Auf dem demokratischen Abstellgleis

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Es gibt in Deutschland eine rechtsextreme Partei, die inzwischen bei jedem fünften Wähler Anklang findet. Was vor einigen Jahren noch völlig unvorstellbar schien, ist heute bittere Realität. Oft genug ist es der AfD gelungen, sich an die Spitze von Protestbewegungen zu stellen – die etablierten Parteien stattdessen hatten immer wieder Angst vor der eigenen Courage. Die 20 Prozent der potenziellen Rechtsaußen-Wähler vertrauen heute nur noch der AfD. Ein überzeugendes und authentisches Gegenangebot könnte sie aber in den demokratischen Diskurs zurückholen.

Rechts angekommen

20 Prozent. So viele Wählerinnen und Wähler können sich nach übereinstimmenden Angaben verschiedener Meinungsforschungsinstitute mittlerweile vorstellen, AfD zu wählen – und das ungebrochen seit Wochen. Die hohen Zustimmungswerte müssen endlich als schrilles Alarmsignal wahrgenommen werden. Es reicht nicht mehr aus, die Aussagekraft solcher Umfragen zum kurzfristigen Stimmungsbild zu relativieren. Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung hat die Absicht erklärt, bei einer anstehenden Wahl eine Partei zu wählen, in der sich inzwischen die rechtsextremen Kräfte in weiten Teilen durchgesetzt haben.

Die AfD selbst bekennt sich zwischenzeitlich zu dieser Einordnung. Treten Abgeordnete anderer Parteien im Bundestag ans Redepult und begrüßen die Kollegen aus den „demokratischen Fraktionen“, ist schon lange kein empörter Aufschrei mehr von der rechten Seite zu hören. Offenbar haben sich die die vielen Männer und die wenigen Frauen aus der Rechtsaußen-Fraktion endgültig mit der Tatsache abgefunden, einer rechtsextremen Partei anzugehören.

Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD nämlich nicht mehr das, was sie einst war. Was heute bei anderen Gelegenheiten oft als „Rechtsoffenheit“ kritisiert wird, war bei der AfD von Anfang an vorhanden. Diese Öffnung nach rechts machte es möglich, dass inzwischen Personen wie Bernd Höcke den Ton angeben. Was einst als eurokritische Partei unter Bernd Lucke begonnen hatte und von Frauke Petry immer wieder als „demokratisches Korrektiv“ betitelt wurde, ist heute nichts anderes als ein Sammelbecken für empörte und frustrierte Menschen, die von den anderen Parteien im Stich gelassen wurden.

Fähnchen im Wind

Um die hohe Gunst der Wähler aufrechtzuerhalten, erwies sich die AfD als überaus flexibel in der Positionierung zu bestimmten Themen. Dass sie sich an einigen Stellen sogar selbst widerspricht, ist zweitrangig. Die Menschen sind weniger an Tatsachen interessiert, sondern eher daran, dass ihnen zugehört wird. Dabei wird sich durch die AfD nichts für die meisten ihrer Wähler ändern – zumindest nicht zum Positiven. Denn obwohl sie sich gerne als die Partei für die kleinen Leute geriert, würde sie das Bürgergeld am liebsten gleich wieder abschaffen und Erwerblose schlimmer drangsalieren als Hartz IV es ermöglicht hat. Armut per Gesetz – für die AfD offenbar kein Problem.

Auch in ihrer Außenpolitik zeichnet Rechtsaußen alles andere als ein kohärentes Bild. So verurteilt sie einerseits die militärische Unterstützung für die Ukraine, bemängelt an anderer Stelle aber die unzureichende Ausrüstung der deutschen Bundeswehr. Pazifismus und Diplomatie spielen für die AfD wohl nur dann eine Rolle, wenn die deutschen Bürger wirtschaftliche Nachteile von Aufrüstung und Krieg zu befürchten haben. Standhafte Friedensliebe sieht wahrlich anders aus.

