderen

Es grenzt schon an massiven Realitätsverlust, ausgerechnet dieser Partei eine Tendenz zum linken Extremismus zu unterstellen. Es gibt ihn schlicht nicht. Solche haltlosen Diffamierungen verharmlosen echten Extremismus eher. Vor allem die rechten Schreihälse können dadurch von ihrem Extremismusproblem ablenken.

Denn dass die Parteiideologie der AfD auf rechten Ressentiments beruht, liegt auf der Hand. Im Kern betont der Rechtsextremismus die Unterschiede zwischen Gruppen, Völkern und Kulturen. Anhänger dieser Weltsicht glauben an menschliche Rassen, bei denen sich die eigene Rasse aus unterschiedlichsten Gründen als die vornehmste und leistungsstärkste erwiesen hat. Andere Gruppen werden mit entwürdigenden Attributen versehen und damit herabgesetzt. Rechtsextreme sehen andere Kulturen als Gefahr, deren Existenzgrundlage darin besteht, das eigene Volk auszulaugen, zu überrennen und der eigenen Werte zu berauben. Niemand kann vor solchen Tendenzen bei der AfD mehr die Augen verschließen.

Alles gleich

Bei linkem Extremismus hingegen steht die Überwindung sämtlicher Unterschiede im Mittelpunkt. Der Linksextremist träumt von einer Gesellschaft, in der alle gleich sind. Das geht weit über gleiche Bildungschancen bei Kindern hinaus und hat auch nichts mehr mit gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit zu tun. In dieser Ideologie stehen die Menschen morgens zur gleichen Zeit auf, sie nehmen jeden Tag den exakt gleichen Weg zur Arbeit, produzieren im Akkord eine vordefinierte Menge und tragen dabei die gleiche Kleidung. So entsteht eine Gesellschaft, in der der Einzelne immer steuerbarer wird. Bald gibt es keine Individuen mehr, sondern nur noch das Kollektiv.

Die extreme Rechte, allen voran die AfD, beruft sich auf solche Definitionen, um progressive Politik verächtlich zu machen und als potentiell gefährlich darzustellen. Besonders starke Aversionen ruft dabei die gendergerechte Sprache hervor. Jenseits jeglicher berechtigten Kritik stellt die Neue Rechte das Gendern als sprachlichen Ausdruck des Linksextremismus dar.

Hauptsache anders

Nun könnte man einen Moment lang geneigt sein, dieser Argumentation zu folgen. Immerhin möchte inklusive Sprache möglichst jeden ansprechen und mitnehmen, egal wie unterschiedlich die Menschen sind. Die Ansprache unterschiedlicher Menschen ist aber lange nicht gleichbedeutend damit, Unterschiede abzubauen oder sogar komplett abzuschaffen.

Das Gegenteil ist der Fall. Beim Gendern geht es immer darum, Unterschiede zu betonen und für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Ohne Unterschiede zwischen den Menschen könnte dieses sprachliche Konstrukt nicht bestehen. Auch bei anderen Anliegen der angeblich so grünsozialistischen Gutmenschen steht die Differenz im Mittelpunkt. Bei Quoten in Unternehmen und Parteien beispielsweise spielt die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen ebenfalls eine übergeordnete Rolle. Sie wird dabei sogar dermaßen erhöht, dass andere Eigenschaften der Betroffenen oftmals zurückstehen.

Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

Dass Gendern und Diversity ein Auswuchs des Linksextremismus ist, bleibt eine Legende. Aber was ist es dann? Besonders demokratisch führen sich seine ärgsten Verfechter in der Regel nicht auf. Wer versucht, konstruktive Kritik an Quoten und woker Sprache zu üben, findet sich viel zu oft unfreiwillig unter Rechten wieder. Im Namen der Political Correctness werden sie diffamiert und moralisch auseinandergenommen. Eine demokratische Auseinandersetzung ist selten möglich. Gepaart mit der übermäßigen Betonung von Unterschieden erinnert dieser Umgang mit Andersdenkenden eher an die Methoden von rechts.

Wer das Fass aufmacht, man dürfe aus Rücksicht vor People of Color nicht mehr von „Schwarzfahren“ reden, der spaltet eher als zu einen. Selbst den angeblichen Opfern von konventionellen Begriffen wird damit eingeredet, dass sie sich gefälligst auch als Zielscheibe von Rassismus und Benachteiligung zu definieren haben.

