Schwarzer Tag für Berlin

Lesedauer: 7 Minuten

Den meisten Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus dürfte es nicht gepasst haben, dass die Wahl von 2021 wiederholt werden musste. Das Wahlergebnis vom 12. Februar dürfte ihren Argwohn noch vergrößert haben: Die FDP fliegt aus dem Parlament, Rot-Grün-Rot ist schwach wie selten und der Regierungsauftrag liegt klar bei der CDU. Ein Grund zum Jubeln ist der Ausgang der Wahl sicher nicht, erst recht nicht, wenn man sich die erschreckend geringe Wahlbeteiligung ansieht. Weniger als zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner haben ihr Recht auf Mitbestimmung wahrgenommen. Das Vertrauen in die Politik ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Berlin steuert auf ungewisse Zeiten zu.

The same procedure…

Berlin hat gewählt. Mal wieder. Nachdem es bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus zu beschämenden Pannen kam, musste der komplette Vorgang wiederholt werden. Auch die damals gleichzeitig stattgefundene Bundestagswahl wird zumindest in einigen Wahlbezirken noch einmal stattfinden. Das Ergebnis der Wiederholungswahl vom 12. Februar könnte eindeutiger nicht sein: Die Berlinerinnen und Berliner haben keine Lust mehr auf den rot-grün-roten Senat.

Dramatisch verloren hat bei der Wahl wahrlich keine der drei Parteien. Entscheidend ist, wer gewonnen hat. Mit einem Zugewinn von etwa 10 Prozent hat die CDU den Wahlsonntag klar für sich entschieden. Auch wenn es der noch amtierenden Ersten Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nicht passen dürfte: Der Auftrag eine Regierung zu bilden, ging an die CDU und nicht an ihre Partei.

Immerhin haben die Sozialdemokraten gerade das mieseste Ergebnis zu verkraften, das sie bei einer Berliner Wahl seit der Wiedervereinigung erreicht haben. Mit ihren mickrigen 18 Prozent haben sie so gar nichts erreicht. Sie taugen weder zur Volkspartei noch als Splitteranhängsel einer Koalition aus stärkeren Parteien. Man fragt sich: Ist das Opposition oder kann das weg?

Ruhmreiche Verlierer

Theoretisch ist eine rot-grün-rote Mehrheit gegeben. Nach dem ersten Versuch der Wahl konnten sich die drei Koalitionäre noch damit brüsten, dass es keine Partei im Abgeordnetenhaus gab, die ein deutlich besseres Ergebnis eingefahren hätte als sie selbst. Die große Wählergunst der Grünen legitimierte dann schließlich die Regierung aus SPD, Grünen und Linken.

Knapp anderthalb Jahre später sieht das ganz anders aus. Die CDU ist der zweitplatzierten SPD haushoch überlegen, eine Regierung gegen die Konservativen grenzte an Wählerbetrug. Außerdem würde es in dem Dreierbündnis sicher schnell zu Reibereien kommen, weil sich SPD und Grüne über ihre jeweiligen Rollen und ihren Einfluss nicht so einfach einig werden könnten. Die Sozen haben immerhin gerade einmal 105 Stimmen mehr eingefahren als die Grünen.

Eine Fülle an Möglichkeiten

Das Wahldrama von Berlin ist mit dem 12. Februar lange nicht ausgestanden. Es zeichnet sich eine zähe Regierungsbildung ab, weil alle möglichen Bündnisse unrealistisch erscheinen. Die Wahlsiegerin CDU hätte es besonders schwer, Koalitionspartner für sich zu gewinnen. Theoretisch denkbar wäre eine Zusammenarbeit mit den Grünen. Da diese allerdings gerade aus einer linksgerichteten Regierung kommen, würden sie viele ihrer Wähler vor den Kopf stoßen, wenn sie nun mit der CDU koalierten.

Grundsätzlich möglich wäre auch eine Große Koalition mit der SPD. Dann jedoch würde Bürgermeisterin Giffey das Schröder-Schicksal ereilen: Eine Koalition mit der Union vehement ausschließen und dann über den Mehrheitsbeschluss der eigenen Partei stolpern. Wem wäre damit gedient?