Ein Meisterstück an Opportunismus und Wendehalsigkeit hat die AfD jedoch im Frühjahr 2020 zum Besten gegeben. Während sie nach Bekanntwerden der ersten Coronafälle in Deutschland lautstark nach einem kompletten Shutdown verlangte, wollte sie einige Wochen später von diesem resoluten Vorgehen gegen das Virus nichts mehr wissen. Seitdem wird die Partei nicht müde, die Bundesregierung für ebendiese Maßnahme zu kritisieren und wirft ihr vor, sie hätte die Gesellschaft dadurch massiv wirtschaftlich geschädigt und die Bürger ihrer Freiheit beraubt. Jedes herkömmliche Fähnchen wäre bei solchen orkanartigen Umschwüngen längst gerissen.

Ganz vorne dabei

Es ist inzwischen zur politischen Gewissheit geworden: Lauert eine Krise, ist die AfD nicht weit. Die Partei hat mittlerweile einiges an Übung daran, sich an die Spitze von Protestbewegungen zu stellen. Geschickt nutzte sie die Sorge vieler Bürger aus und kaperte die Pegida-Bewegung. Sie trug nichts dazu bei, die selbsternannten Wutbürger wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden, sondern stachelte deren Ängste systematisch weiter an, um daraus Profit in Form von Wählerstimmen zu gewinnen.

Ihr erster großer Coup gelang der AfD dann im Spätsommer 2015, als hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland strömten. Sie setzte dabei auf die desolate soziale Lage vieler Menschen und spielte sie gegen die Schutzsuchenden aus. Vielleicht wäre die AfD ohne die Flüchtlingskrise 2015 heute schon längst Geschichte.

Doch der Siegeszug der Rechtsextremen setzte sich fort. Als die ersten Menschen auf den damaligen Hygienedemos gegen die harten Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus aufbegehrten, erschlossen sich die Rechten auch diesen Protest. Dies gipfelte schließlich in der Querdenkerbewegung, auf welche die AfD leider ein Patent hält.

Immer wieder gelang es der AfD, ohne Programmatik und ohne echte Vision politische Lücken zu füllen. Sie bewies zuverlässig ein gutes Gespür dafür, welche Ängste die Menschen umtrieben und war als erstes zur Stelle, um den Unmut politisch abzubilden. Selten steckten dahinter geniale Einfälle und strategische Meisterleistungen: Die übrigen Parteien hatten inzwischen derart große Angst vor dem Frust der Bürger, dass sie sich stets von solchen Erhebungen fernhielten. Sicher spielte dabei in manchen Fällen auch das schlechte Gewissen eine Rolle, waren die etablierten Parteien doch häufig für die Misere der Bürger mitverantwortlich.

Prinzip „AfD“

In Wahlergebnissen erreicht die AfD ungeahnte Höhen. Als Partei hat sie längst aufgehört zu existieren, sollte es sie jemals in dieser Form gegeben haben. Viel eher ähnelt sie einem Schwamm, der sich zwangsläufig mit Wasser vollsaugt, wenn man ihm Gelegenheit dazu gibt. Ein System steckt nicht dahinter. Die AfD ist stattdessen Spielball der extremen Rechten, der sie einst so generös Zutritt gewährt hat. Bei der Positionierung zu bestimmten Themen ist die AfD außerordentlich dynamisch, als Partei ist sie erstaunlich statisch.

Gerade deshalb ist der Vorwurf, manche Positionen seien AfD-nah, in den meisten Fällen völlig haltlos. Es gibt keine AfD-nahen Positionen. Die AfD nähert sich stattdessen solchen Positionen, welche die anderen Parteien bereitwillig außer Acht lassen. AfD-nah sind Politiker nur, wenn sie bei diesem perfiden Spiel mitmachen. Sie lassen sich von den Rechtsextremen einen Politikstil aufzwingen, der so gar nicht förderlich ist für unsere Demokratie.

Weil die AfD so erfolgreich ein Themenfeld nach dem anderen mit ihrem rechtsextremen Gedankengut kontaminiert, verengt sich der geduldete Meinungskorridor immer weiter. Die Rechten haben es auf diese Weise zunehmend leicht, die übrigen Parteien vor sich herzutreiben – oder zu „jagen“, wie es Alexander Gauland einst bezeichnete. Dieser Politikstil der erzwungenen Eindimensionalität wird besonders von den Grünen eifrig kopiert. Sie machen das inzwischen so routiniert und kaltschnäuzig, dass man sich ernsthaft fragt, wer hier Meister und wer hier Schüler ist.