Mit woker Sprache, Quotenregelungen und Gendern macht man Unterschiede sichtbar und baut sie nicht ab. Das ist aber auch überhaupt nicht der Anspruch dieser Instrumente politischer Korrektheit. Sie zelebrieren die Diversität und machen sie auf verschiedenen Ebenen sichtbar. Die sprachliche Sichtbarkeit ist dabei vielen ein Dorn im Auge.

Im moralischen Aus

Dass gendergerechte Sprache besonders gut als Vorlage für hitzige Debatten taugt, dürfte inzwischen jedem klar sein. Viele Menschen sehen schlicht keine Notwendigkeit für Gendersternchen, Sprechpausen und den generellen Einsatz des Partizip I. In ihrem Umfeld spielen solche Fragen keine Rolle. Es ist richtig, Menschen für Vielfältigkeit zu sensibilisieren. Wer allerdings acht Stunden am Tag mit einem Dutzend verschiedenen Kulturen in Berührung kommt, braucht sicherlich keine Nachhilfe in angewandter Vielfalt. In vielen Niedriglohnjobs ist das längst Realität.

Völlig zurecht interpretieren es die Betroffenen als Bevormundung, wenn man über ihre Köpfe hinweg entscheidet, was als angemessen gilt und was nicht. Sie haben keine Lust, sich für ihre Ausdrucksweise zu rechtfertigen und sich wegen des generischen Maskulinums als Anti-Feministen brandmarken zu lassen. In diesen Fällen führt Diversity eher zu Unruhe als zu gesellschaftlichem Frieden.

Das liegt allerdings nicht an der Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern daran, wie damit umgegangen wird. Würde man die verschiedenen Stärken und Schwächen, die kulturellen Hintergründe und die nationale Herkunft wertschätzen, anstatt sie permanent zum Thema zu machen, wäre ein friedliches Zusammenleben weitaus einfacher. Der Streit ums Gendersternchen hat immerhin noch nie dazu geführt, dass sich Minderheiten sicherer und respektierter fühlen.


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Zum Schwarzärgern

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Falsche Schlüsse

Lesdedauer: 9 Minuten

Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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Das Extrem ist bequem

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Auf ewig Opposition?

Lesedauer: 10 Minuten

Seit die SPD großspurig ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz ins Rennen geschickt hat, scheint eine Option zumindest wieder denkbar: Rot-Rot-Grün. Doch nicht nur eine fehlende Mehrheit macht es vielen schwer, sich diese Konstellation ernsthaft vorzustellen. Viele Menschen zweifeln zudem an der Regierungsfähigkeit der darin wenig erprobten Linken. Ihre Bedenken stützen sich dabei immer wieder auf kurzsichtige Vorverurteilungen. Doch diese Partei hat noch andere Probleme, die es vor einer eventuellen Regierungsübernahme zu regeln gilt.

Chronisch regierungsunfähig?

Die wollen aus der NATO raus. Die wollen mit Putin kuscheln. Sie hassen die USA. Die schwimmen im beiseitegeschafften DDR-Vermögen. Wer soll das bezahlen? Diese Argumente und noch einige mehr werden regelmäßig ins Feld geführt, wenn man den Linken die Regierungsfähigkeit absprechen will. Viele dieser angeblichen Gründe sind wenig stichhaltig, manche sogar widerlegbar, andere stimmen hingegen. Die Auflösung der NATO zum Beispiel. In den Augen der Linken ist dieses Bündnis seit langem obsolet. In Zeiten des Kalten Kriegs gegründet, sollte es die westliche Welt vor der feindlichen Sowjetmacht schützen. Nun gibt es Stalin, die Mauer und die UdSSR heute nicht mehr. Die Idee der Linken, die NATO durch ein Bündnis zu ersetzen, das nicht auf Konfrontation gebürstet ist, sondern Dialog und Zusammenarbeit vorsieht, ist in dieser Hinsicht bestimmt nicht falsch. Dass das mit Russland ein hartes Stück Arbeit ist – keine Frage.

Unkonventionelle und unbequeme Forderungen machen eine Partei eben nicht automatisch regierungsunfähig. Allein der allgemeine Mythos, die Linkspartei sei partout nicht dazu in der Lage, konstruktive Regierungsarbeit zu leisten, ist von der Realität längst eingeholt. Die ausgesprochen erfolgreiche Regierungsbeteiligung in mehreren Bundesländern ist Zeugnis genug. In Thüringen stellt die Partei links der SPD seit 2014 sogar den Ministerpräsidenten. Nach fünf Jahren Ramelow konnte die Linke in Thüringen sogar noch zulegen und selbst die CDU vom Thron der stärksten politischen Kraft im Freistaat stoßen. Wenn das nicht Ausdruck von Beliebtheit und Regierungsfähigkeit ist, was dann?

