Ein demokratisches Desaster

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Corona ist jetzt eine Endemie. Trotzdem wird es ein Zurück nie geben. Zu viel Schaden hat das Virus dafür angerichtet. Vieles, was wir als selbstverständlich erachteten, wurde in Frage gestellt, zahllose Menschen sind dem Virus zum Opfer gefallen. Ein noch tieferer Riss geht seit der Pandemie durch unsere Gesellschaft. Die gesellschaftliche Stigmatisierung Ungeimpfter hat auch in Deutschland Spuren hinterlassen. Eine Diskussion über mögliche Impfschäden wird das nicht kitten.

Es war im Frühjahr 2020, als Deutschland und die Welt glaubte, bald wieder zum Normal zurückkehren zu können. Das neuartige Coronavirus hatte die Menschen zutiefst entsetzt und ihnen gezeigt, dass vieles, was sie für selbstverständlich halten, brüchig und instabil ist. Auch wenn sich damals viele darüber im Klaren waren, dass sie noch lange an das Virus denken würden, waren die langfristigen Folgen der Pandemie kaum abzusehen. Erst nach und nach wurde den Menschen bewusst, dass Corona viele Bereiche des Lebens nachhaltig beeinflussen würde.

Viraler Katalysator

Dass SARS-Cov-2 mehr als nur ein Virus war, wurde schnell offensichtlich. Schon in den ersten Monaten der Pandemie war die Brennglas-Metapher so oft benutzt worden, dass es verwundert, dass es dafür nicht auch eine Inzidenz gab. Corona zeigte schonungslos auf, welche Bereiche des öffentlichen Lebens in den Jahren zuvor besonders sträflich vernachlässigt worden waren. Mehr als je zuvor waren die Krankenhäuser am Limit, an vielen Schulen ließen sich nicht einmal die Fenster öffnen, die Abhängigkeit von ausländischen Importen rächte sich bitter.

All diese Probleme hätten ohne das Virus sicher noch eine Weile gemütlich vor sich hingeschwelt, Corona hat deren Entwicklung nur beschleunigt. Auch in anderen Bereichen wirkte das Virus als Verstärker vorhandener Trends. Während man auf den Digitalisierungsschub seit 2020 fast stolz sein kann, war die Pandemie sicher kein Glücksfall für die Demokratie.

Querdenker sind out

Das Virus und die damit einhergehenden Maßnahmen seien eine „demokratische Zumutung“. So fasste es die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) treffend zusammen. Corona brachte eine neue Dimension des Protests zum Vorschein: Sogenannte Querdenker versammelten sich monatelang regelmäßig und skandierten in den Straßen. Beim Anblick dieser wütenden Menge aus Ex-Pegisten, Verschwörungstheoretikern und Für-dumm-Verkauften war den meisten Fensterzuschauern dieses Mal bestimmt nicht nach Klatschen zumute.

Seit vergangenem Jahr sind die Proteste leiser geworden. Mit Omikron ging die akute Pandemie in eine Endemie über. Wer 2022 auf die Straße ging, ist nicht einfach verschwunden: Diese Menschen gibt es noch immer. Sie sind nicht still geworden, weil sie ihren Irrweg eingesehen haben oder weil sie von der Ampel bekehrt wurden. Ihren Frust leben sie nun wieder im Verborgenen aus. Das Problem für die Demokratie ist weniger offensichtlich geworden, aber es ist noch immer da.

Mit der Dominanz der Omikronvariante und dem Wegfall weitreichender Schutzmaßnahmen hat sich der aktive und laute Protest erübrigt. Inzwischen diskutiert sogar der Mainstream über Impfkomplikationen und -schäden nach einer Coronaimpfung. Wer diese Schicksale noch vor einigen Monaten ansprach, dem wurden die schlimmsten Unterstellungen gemacht: Solche Menschen galten als unbelehrbare Coronaleugner, sie wurden als Querdenker und Verschwörungstheoretiker diffamiert, die überfüllten Intensivstationen waren ihnen egal.

Nichts begriffen

Zum Glück ist man inzwischen weiter. Die Debatte um die Nachteile der neuartigen Corona-Impfstoffe hat eine rationale und sachliche Ebene erreicht. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Wind hat sich jedoch sehr schnell gedreht. Der Sinneswandel von vielen ist eher auf Gruppendynamiken und weniger auf Überzeugung und Glaubwürdigkeit zurückzuführen.

Auch in der öffentlichen Diskussion über den Umgang mit Ungeimpften in der Pandemie gibt es Lücken. So hinterfragt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zwischenzeitlich die Sinnhaftigkeit von Lockdowns und 2G. Es wird darüber geredet, dass es falsch war, Ungeimpften den Zutritt zu Restaurants, Kinos und Friseursalons zu verwehren – und bestenfalls einen marginalen Einfluss auf die Pandemiebekämpfung hatte. Die gesellschaftliche Stigmatisierung, die Ungeimpfte über sich ergehen lassen mussten, wird jedoch kaum erwähnt. Noch immer wird viel zu wenigen zugebilligt, sich aus rationalen Gründen gegen eine Coronaimpfung entschieden zu haben. Sie erfahren auch heute keine Rehabilitierung. Wie schon 2021 sind sie unsichtbar.