Ein besseres Angebot?

Die gute Nachricht ist: Einmal AfD heißt nicht immer AfD. Nur wenige Menschen wählen die AfD trotz ihrer rechtsextremen Tendenzen. Wähler, die bereitwillig über diese Offensichtlichkeit hinwegsehen, haben andere Interessen als Menschen, welche die AfD aus Enttäuschung und Frust wählen. Wer die AfD aus rein wirtschaftsliberalen, konservativen oder eurokritischen Motiven wählt, gehört zu einer Minderheit in der Wählerschaft der Partei. Dieses Potenzial liegt bei maximal 5 bis 6 Prozent. Die übrigen 15 Prozent der potenziellen AfD-Wähler hat in der AfD keine neue politische Heimat gefunden. Sie verharren mit den Rechtsextremen, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Zu oft haben die demokratischen Parteien sie enttäuscht. Ihre Abkehr von diesen Parteien ist daher durchaus verständlich.

Außer der extremen Rechten gab es leider kein anderes Ventil für diese Wähler. Nun müssen sie sich seit Jahren anhören, dass es durch und durch schlecht ist, die AfD zu wählen. Kein einziger Wähler wird so zurückgewonnen. Überzeugende Argumente für die anderen Parteien hören diese Menschen nicht, dabei wären sie anderen Konzepten gegenüber sicher aufgeschlossen.

Ihr demokratisches Potenzial ist bei der AfD in gewisser Weise nur zwischengeparkt. Nur die AfD gibt ihnen momentan das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Sobald irgendein anderer politischer Akteur ihnen ein besseres Angebot macht, wandern sie ab. Natürlich wird dieses Unterfangen mit voranschreitender Zeit schwieriger und wahrscheinlich haben die etablierten Parteien gar nicht mehr die Kraft, diese Anstrengung zu meistern. Neue politische Projekte sind daher gefragt, um solche Wähler abzubilden, die letzten Endes nur eines wollen: gehört werden.


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Die Ära der Unzufriedenheit

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Festgefahrene Querdenkerdemos, brutale Übergriffe in der Silvesternacht, enttarnte Reichsbürger – Deutschland geht es nicht gut. Die Politik will gegen diese Auswüchse von Gewalt und Brutalität vorgehen und die Demokratie stabilisieren. Sie verkennt dabei, dass das Problem viel tiefer liegt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass mittlerweile alles den Bach runtergeht. Gepaart mit dem latenten Verdacht, führende Politiker seien nicht zu 100 Prozent am Wohl des Volks interessiert, macht sich eine Stimmung des Frusts und des Argwohns breit. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie einerseits zur angeblichen Gefahr für die Demokratie stigmatisiert werden, andererseits aktiv von Teilhabe und Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Es steht nicht gut um unser Land.

Eskalationen in der Multikrise

2020 beherrschte uns Corona, im Folgejahr spitzte sich die Lage weiter zu. 2022 griff Russland die Ukraine an. Tod, Leid und Vertreibung waren die Folge. Die Auswirkungen des Krieges waren bis weit in Europa spürbar: Inflation, Energiekrise und gesellschaftliche Spaltung macht den Menschen zu schaffen. All diese Ereignisse trafen uns unvorbereitet und sind mit Kalenderdaten untrennbar verbunden. Die Hoffnung, dass es bald besser werden muss, überlebte nicht einmal die erste Nacht des Jahres. Nie dagewesene Ausschreitungen und Krawalle begleiteten mancherorts die Silversterfeierlichkeiten. Mit beispielloser Brutalität griffen hauptsächlich junge Menschen Rettungs- und Einsatzkräfte an. Die Gewalt war hemmungslos und völlig ohne Sinn. Es ging einzig darum, Schaden zu verursachen.

Die Neujahrsnacht 2023 ist für die wenigsten im Land repräsentativ und eignet sich doch hervorragend als Spiegel unserer Gesellschaft. Sie krankt an den Krisen unserer Zeit, auf die Politik, Wissenschaft und Wirtschaft seit vielen Jahren keine angemessenen Antworten mehr finden. Zu Jahresbeginn zeigte der Tumor aus Frust und Resignation seine hässliche Fratze.