Das reichste Prozent

Trotzdem kann keiner ernsthaft bestreiten, dass die Linke immer wieder mit der Vision einer Regierungsbeteiligung hadert. Und dieses Problem ist nicht vorrangig mit dem Programm der Partei zu begründen. Viel eher ist es ein personelles Problem. Genau so wie Ramelow die Regierungsfähigkeit seiner Fraktion in Thüringen verkörpert, so gibt es auf Bundesebene Vertreter, die ebendieser Fähigkeit zum Regieren diametral entgegenstehen. Das fängt schon bei der Parteispitze an. Bernd Riexinger ist nicht eingeschritten, als eine Parteikollegin davon sprach, das reichste Prozent der Bevölkerung zu erschießen. Erst auf Nachfrage witzelte er, man wollte diese Menschen lediglich zu Arbeit verpflichten. Ob man daraus schließen kann, dass er sie im Arbeitslager internieren will, sei mal dahingestellt. Fakt ist allerdings, dass diesem Mann das Gespür dafür fehlt, welche Äußerungen wann angebracht sind und welche politische Tragweite sie entwickeln können. Anstatt sich im Bundestag persönlich klipp und klar von solchem Gedankengut zu distanzieren, schickte er seine Co-Vorsitzende Kipping ins Feld, die ihn als mustergültigen Demokraten über den grünen Klee lobte.

Riexinger selbst saß währenddessen wie ein getadelter Schuljunge zwischen seinen Fraktionskollegen und wünschte sich wohl nichts sehnlicher, als unter der Fraktionsbank zu verschwinden. Als Parteivorsitzender ist er scheinbar völlig ungeeignet und wird seine Partei wohl niemals in eine Regierung führen können. Anlass dazu, seine demokratische Grundüberzeugung anzuzweifeln, gibt es wohl eher nicht. Das sieht bei einigen seiner Genossen allerdings anders aus.

So hielt seine Kollegin Gesine Lötzsch im Jahr 2011 die Eröffnungsrede bei einer Veranstaltung, die offen nach den Wegen zum Kommunismus fragte. Auch im Vorfeld war die damalige Parteichefin wegen umstrittener Äußerungen zu ebendiesem Thema bereits aufgefallen. Sie beteuerte bei der Rede allerdings ihre unbedingte Treue zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das kann man bei einer Kommunismus-Veranstaltung natürlich gerne tun. Ob man das dann glaubt, ist eine andere Frage.

Natürlich darf geschossen werden

Noch schlimmer trieb es allerdings die ebenfalls noch heute im Bundestag sitzende Ulla Jelpke. Bei genau der gleichen Veranstaltung moderierte sie eine Podiumsdiskussion, wie der Kommunismus denn am besten realisiert werden könnte. Sie diskutierte dort allen Ernstes mit prominenten Linksradikalen wie der verurteilten RAF-Terroristin Inge Viett. Diese Frau hat sich von den Entführungen, den Morden und den Anschlägen der Vereinigung nie distanziert. Auch bei besagter Diskussion rechtfertigte sie den Einsatz von Gewalt und Brandanschlägen, um die heiligen Ziele zu erreichen. Diese Einstellung deckt sich natürlich mit den Taten, die diese Frau zu ihren besten Zeiten begangen hat. Um einer Festnahme zu entgehen, schoss sie seinerzeit auf einen Polizisten, der Jahre später an den Folgen der Tat starb. Viett wurde für die Äußerungen auf der Kommunismus-Veranstaltung übrigens rechtskräftig verurteilt.

Wie weit darf die Linke gehen?
Bernd Kudanek alias bjk on Indymedia, IngeViettUllaJelpkeCC BY-SA 2.0 DE

Ulla Jelpke schien das herzlich wenig zu stören. Sie griff während der Gewaltverherrlichungen der Terroristin ebenso wenig ein, wie Riexinger bei den Eliminierungsfantasien in diesem Jahr. Stattdessen ließ sich Jelpke mit der linksradikalen Viett unter der Fahne der Linkspartei bei einer Demonstration fotografieren. Solange eine Partei solche Personen in ihren Reihen duldet und dafür auch noch die Parteifahne zur Verfügung stellt, sollte sie wirklich keine Regierungsverantwortung übernehmen.

Ein Unrechtsstaat?