Zum Glück muss die SPD ihre Vorreiterrolle in einer Fortsetzung der jetzigen Regierung nicht an die Grünen abgeben. Der Gesichtsverlust für die noch amtierende Erste Bürgermeisterin wäre unvorstellbar, Reibereien scheinen vorprogrammiert. In letzter Konsequenz mündete diese ungünstige Konstellation in der Ausrufung von Neuwahlen. Es wäre nachvollziehbar, wenn sich die Bürger in diesem Falle verschaukelt fühlten.

Die kleine Mehrheit

Verschaukelt fühlten sich viele offensichtlich schon vor der Wiederholungswahl. Die Wahlbeteiligung liegt mit 63 Prozent beschämend niedrig. Die im nächsten Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien haben aber noch mehr Wählerinnen und Wähler verloren. Denn sowohl die FDP als auch die sonstigen Parteien haben erheblichen Einfluss auf die Mehrheitsbildung im neuen Parlament. Mit rund 14 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen sie in der Summe ein beachtliches Ergebnis – sind aber im Abgeordnetenhaus nicht vertreten. Wer diese Parteien wählte, bleibt die nächsten Jahre ohne politische Vertretung in der Hauptstadt – und das sind ziemlich viele Menschen.

Durch den hohen Anteil an Stimmen, die keine politische Abbildung finden, verschiebt sich das Mehrheitsverhältnis sehr zugunsten der fraktionsfähigen Parteien. Die absolute Mehrheit können sich die unterschiedlichen Bündnisse schon mit etwas mehr als 40 Prozent sichern. Allein dieser Umstand dürfte die Legitimierung einer wie auch immer gearteten Koalition in Zweifel ziehen.

Die Umfragen zu möglichen Zusammenarbeiten fallen umso vernichtender aus. Keine der denkbaren Koalitionen findet starken Rückhalt unter den Wahlberechtigten in Berlin. Eine von der CDU angeführte Regierung ist ebenso unbeliebt wie eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition. Es kann dafür nur eine Erklärung geben: Die Wählerinnen und Wähler haben das aus ihrer Sicht kleinste Übel gewählt. Zu keiner der zur Wahl stehenden aussichtsreichen Parteien haben sie Vertrauen. Zu oft wurden sie dafür enttäuscht.

Pleiten, Pech und Pannen

Neuwahlen würden dieses Problem nicht lösen. Es ist sogar zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung bei einem dritten Wahlgang noch geringer läge. Das Wahlverhalten am 12. Februar ist vor allem ein Zeugnis von Enttäuschung und Resignation unter den Wählerinnen und Wählern.

Nicht nur die schlechte Regierungs- und Oppositionsarbeit der verschiedenen Parteien rechtfertigt diesen Vertrauensverlust. Die zuständigen Wahlämter waren beim ersten Versuch 2021 nicht dazu in der Lage, eine vernünftige Wahl auf die Beine zu stellen. Jede Panne an diesem Tag – von den fehlenden Stiften über die ausgehenden Wahlzettel bis hin zu den plötzlich hochschnellenden Prognosebalken – war auf Unfähigkeit und Überforderung zurückzuführen. Es ist kein Wunder, dass sich viele Menschen dazu entschieden, diesem Affenzirkus dieses Mal fernzubleiben.

Repräsentatives Regieren

Zurück bleibt ein schwieriges Wahlergebnis. Damit müssen die Parteien jetzt umgehen. Um der Demokratie nicht noch weiteren Schaden zuzufügen, müssen sie schleunigst eine Lösung im Sinne Berlins finden. Dabei spielen gegenseitige Zugeständnisse eine zentrale Rolle. Die Versteifung auf potenzielle Mehrheiten bei dieser Ausgangslage ist kontraproduktiv.