Zeit der Unsicherheit

Die Übergriffe vom 1. Januar sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie sind trotzdem nur die oberste Schicht einer allgemeinen Frustration, die in der Gesellschaft schon lange schwelt. Teilweise weltumspannende Krisen reihen sich seit Jahren aneinander. Die hohen Arbeitslosenzahlen zu Beginn des Jahrtausends gingen fast nahtlos über in eine Finanz- und Eurokrise, die vielen ihr Erspartes nahm. Politik und Wirtschaft bemühten sich zwar, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, verloren durch ihre Machtlosigkeit aber viel von ihrer Glaubwürdigkeit.

Die Stimmung während der Flüchtlingskrise kippte bei vielen von einer allgemeinen Aufnahmeeuphorie in einen regelrechten Sozialneid mit den Geflüchteten. Corona brachte nicht wenige um ihre Existenz. Wer nicht das Privileg hatte, ins Home Office ausweichen zu dürfen, fürchtete in Kurzarbeit oder Beschäftigungsverbot um seine berufliche Zukunft. Die außer Kontrolle geratenen Energie- und Lebensmittelkosten treiben viele Menschen an den Rand der Verzweiflung. Nicht jeder sieht mehr den Zusammenhang zwischen Krieg in der Ukraine und den Preisschildern im Supermarkt. Eine Stimmung aus Misstrauen und Argwohn hat sich längst unter die allgemeine Frustration gemischt.

Blockierter Protest

Die Menschen haben mittlerweile immer häufiger das Gefühl, sie können sich auf nichts mehr verlassen. Vieles scheint von Zufall und Glück abhängig zu sein. Briefe kommen nicht oder nur mit erheblicher Verspätung ans Ziel, weil die Post schlechte Arbeit macht. Bus- und Bahnfahren wird besonders für Pendler immer mehr zur Hölle. Möchte man seine Hausapotheke aufstocken, um gegen die nächste Erkältungswelle gewappnet zu sein, sind selbst einfachste Arzneimittel in der Apotheke nicht mehr verfügbar. Noch größere Probleme machen die Lieferengpässe natürlich bei Behandlungen gegen Krebs oder andere lebensbedrohliche Krankheiten. Gepaart mit obskuren Vorschlägen aus der Ärzteschaft verlieren die Menschen völlig den Glauben an Vernunft und Verstand.

Man könnte zwischenzeitlich der Idee verfallen, die Politik wollte die Leidensfähigkeit der Menschen testen. Denn breite Demonstrationen und Proteste gegen den gegenwärtigen Politikstil gibt es nicht. Wenn die Menschen doch auf die Straße gehen und sich Querdenkerdemos anschließen, werden sie in die rechte Ecke gestellt und verlacht. Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen kein wirkungsvoller Protest entstehen kann, wenn er von bestimmten politischen Strömungen nicht initiiert wird.

Politik als Schmierentheater

Viele Menschen fühlen sich den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft hilflos ausgeliefert. Immer mehr haben sie das Gefühl, „die da oben“ machten Politik nur für sich selbst oder um irgendwelche lästigen Verpflichtungen aus Koalitionsverträgen zu erfüllen. Die Antwort auf steigende Lebenshaltungskosten klammerte Rentner und Studierende zunächst komplett aus. Selbst die Union kritisierte das und schließlich wurde nachgebessert.

Doch auch CDU und CSU haben sich in ihrer mittlerweile gut einjährigen Oppositionskarriere nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das Schmierentheater, das sie bei der Einführung des Bürgergelds aufführten, war ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die sich nach Kräften abmühen, aus der Arbeitslosigkeit wieder herauszukommen. Endlich waren Verbesserungen für Menschen in prekären Verhältnissen zum Greifen nah. Doch die Union nutzte lieber ihre Mehrheit im Bundesrat, um selbst diese paar Korrekturen wieder einzukassieren.

Es ist immer das gleiche: Geht es um Maßnahmen, die der Mehrheit der Menschen im Land wirklich etwas bringen, mahlen die politischen Mühlen besonders langsam. Es ist gut, wenn tiefgreifende Maßnahmen angemessen diskutiert werden. Das Rumgeeiere beim Deutschlandticket ist aber ein Tiefpunkt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Monatelang wurde die Eintrittskarte in den beinahe kostenlosen ÖPNV als 49-Euro – Ticket vermarktet. Damit war eigentlich schon alles gesagt: Nicht die entlastende Wirkung des Tickets stand im Vordergrund, auch nicht der Zeitpunkt der Einführung, sondern die Kosten, die damit verbunden waren. Eine Schande.