Dass die Linke auch anders kann, stellte sie bereits mehrfach unter Beweis. Seit 2006 stellt sie mit Petra Pau eine Vizepräsidentin des Bundestags, die nun wirklich nicht unter Extremismusverdacht steht. Lange Zeit wurde die Bundestagsfraktion von einer Frau mitgeleitet, die noch vor einigen Jahren als untragbare Verfechterin der DDR und des Kommunismus verschrien war. Heute ist Sahra Wagenknecht glatt zur Vorzeigepolitikerin der Linken aufgestiegen. Gegner nehmen sie inzwischen nicht mehr als versponnene DDR-Nostalgikerin wahr, sondern immer mehr als ernstzunehmende Stimme aus der Opposition. Sie setzen sich mit ihr verstärkt inhaltlich auseinander, ohne ihr die Berechtigung abzusprechen, Politikerin zu sein.

Das wohl bekannteste Argument, warum die Linkspartei so abgöttisch regierungsfähig sei, ist mit Sicherheit der Umgang der Partei mit der DDR-Vergangenheit. So weigert sich ein Großteil der Partei bis heute, die DDR als Unrechtsstaat anzuerkennen. In den Augen vieler Parteimitglieder kann die DDR schon deshalb kein Unrechtsstaat gewesen sein, weil bereits das Dritte Reich mit diesem Begriff belegt ist. Kunststück. Aber folgt man dieser Ideologie, so sind die Begriffe „Unrechtsstaat“ und „Nazi-Deutschland“ untrennbar miteinander verwoben. Für viele Linke sind es Synonyme. Vor einer Wahrheit verschließen sie dabei jedoch die Augen: Es gibt schier unendlich viele Wege, Recht zu brechen und Unrecht zu verbreiten. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, sich an Recht zu halten.

(K)ein legitimer Versuch

Selbstverständlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Dieser Staat fußte darauf, einer beträchtlichen Zahl seiner Bürgerinnen und Bürger elementare Rechte abzuerkennen. Mit Stasi, Spitzeleien und allgegenwärtigem Druck sollte das Volk unter Kontrolle gehalten werden. Natürlich ist das Unrecht. Das heißt aber nicht, dass die DDR eine Unrechtsgesellschaft war, genau so wenig wie das Dritte Reich. Die meisten Menschen arrangierten sich lediglich mit den Zuständen, weil sie zu viel zu verlieren hatten. Ihnen im Nachhinein einzureden, ihre Leben wären Unrecht gewesen oder waren vergeudet, halte ich für grundfalsch. Vielleicht sträubt sich die Linke auch deshalb gegen den Begriff des Unrechtsstaats.

Aber selbst die meisten Linken sehen ein, dass die DDR natürlich kein Rechtsstaat war. Bis auf wenige Ausnahmen: Die damalige linke Spitzenkandidatin für NRW Bärbel Beuermann bezeichnete die DDR im Wahlkampf als legitimen Versuch, den Kommunismus zu etablieren, zumindest aus Sicht der Menschen damals. Und als ob das noch nicht genug wäre, zweifelte sie die Rechtmäßigkeit des Verfassungsschutzes an. Natürlich gibt es gewichtige Gründe, nach NSU, Lübcke und Hanau die Effektivität des Verfassungsschutzes anzuzweifeln. Aber ihn gleich für überflüssig zu erklären?

Die Demokratie kann’s besser

Ähnlich geschichtsvergessen zeigen sich viele Linke auch, wenn es daraus geht, die Lehren aus dem DDR-Unrecht zu ziehen. So wandte sich die Linken-Abgeordnete Simone Barrientos in ihrer Bundestagsrede am 13. Dezember 2019 strikt gegen ein Mahnmal der Gewaltherrschaft in der DDR. Stattdessen versteifen sich viele Linke darauf, die Vorzüge der DDR geradezu zu glorifizieren. Sie sprechen davon, dass es die sozialen Ungleichheiten wie wir sie heute erleben, in der DDR nicht gegeben hätte. Na und? Anstatt der DDR in diesem Punkt nachzueifern und sich die alten Zeiten im schlimmsten Falle sogar zurückzuwünschen, müssten solche Erkenntnisse jede funktionierende Demokratie doch dazu anspornen, es noch besser zu machen. Und zwar ohne staatsverordneten Terrorismus.

Ein anderer Blick auf die DDR ist nötig und bestimmt kein Zeugnis von Regierungsunfähigkeit. Dieses Misstrauen gegenüber den Linken muss endlich abgebaut werden – von der einen Seite wie auch von der anderen. Unangebrachte Stasi-Vergleiche stärken das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenso wenig wie obsessive DDR-Nostalgien und das Gerede von Erschießungen. Solange die Linke diese notwendigen Schritte nicht macht, wird sie für einen Großteil der Menschen immer regierungsunfähig bleiben.


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