Das diversifizierte Wahlverhalten muss in der nächsten Regierung berücksichtigt werden. Im Raum steht nicht weniger als eine Minderheitsregierung, die dem Abstimmungsergebnis Rechnung trägt. So kommen zumindest viele von denen zum Zug, die am Wahltag ihre Stimme abgaben. Damit würden die Parteien Anreize setzen, beim nächsten Mal wieder zur Wahl zu gehen. Damit würden sie von Verlierern zu Gewinnern werden.

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Die Partei der Sitzenbleiber

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Was für viele Filme gilt, gilt auch für die Politik: Eine Fortsetzung macht alles nur noch schlimmer. Ungeachtet dieser banalen Weisheit hat die CDU in Thüringen vor kurzem die angesetzten Neuwahlen im September platzen lassen. Die AfD veranstaltete daraufhin ein Misstrauensvotum; die CDU verweigerte sich ein weiteres Mal ihrer Verantwortung. Die ehemalige Volkspartei möchte sich gerne als die große politische Kraft gerieren, die dem bösen rot-rot-grünen Lager wie der Bedrohung von rechts gleichermaßen strotzt. Die CDU verkennt dabei, dass die Karten längst neu gemischt sind und sie in Thüringen immer bedeutungsloser wird.

Ein unerledigtes Geschäft

Eigentlich war die Sache geritzt: Parallel zur Bundestagwahl im September sollten auch die Wählerinnen und Wähler in Thüringen einen neuen Landtag wählen. Schon der 26. September als Termin für die Landtagswahl war aufgeschoben. Ursprünglich war die Wahl für Anfang des Jahres vorgesehen. Corona machte der Politik einen Strich durch die Rechnung. Auch die Pläne für den Herbst wurden durchkreuzt – dieses Mal von der CDU.

Entgegen der Vereinbarung mit der amtierenden Regierung wollten vier Abgeordnete aus den Reihen der CDU plötzlich nichts mehr von einer Neuwahl wissen. Die im Frühjahr 2020 geschlossene Waffenruhe mit Rot-Rot-Grün sollte ohne demokratische Legitimation auslaufen. Dabei war es der CDU zu verdanken, dass Bodo Ramelows Koalition ohne Parlamentsmehrheit weiterregieren konnte.

Keine Neuwahl mit der CDU

Die CDU hatte sich diesen Schritt seinerzeit nicht leichtgemacht. Auch alle anderen politischen Akteure und nicht zuletzt die thüringische Bevölkerung hatte unter der Aufschiebe- und Verdrängungspraxis der einstigen Volkspartei zu leiden. Immerhin war es maßgeblich der CDU zu verdanken, dass die AfD den FDP-Mann Thomas Kemmerich für einige Stunden zum Ministerpräsidenten erhob. Der massive Widerstand dagegen ließ der CDU schließlich keine andere Wahl: Sie erklärte sich zähneknirschend bereit dazu, eine Regierung unter Bodo Ramelow zu tolerieren.

Die CDU verstieß damit gegen einen ihrer eisernsten Grundsätze: Keine Zusammenarbeit mit den Linken! Die Toleranz von vier Abgeordneten war dann kürzlich auch aufgebraucht: Sie erklärten, dass sie einer vorzeitigen Neuwahl nicht zustimmen würden. Die erforderliche Mehrheit für den Beschluss war in Gefahr. Die Linken wollten sich nicht auf die FDP verlassen und bliesen das ganze kurzerhand ab.

Von dieser parlamentarischen Handlungsunfähigkeit profitierte letztlich nur einer: Bernd Höcke und seine AfD. Sogleich initiierte er ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Ramelow. Als Nachfolger sah er sich selbst vor. Er zwang damit besonders die CDU, endlich Farbe zu bekennen. Hasst sie die Linken mehr oder die AfD?

Weniger als Enthaltung

Das Schmierentheater der AfD war genau so vorhersehbar wie die gecrashte Ministerpräsidentenwahl knapp anderthalb Jahre zuvor. Erneut gelang es den Rechtsextremen, die CDU vor sich herzutreiben. Wieder konnte jeder sehen, in welch desolatem Zustand sich das Erfurter Parlament befand.