Unrepräsentative Demokratie

Unsere Demokratie funktioniert nicht mehr – zumindest nicht für jeden. Gewalttätige Ausschreitungen, routinemäßige Querdenkerdemos, Umsturzpläne der Reichsbürger – all diese besorgniserregenden Entwicklungen deuten darauf hin. Daneben gibt es einen beträchtlichen Teil von Bürgerinnen und Bürgern, die sich von keiner der etablierten politischen Parteien mehr angesprochen fühlen. Wenn sie überhaupt noch wählen, entscheiden sie sich für das kleinste Übel. Was für ein Armutszeugnis für jede Demokratie!

Immer mehr Menschen in Deutschland haben keine politische Vertretung mehr. Manche bleiben daher den Wahlen ganz fern. Sie hören auf, sich politisch zu äußern und werden deswegen im politischen Spektrum nicht mehr erfasst. Oft sind das einkommensschwache Menschen, die vielleicht alleinerziehend oder seit längerem arbeitslos sind. Viele Menschen mit gesichertem oder sogar sehr hohem Einkommen gehen dafür umso häufiger zur Wahl. Sie artikulieren ihre politischen Interessen und bekommen in vielen Fällen, was sie bestellt haben. Ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.

Parteien wie die FDP und die Grünen haben es somit besonders leicht. Sie punkten besonders bei Gutverdienern in den Städten. Viele ihrer Wähler fahren ein E-Auto. Bei der letzten Bundestagswahl erreichten gerade die Grünen mit 14,8 Prozent das beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte. Wenn aber immer mehr Geringverdiener nicht mehr zur Wahl gehen, verliert ein solches Ergebnis an Repräsentanz. In einer gesunden Demokratie lägen die Grünen heute vermutlich nicht bei knapp 15, sondern nur bei 10 Prozent.

Die Klientelisierung der Politik

Im Vorfeld der Bundestagswahl wurde viel über das Selbstverständnis von Volksparteien gesprochen. Erstmals traten im Kanzlerduell nicht nur CDU und SPD gegeneinander an. Auch Annalena Bearbock (Grüne) war stets bemüht, das Bild einer künftigen Volkspartei zu zeichnen. Niemand nahm ihr das so recht ab. Es gibt dafür auch einen einfachen Grund: Auf Bundesebene sind die Grünen weiterhin eine Klientelpartei. Sie fokussieren sich auf die Interessen bestimmter Milieus und können daher nicht glaubwürdig den Anspruch einer Volkspartei vertreten.

Verfällt eine Nischenpartei dieser Versuchung doch, dann geht das nur, wenn sie bestimmte Wählergruppen ausschließt und ihre eigene Klientel zur Mehrheit erhebt. Das tut einer Demokratie auf Dauer nicht gut. Es ist nicht die Mehrheit. Leider schließen sich auch die ehemaligen Volksparteien diesem Trend an. Ihre sinkenden Zustimmungswerte haben sie dem Anspruch darauf, eine Volkspartei zu sein, sowieso beraubt. Anstatt sich die Zustimmung in der Bevölkerung durch ehrliche und bürgernahe Politik zurückzuerkämpfen, richten sie sich lieber in der Rolle einer Klientelpartei ein, die nur vorgibt, für das ganze Volk zu stehen.

Die Auswahl wird dadurch diverser, aber keinesfalls einfacher. Immer mehr Menschen fühlen sich durch einen solchen Politikstil verprellt. Tun sie ihren Protest kund, werden sie oftmals verlacht und beschimpft. Mit der Klientelisierung der Politik kommt leider auch die Spaltung. Es ist naiv, dabei an nur zwei Seiten zu denken, die auseinanderbrechen. Die politische Spaltung in Deutschland kennt nicht nur eine Richtung. Das Stadium der Polarisierung ist vorüber. Die politische Landschaft gleicht einem Scherbenhaufen.