Zerrissene Gesellschaft

Auch wenn viele heute zurückrudern: Der Umgang mit Ungeimpften in der Pandemie war eine Sternstunde der Demokratiefeindlichkeit. In der Bundesrepublik wurde eine Bevölkerungsgruppe niemals zuvor in vergleichbarer Art und Weise ausgeschlossen und mit latenter Feindseligkeit überzogen. Alle Mechanismen, die so etwas verhindern sollten, haben versagt.

Offene Demokratiefeinde rieben sich die Hände. Sie boten vielen Ungeimpften weit mehr als eine neue politische Heimat. Sie gaben ihnen das Gefühl, sie zu verstehen und bestärkten sie in ihrer Wut auf den Rest der Gesellschaft. Auf beiden Seiten entstand ein Teufelskreis, der die Gesellschaft entzweite.

Nicht demokratiefähig?

Corona hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass es Grenzen der Demokratiefähigkeit in der Bevölkerung gibt. Das Virus war ein weiterer Beleg dafür, dass die beste aller Regierungsformen in der Krise schwieriger funktioniert. Schon in weitaus beruhigteren Zeiten ist das Ringen um eine gemeinsame Lösung alles andere als leicht. Das Virus verstanden viele zurecht als existenziellen Angriff – und der Mensch schaut naturgemäß zuerst nach sich und erst dann nach den anderen.

In der Retrospektive sind viele sicher bestürzt über den Schaden, den die Demokratie in der Coronazeit genommen hat. Doch die Pandemie ist vorbei, die Angelegenheit kann leicht totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden. Eine breite Debatte darüber, wie groß und nachhaltig der Schaden an Rechtsstaat und Demokratie jenseits von Querdenkern und Co. ist, fand bis heute nicht statt. Andere Krisen haben Corona überlagert. Sie setzen fort, was Corona erst richtig zum Laufen brachte: Die Einteilung der Bürger in Gut und Böse.


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Überforderung mit Ansage

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Bitte aussteigen – der Zug möchte abfahren: Seit Einführung des 9-Euro – Tickets treten die Missstände bei der Deutschen Bahn immer offener zutage. Noch häufiger als in den Jahren zuvor kommt es zu Verspätungen, Zugausfällen und hoffnungslos überfüllten Zügen. Das 9-Euro – Ticket ist nicht Grund für die Probleme, sondern lediglich ihr Katalysator. Es ist deutlich zu sehen, dass die Deutsche Bahn ihrer Verantwortung als nachhaltig orientiertes Unternehmen weiterhin nur sehr unzureichend nachkommt.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Mit dem 9-Euro – Ticket wollte die Bundesregierung ein Prestigeprojekt vorweisen, mit dem sie einerseits Handlungsfähigkeit in der Krise bewies als auch eine nachhaltige Verkehrspolitik einläutete. Im Gegensatz zu vielen Vorhaben der Vorgängerregierungen war die Einführung des Beinahe-Umsonst – Tickets eine nahezu revolutionäre Idee. Für viele war sie wohl zu revolutionär, denn schon Wochen, bevor man mit dem Ticket in den Nahverkehr steigen konnte, wetterten viele Medien einhellig gegen die Pläne der Regierung. Sie befürchteten eine totale Überlastung des öffentlichen Nahverkehrs, sie warnten vor chaotischen Zuständen an den Bahnhöfen und sie prophezeiten massenweise Zugausfälle.

Das traurige an der Geschichte: Sie hatten recht. Viele Fahrgäste berichten von hoffnungslos überfüllten Zügen, besonders an Wochenenden und Feiertagen. Es mehren sich außerdem die Meldungen, dass einzelne Fahrgäste auf den nächsten Zug warten mussten, weil ihr ursprünglicher Zug keine weiteren Passagiere mehr aufnehmen konnte.

Alles beim Alten

Die Flut an Fahrgästen kam nicht überraschend. Sie trifft aber auf ein System, das in keinster Weise auf die höhere Auslastung vorbereitet wurde. Das 9-Euro – Ticket wurde einem Unternehmen übergestülpt, das seit Jahren kaputtgespart wird und seiner Aufgabe, Personen zuverlässig von A nach B zu transportieren, nicht mehr gerecht wird.

Auch die Verspätungen und Zugausfälle, die von den Medien beschworen wurden, sind so eingetreten. Mit ihrer Vorhersage landeten die Zeitschriften aber keinen Sechser im Lotto. Schon lange vor Einführung des 9-Euro – Tickets standen solche Zustände an der Tagesordnung. Wie beim Roulette mussten die Fahrgäste darum bangen, dass ihre gebuchte Verbindung so zustandekam. Lange Schlangen vor den Schaltern und rauchende Köpfe wegen unverschämt hoher Verspätungen prägten das Bild deutscher Bahnhöfe vor und während des 9-Euro – Tickets. Sehr wahrscheinlich werden sie es auch danach noch tun.