Die AfD konnte aus der ganzen Misere nur als Sieger hervorgehen. Ihr Ziel, mindestens eine demokratische Partei zu schwächen, hätte sie in jedem erdenklichen Szenario erreicht. Die CDU hätte gegen Höcke und damit für Ramelow stimmen können. Das hätte an der Ehre dieser Partei gekratzt und viele konservative Wähler möglicherweise zur AfD getrieben. Für Höcke zu votieren, hatte die CDU vorab klipp und klar abgelehnt. Also tat die CDU das für sie logischste: Sie blieb während der Abstimmung sitzen und nahm überhaupt nicht an der Wahl teil. Das ist weniger als eine Enthaltung. Es ist eine Verweigerung. Letzten Endes bestätigten sie damit Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten. Insgeheim bildet sich die Partei ein, damit nicht mit den Linken paktiert zu haben. Irgendwie stimmt das auch – sie haben nämlich auch sehenden Auges der AfD in die Hände gespielt.

Brandmauer nach links

Die Frage, die sich nach dem konstruktiven Misstrauensvotum vom 23. Juli stellt, liegt auf der Hand: Wie wird sich die CDU bei künftigen Abstimmungen verhalten? Im Kosmos dieser Partei hat die Linke keine vernünftigen Konzepte, eine Zusammenarbeit kommt nicht in Frage. Andererseits lobpreist die Partei ihre Brandmauer nach rechts, durch die es bisher stets gelungen ist, die AfD kleinzuhalten.

In den vergangenen Jahren glänze die CDU nicht gerade durch eine bemerkenswerte Nähe zum rot-rot-grünen Lager. Man hat besonders nach den jüngsten Ereignissen und Erklärungen den Eindruck, die Trennlinie nach links ist deutlich breiter als die Abgrenzung nach rechts.

Hat die CDU allen Ernstes vor, weiterhin das bockige Kleinkind zu spielen und bei Abstimmungen demonstrativ sitzenzubleiben? Werden die Abgeordneten nicht einmal mehr die Hand heben, wenn es zu gewöhnlichen parlamentarischen Abstimmungen kommt? Wollen sie die politische Handlungsfähigkeit Thüringens weiter lähmen? Was soll das sein? Die Rache am Wähler, dass er Linke und AfD mehr liebhat als die alte CDU?

Politisch bedeutungslos

Die CDU in Thüringen steht zwischenzeitlich besonders für eines: ein zerstrittenes und nicht mehr handlungsfähiges Parlament. Mit ihrem Boykott der Neuwahlen im Herbst hat die Partei erneut bewiesen, dass es ihr nicht um den Freistaat Thüringen geht. Es geht ihr auch nicht um die Würde des Erfurter Landtags. Es geht der CDU ausschließlich darum rechtzuhaben. Sie will die Wortführerin in einer politischen Landschaft spielen, die der Wähler längst umgebaut hat.

Der Schaden für die Demokratie ist enorm. Während die CDU demokratische Absprachen unterwandert und durch Nichtstun glänzt, zwängt sie der AfD die Rolle des Machers förmlich auf. Es ist ausschließlich auf die Verweigerungshaltung der CDU zurückzuführen, dass die AfD sich mit ihrem Misstrauensvotum profilieren konnte.

Echte Oppositionsarbeit ist von der CDU nicht mehr zu erwarten. Diese Rolle hat sie der AfD überlassen. Die AfD allein gibt nun den kritischen Ton in Thüringen an. Die AfD allein ist nun Opposition im Erfurter Landtag. Die AfD allein ist Gegner von Rot-Rot-Grün. Es ist fatal, all diese Aufgaben allein der AfD zu überlassen. Außer destruktiver Manöver ist von dieser Gruppierung nichts zu erwarten. Die CDU muss dringend wieder damit anfangen, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen. Viel zu lange hat sie diese Aufgabe in Thüringen schleifen lassen. Denn niemand wählt eine Partei der Sitzenbleiber.