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Protest aus Routine

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Die große Errungenschaft der Demokratie ist, dass man sich immer dann zu Wort melden kann, wenn man mit bestimmten Entwicklungen nicht einverstanden ist. Findet man dann noch Mitstreiter, die gleiche Ansichten vertreten, kann man besonders effektiv auf seine Sache aufmerksam machen. Dieser Protest war über Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik. In den letzten Jahren spüren wir aber, dass sich legitimer Protest gewandelt hat. Immer lautstärker tritt eine Gruppe in den Vordergrund, denen es nicht um Veränderung geht, sondern einzig darum, ihren Unmut kundzutun. Für die Demokratie ist dieser inhaltslose Protest auf Dauer eine Zumutung.

Protest als Erfolgsrezept

„Opposition ist das Salz in der Suppe der Demokratie.“ – Mit diesem Satz bekundete der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel seine Loyalität gegenüber unserer Verfassung. Er wusste, dass eine Demokratie nur dann auf Dauer funktioniert, wenn man den Widerspruch nicht nur erträgt, sondern auch wertschätzt. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass unsere Gesellschaft am Widerstand einiger gewachsen ist. Es war gut, dass die Studierenden Ende der 1960er gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gingen. Sie befürchteten zurecht, dass ein ausgerufener Notstand viel zu leicht zur Abschaffung der Demokratie missbraucht werden könnte.

Aus den Protesten gegen die Atomenergie erwuchs sogar eine Partei, die zwischenzeitlich mehrfach an der Bundesregierung beteiligt war. Und auch die heutige Linkspartei ging aus einer Protestbewegung gegen die unsozialen Hartz-Gesetze hervor. Bis vor einigen Jahren gingen die Menschen immer dann auf die Straße, wenn sie ein besonderes Anliegen hatten. In Demonstrationszügen und Aufmärschen zeigten sie den Regierenden, dass sie mit deren Politik nicht einverstanden waren. Die Politik richtete ihren Kurs danach aus – mal mehr, mal weniger.

1001 Gründe zum Demonstrieren

Mittlerweile hat sich allerdings eine Protestkultur entwickelt, bei der die konkrete Zielsetzung nicht mehr erkennbar ist. Schon bei den Pegida-Demonstrationen war die Zusammensetzung der Proteste einigermaßen diffus. Bei den Hygienedemos des Jahres 2020 und den heutigen Querdenkerveranstaltungen tummeln sich aber Menschen verschiedener Altersgruppen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit vielfältigen nationalen Hintergründen.

Während der genaue Zweck der Demo bis vor einiger Zeit eindeutig war, sind die Aufmärsche auch in diesem Punkt mittlerweile absolut heterogen. Im Laufe der Pandemie gingen viele Menschen zunächst gegen die Maskenpflicht auf die Straße. Monate später argwöhnten sie die Einschränkungen gegen Ungeimpfte und schließlich positionierten sie sich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Die Bewegung wuchs mit der Zeit stetig an. Anfang des Jahres zählten die Demonstrationszüge teilweise mehrere Tausend Teilnehmer. Ein beträchtlicher Teil von ihnen waren völlig normale Bürger ohne nennenswerten Hang zu Verschwörungstheorien.

Nach dem russischen Einfall in die Ukraine brachen dann jedoch auch bei den Demonstrationen sämtliche Dämme. Plötzlich fanden auch ukrainische Flaggen Einzug in die Protestmärsche. Völlig unklar war dabei, was die Demonstrierenden an der deutschen Ukrainepolitik störte. Finden sie den Kurs der Bundesregierung zu lasch oder lehnen sie Waffenlieferungen ab? Sind die Flaggen eine Aufforderung zum Handeln oder bekunden sie grundsätzliches Mitgefühl für ein Land, das momentan völkerrechtswidrig überrannt wird?

Auch die gestiegenen Energiepreise treiben viele Menschen auf die Straße. Sie machen sich Sorgen darum, wie sie die nächste Heizkostennachzahlung stemmen sollen. Die Politik liefert darauf bislang kaum vernünftige Antworten. Es fällt dem Konglomerat aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremen und Hobbyprotestlern darum umso leichter, die Menschen zu ködern.