Wie ein Brennglas

Spontane Gleiswechsel, Personalnot, Verspätungen und Zugausfälle gehören seit vielen Jahren zu einer zünftigen Zugfahrt dazu. Das 9-Euro – Ticket hat diese Probleme nur auf ein neues Level gehoben. Schonungslos legt es die bereits vorhandenen Probleme offen. Es drängen sich geradezu Parallelen zur Belastung des Gesundheitssystems auf. Auch deutsche Krankenhäuser waren mit dem großen Patientenaufkommen infolge der Coronapandemie heillos überfordert. Die Ursache war die gleiche: Falsche Finanzentscheidungen, routinierter Personalabbau und eine Profitlogik lassen die Infrastruktur auf der Schiene und in den Krankenhäusern zusehends verrotten.

Schon vor dem 9-Euro – Ticket musste man gar nicht so genau hinsehen, um die Schwachstellen im Nah- und Fernverkehr zu bemerken. Verzögerungen aufgrund von Fahrzeugschäden und -ausfällen standen an der Tagesordnung, auf manchen Streckenabschnitten mussten die Lokführer die Geschwindigkeit drosseln – die schlecht gewarteten Gleise hätten einer höheren Geschwindigkeit kaum standgehalten.

Keine Zeit für Selbstkritik

Trotzdem wurde es für manche Menschen zum Luxus, einen betriebenen Bahnhof in der Nähe zu haben. Seit den 1950er Jahren wurden immerhin rund 15.000 Kilometer Schiene stillgelegt, inklusive aller dazwischenliegenden Haltepunkte. Seit den 00er-Jahren stagnieren die Zahlen zwar, einen nachhaltigen Ausbau des Schienennetzes hat es trotzdem nicht gegeben. Das 9-Euro – Ticket hat daran nichts geändert und die Bewohnerinnen und Bewohner vieler Orte sind auch weiterhin auf das Auto angewiesen.

Genau so wie die Ungeimpften im Herbst 2021 nicht für die katastrophalen Zustände in deutschen Krankenhäusern verantwortlich waren, ist das 9-Euro – Ticket nicht schuld an den überfüllten Zügen und ausfallenden Anschlüssen. Die Deutsche Bahn springt aber bereitwillig auf den medialen Zug auf und versucht sich aus ihrer Verantwortung zu winden. Schuld sind plötzlich die Fahrgäste, die aufgrund der günstigen Konditionen mit der Bahn fahren wollen. Zeit für Selbstkritik hat das Unternehmen offenbar nicht.

Ein nachhaltiges Unternehmen?

Ihrer Aufgabe ist sich die Deutsche Bahn AG ganz und gar nicht bewusst. Im Schienenverkehr geht es nicht nur darum, die Passagiere zügig von einem Ort zum anderen zu bringen – selbst daran scheitert der Konzern immer wieder. In der heutigen Zeit sind Anbieter wie die DB doch auch Verantwortungsträger für eine nachhaltige Gesellschaft. Wie soll die Trendwende in der Klimakrise gelingen, wenn nicht endlich viel mehr Menschen vom Auto auf die Bahn umsteigen?

Die Deutsche Bahn macht jedenfalls keinerlei Anstalten, den Bürgerinnen und Bürgern den Umstieg besonders leichtzumachen. Das 9-Euro – Ticket kam zugegeben zügig, aber es kam nicht über Nacht. Man hätte die Zeit nutzen können, um die offensichtlichen zu erwartenden Probleme zumindest abzufedern. Nicht ist geschehen. Der Morgen des 1. Juni war plötzlich da.

Auch die DB-App ist an vielen Stellen eine Enttäuschung. Die Angaben zu Zugverbindungen sind teilweise irreführend, weil erst auf den zweiten Blick klar wird, dass Züge ausfallen, Alternativen werden zwar als solche gekennzeichnet, gehen aber unter, wenn sie erst später in der Liste der Verbindungen auftauchen. Auch die Preisangaben für Tickets sind ein Fall für die Verbraucherzentrale. Die günstigen Konditionen gelten nur, wenn man Mitglied im Club ist und sich mindestens eine BahnCard zulegt. Kundenfreundliche Information sieht wahrlich anders aus.


Die deutsche Schiene braucht einen Reboot. Das gilt nicht nur für die Pünktlichkeit der Züge, sondern auch für das Angebot an Verbindungen und die Unternehmensphilosophie. Die Deutsche Bahn kann sich ihrer Verantwortung in der aktuellen Lage nicht länger entziehen und Krokodilstränen wegen des 9-Euro – Tickets vergießen. Die Mentalität der Weinerlichkeit muss endlich Platz machen für eine neue Ära der Entschlossenheit und nachhaltigen Mobilität.


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