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Um eins vorwegzuschicken: Rezo kann das besser. Der blausträhnige Influencer ist ja schließlich auch die Nummer 1, wenn es darum geht, die CDU für ihren Politikstil zu kritisieren. Leider hat sich seit seinem Klickwunder kurz vor der EU-Wahl nur wenig an der Union geändert. Es ist das alte Lied: Macht um jeden Preis und bloß nicht von alten Prinzipien abweichen. Dass sich die ehemalige Volkspartei dabei auch schnell in Teufelsküche bringen kann, haben zuletzt die Entwicklungen in Thüringen gezeigt. Wenn die CDU wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen möchte, sollte sie schleunigst etwas ändern.

Weniger ist mehr

Der Bundestag platzt beinahe aus allen Nähten. Während unter der Reichstagskuppel vor zehn Jahren noch knapp über 600 Abgeordnete leicht Platz fanden, muss das historische Gebäude heute über 700 Parlamentarier beherbergen. Der Trend setzt sich weiter fort. Experten befürchten gar, dass nach der nächsten Bundestagswahl deutlich mehr als 800 Mandate entstehen können. Dann wird’s nicht nur besonders eng, sondern auch besonders teuer. Schon heute kosten die Volksvertreter den Steuerzahler mehr als 500 Millionen Euro pro Jahr. Ein einfacher Dreisatz verrät, wie teuer der Bundestag wäre, würde die Anzahl an Mandaten weiter steigen.

Der Handlungsbedarf liegt auf der Hand. Doch die Abgeordneten sind sich uneins darüber, wie sie das Problem am besten in den Griff bekommen. Die unterschiedlichsten Vorschläge liegen auf dem Tisch. Bei einem Parlament, das inzwischen aus sechs Fraktionen besteht, ist eine solche Fülle nicht weiter verwunderlich. Nicht jeder der Vorschläge taugt gleich viel. Sicher ist aber eines: Ohne Zähnezusammenbeißen wird es nicht gehen. Wenn der Bundestag wieder auf eine erträgliche Größe reduziert werden soll, müssen einige Mandate zwangsläufig gestrichen werden.

Einer der prominentesten Vorschläge ist eine Reduzierung der Wahlkreise. Momentan ist das Land in 299 Wahlkreise aufgeteilt. Da die Sitze im Bundestag zu einer Hälfte aus Direktmandaten und zur anderen Hälfte aus Listenmandaten bestehen, muss es doppelt so viele Sitze wie Wahlkreise geben. Das heißt, dass die Mindestgröße des Parlaments nach derzeitigem Wahlrecht bereits bei 598 Sitzen liegt. Da nun aber sieben Parteien in den Bundestag eingezogen sind – und sich das Erst- und Zweitstimmenergebnis bei manchen Parteien eklatant voneinander unterscheidet – entsteht eine Vielzahl an Überhangmandaten und den daraus resultierenden Ausgleichsmandaten.

Die Union stellt sich quer

Eine geringere Zahl an Wahlkreisen scheint also einleuchtend. Doch es ist vor allen Dingen eine Fraktion, die diesen Vorstoß bisher blockiert. Die Union fürchtet um den Verlust vieler ihrer Mandate. Gemessen an ihrem Zweitstimmenergebnis haben CDU und CSU bei der letzten Bundestagswahl nämlich übertrieben viele Direktmandate gewonnen. Viele davon sind Überhangmandate. Um das Kräfteverhältnis im Parlament zu wahren, müssen diese nach geltendem Recht durch Ausgleichsmandate der anderen Fraktionen kompensiert werden.

Der Union schwebt währenddessen eine ganz andere Reform vor: Die Ausgleichsmandate sollen komplett abgeschafft werden. Dass sich eine Partei gegen die Reduzierung der Wahlkreise sträubt, weil sie selbst besonders stark auf ihr Erststimmenergebnis angewiesen ist, liegt im Bereich des nachvollziehbaren. Dass die gleiche Partei allerdings eine Streichung sämtlicher daraus entstehenden Ausgleichsmandate fordert, grenzt ans unverschämte.