Von der Realität zur Verschwörungstheorie

Schon zu Pegida-Zeiten stellte man schnell fest, dass viele der Demonstrierenden für logische Argumente überhaupt nicht mehr zugänglich waren. Sie hatten sich in eine fixe Idee verrannt. Ihnen ging es hauptsächlich darum, ihre Wut und ihren Frust zum Ausdruck zu bringen und nicht im klassischen Sinne nach Veränderung zu streben. Weil sie lange nicht gehört wurden, verwiesen sie immer wieder auf eine angeblich eingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, obwohl ihre personenstarken Aufmärsche das Gegenteil offensichtlich machten.

Sie gingen auf die Straße, weil viele von ihnen das Vertrauen in die Politik vollends verloren hatten. Sie spürten, dass sich ihre Lage kaum nennenswert zum Positiven veränderte, obwohl verschiedene Parteien an der Regierung beteiligt waren. Immer hatten sie das Gefühl, die Regierenden würden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg machen. Tatsächlich hat sich während der Coronapandemie und insbesondere mit Anlaufen der ersten Impfkampagne gezeigt, dass Politik und Wissenschaft verlernt hatten, ihre Entscheidungen zu erklären und populär zu machen.

Für viele Querdenker gilt die Pandemie weiterhin als staatseigene Schikane, welche die Bürgerinnen und Bürger nur kleinhalten soll. Die Existenz des Virus bestreiten diese Menschen. Wissenschaft und Politik haben den Draht zu ihnen verloren. Immerhin ziehen es diese Menschen ernsthaft in Erwägung, die politisch Verantwortlichen könnten eine medizinische Krise konstruieren, um ihre Macht zu festigen.

Politisch heimatlos

Mit Ausnahme der AfD schafft es bislang keine bedeutende Partei, den Frust der Bürgerinnen und Bürger zu kanalisieren. Während die Linke krampfhaft versucht, bei den Protesten zum heißen Herbst die Oberhand zu gewinnen, haben sich die übrigen Parteien damit abgefunden, dass Protest und Widerstand längst Sache der AfD ist – und treiben damit unweigerlich noch mehr Menschen in die Fänge der Rechtspopulisten.

Die Querdenkerszene bietet damit ein Sammelbecken für alle Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß von der Politik enttäuscht sind. Die Initiatoren solcher Demonstrationszüge schaffen eine parallele Gesellschaft, die Platz bietet für all jene, die in der Realität abgehängt wurden. Willkommen ist jeder, den an der aktuellen Politik etwas stört. Das ist besonders gut daran zu erkennen, dass die Themenpalette der Märsche immer bunter wird.

Blinder Frust und routinierter Protest

Ohne die Ziele der Demonstrationen zu hinterfragen, beteiligen sich heute viele Bürgerinnen und Bürger an den sogenannten Spaziergängen. Die Motive der Initiatoren sind ihnen weitgehend egal, es zählen einzig ihre eigenen Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Sie sind überzeugt davon, dass sie besonders erfolgreich protestieren – und tun genau das nicht. Sie protestieren nicht, sie leben ihren Frust aus.

Dieser inhaltslose vom Frust getragene Protest ist auf Dauer schädlich für die Demokratie. Viele der Themen, welche die Menschen auf die Straße treiben, sind ernstzunehmende Probleme, die einer weitaus differenzierteren und professionelleren Betrachtung und Organisation bedürfen als die Querdenkerszene es jemals leisten kann. Die Demos treten jedoch seit vielen Monaten auf der Stelle, ohne politisch etwas zu bewirken. Sollte eine Änderung der Verhältnisse jemals das Ziel der Querdenker gewesen sein, haben sie sich lange von dieser Vision verabschiedet. Die Samstagsaufmärsche sind mittlerweile zu einem routinierten Protest geworden und Routine hat keine Durchschlagskraft.


Es ist noch nicht zu spät: Die regierenden Parteien und Teile der Opposition dürfen auf den Frust und den Protest der Bürger nicht ebenso routiniert mit Unverständnis und Ablehnung reagieren. Die Menschen machen zuhauf darauf aufmerksam, dass sie ein Anliegen haben. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, sie der Straße zu überlassen, wo sie Teil eines Durcheinanders aus Frust und Enttäuschung werden und verlernen, wie echte Demokratie funktioniert.

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