Erststimme hui, Zweitstimme pfui

Die Christdemokraten sollten sich lieber überlegen, woran es denn liegt, dass ihr Erstimmenergebnis so gigantisch über dem Ergebnis aus den Zweitstimmen liegt. Es ist doch logisch: Die Zweitstimmen der Union rauschen doch vor allem deshalb in den Keller, weil die Partei sich in den letzten Jahren total leerregiert hat. Nach fast einem halben Dutzend GroKos ist das Profil dieser Partei fast komplett abgewetzt. Die Wähler haben schlicht keine Lust mehr, von einer Partei regiert zu werden, die sich von Kompromiss zu Kompromiss hangelt.

Und Mehrheit bedeutet für die meisten eben weiterhin Regierungsverantwortung. Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik selten vorgekommen, dass die stärkste Fraktion nicht an der Regierung beteiligt war. Das starke Erststimmenergebnis der Union rührt daher, dass die einzelnen Kandidaten den besten Eindruck auf die Wähler gemacht haben. Ein solcher Vorgang ist hochdemokratisch. Die Abschaffung von Ausgleichsmandaten ist es nicht.

Viel eher sollte die Union zu dem Schluss kommen, dass ewiges Regieren keine Option ist. Sie könnte ihr Zweitstimmenergebnis sicher durch eine Verschnaufpause hinter den Oppositionsbänken aufpolieren. Ist selten der Fall, aber hier können die Christdemokraten tatsächlich von der SPD lernen. Nach vier Jahren in der Opposition war das nächste Ergebnis zwar auch weit von einem Freudenschrei entfernt, lag aber doch höher als das der vorigen Wahl.

Sollen doch die anderen bluten

Doch leider ist die Union anscheinend weiterhin nicht willens, bei der Frage der Wahlrechtsreform einzulenken. Anstatt ihren gesamten Politikstil zu ändern, pocht sie auf den Erhalt ihrer Direktmandate. Dahinter steht vor allem eines: die schiere Angst vor dem Wähler gepaart mit einem Unvermögen, letzteren zu erreichen. Würde die CDU einige ihrer Hochburgen an andere Parteien abtreten müssen, so wäre ihr Reichtum an Überhangmandaten in Gefahr. Dass auch die anderen Fraktionen Einbußen durch fehlende Ausgleichsmandate hätten, interessiert die Union scheinbar nicht.

Um ihre Größe und ihre Macht zu erhalten, blockiert die Union also sämtliche sinnvolle Vorschläge einer Wahlrechtsreform und kommt stattdessen mit völlig grotesken eigenen Ideen um die Ecke. Hauptsache, die Sitze sind sicher.

Wenn die Dritten Erster sein wollen

Ähnliches lässt sich dieser Tage auch in Erfurt beobachten. Die Regierungskrise in Thüringen lässt sich im Endeffekt nur mit zwei Optionen lösen: Neuwahlen oder eine Kooperation mit den Linken. Den Pakt mit Ramelows Linkspartei lehnt die CDU aus reiner Prinzipienreiterei ab. Die Neuwahlen fürchtet sie aus Angst vor dem Wähler. Nach dem kurzen rechtsextremen Intermezzo Anfang Februar befürchtet Mohrings Partei zurecht, dass ein neues Ergebnis noch desaströser ausfallen würde als das jetzige. Aber NATÜRLICH muss der Wähler nach einem solchen Debakel die Möglichkeit haben, seine Entscheidung zu revidieren. Im Strafrecht spricht man von tätiger Reue.

Doch von Reue und Verantwortungsgefühl will die CDU gerade in Thüringen nichts wissen. Ihr heiliges Ziel, weitere fünf Jahre mit Rot-Rot-Grün zu verhindern, ist ihnen wichtiger als schlichter politischer Anstand. Anstatt sich mit ihrer Rolle als Wahldritter zufriedenzugeben und das Votum des Wählers demütig zu akzeptieren, reißt die CDU in Thüringen lieber sperrangelweit das Tor nach rechts auf.

Bloß nicht die Linken!

Und sie hätte das auch in einer ähnlichen Konstellation bereits 2014 gemacht. Zu dieser Zeit allerdings hatte Ramelows Bündnis noch eine Mehrheit. Die ist jetzt weg. Die Wahl und viele Umfragen zeigen aber eindeutig, dass die Abstimmung im vergangenen Herbst ein klarer Auftrag an Bodo Ramelow war, Ministerpräsident des Freistaats zu bleiben.

Um Rot-Rot-Grün zu stürzen, muss nicht mit Rechtsextremen paktiert werden. Es reicht vollkommen aus, die Wähler von der eigenen Kompetenz zu überzeugen. Die CDU in Thüringen hatte fünf Jahre lang Zeit, ihr konservatives und anti-linkes Profil zu schärfen. Sie konnte die Wähler nicht überzeugen. Sie wurde Dritte. Doch alles jenseits des zweiten Platzes existiert für die CDU nicht. Sie will Macht. Und sie will rechthaben. Einen eigenen Kandidaten für die Ministerpräsidentenwahl aufzustellen, dazu war die CDU zu feige. Lieber soll die FDP dran glauben.

In ihrer schier ekelerregenden Rechthaberei wirft die CDU eine politische Tugend nach der anderen über Bord. Zuerst die Achtung vor dem Wähler und als nächstes die Achtung vor dem Rechtsstaat. Hauptsache die bösen Linken regieren nicht mehr. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es die Thüringer CDU mehr schmerzt, hinter der Linken gelandet zu sein als hinter der AfD.

Die Spielregeln einer repräsentativen Demokratie

Diese beinahe pathologische Abneigung gegenüber den Linken ist bei der CDU bundesweit zu beobachten. Okay, die beiden Parteien sind grundverschieden. Aufgrund ihrer Parteiprogramme und ihrer Visionen für das Land haben sie jedes Recht, wie Hund und Katze zu sein. Doch vor allem die Union begreift nicht, dass die eine nicht ohne die andere kann.

Als Gregor Gysi 2015 seine letzte Bundestagsrede als Fraktionsvorsitzender hielt, da machte er auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam. Er behauptete, es gäbe noch zu viele in der Union, die sich einen Bundestag ohne Linke vorstellen könnten. Dafür erntete er von Unionsseite Applaus. Offensichtlicher kann der Wählerwille nicht übergangen werden. Sowohl bei der AfD heute als auch bei der PDS damals hat die CDU nie kritisch hinterfragt, weswegen diese Parteien so erstarkt sind. Stattdessen verlor sie sich in der Bekämpfung und Schlechtredung des Ergebnisses, anstatt selbst die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Veränderung tut weh

Aber das hätte in beiden Fällen ja eine Veränderung der Union, vielleicht sogar eine totale Kehrtwende bedeutet. Denn immerhin hätte man die Bevölkerung dann erst von den neuen Konzepten überzeugen müssen. Und in Überzeugungsarbeit fällt die CDU seit Jahren durch. Viel zu bequem ist die große Koalition, die bisher noch immer ein Garant für den Machterhalt war. Ein weiterer Vorteil der GroKo: Der Widerspruch ist am leisesten, weil die Opposition künstlich kleingehalten wird. Spätestens seit dem Einzug der AfD in den Bundestag und durch das kontinuierliche Zusammenschrumpfen der Großen Koalition hat sich das allerdings geändert.

Die CDU war im Überzeugen so aus der Übung, dass Jamaika nicht zustandekam. Die gesündeste Lösung, eine Minderheitsregierung, kam für die Union auch nicht in Frage. Eine Minderheitsregierung erfordert nämlich noch größere Zugeständnisse als eine Mehrheitsregierung. Und Zugeständnisse gefährden nun einmal die Rechthaberposition. Außerdem ist es natürlich nicht besonders höflich, solch große Kompromisse von einer Partei einzufordern, die sich über Jahre so lächerlich leerregiert hat wie die CDU. So etwas erfordert nämlich die Bereitschaft, seine eigene Haltung kritisch zu überdenken. Und es erfordert Kampfgeist. Beides hat die CDU derzeit nicht.


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