Parlamentarismus als Selbstzweck

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Mit polemischen Plakaten und empörten Mienen ziehen Gegner der Coronamaßnahmen skandierend durch die Straßen. Der routinierte Protest geht zurück bis auf die Pegida-Demos, die vor einem dreiviertel Jahrzehnt viele Menschen auf die Straßen trieben. Mit Gesetzen für eine lebendige und wehrhafte Demokratie versuchen die Abgeordneten im Bundestag, die chronisch Enttäuschten wieder ins Boot zu holen. Zu oft setzen sie dabei aber die falschen Akzente und beschäftigen sich lieber mit sich selbst als mit den Problemen der Mehrheit. Das ganze führt zu einer um sich greifenden politischen Resignation, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Reden und Handeln

Mit dem Wehrhafte-Demokratie – Gesetz wollte die Große Koalition in der zurückliegenden Wahlperiode der politischen Beteiligung im Land neues Leben einhauchen. Außerdem sollten Staat, Amtsträger und Öffentlichkeit besser vor Terrorismus und anderen demokratiefeindlichen Bestrebungen geschützt sein. Die Regierung sprach oft und gerne über dieses Vorhaben. Am Ende der Legislatur folgte dann aber die große Enttäuschung: Das Gesetz platze; die Regierung legte keinen entsprechenden Entwurf vor. Man schob sich gegenseitig die Schuld am Scheitern der Initiative zu. Die angebliche Herzensangelegenheit der Großen Koalition war Geschichte.

Trotzdem zog sich die Verteidigung der Demokratie wie ein roter Faden durch viele Gesetzesvorlagen und Bundestagsdebatten der vergangenen vier Jahre. In keiner anderen Wahlperiode stritten die Abgeordneten so häufig über den Schutz der demokratischen Ordnung wie in der zurückliegenden. Sie hatten allen Grund dazu: Terroristische Anschläge kosteten vielen Menschen das Leben. Die Angriffe wurden meist von Rechtsradikalen begangen. Die Lage bei Demonstrationen lief regelmäßig aus dem Ruder. Mit den sogenannten Coronademos erreichte die Gewalt auf den Straßen allerdings eine neue Eskalationsstufe. Währenddessen lud die Wahlbeteiligung bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen weiterhin nicht zu Freudenstürmen ein.

Besonders die niedrige Wahlbeteiligung ist ein verlässlicher Indikator dafür, dass sich viele Menschen von der Politik nicht mehr vertreten fühlen. Es ist daher sinnvoll, über die Stärkung demokratischer Teilhabe zu diskutieren. Zwischen Reden und Handeln liegen manchmal jedoch Welten. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich an der grundsätzlichen Frustration nichts ändert, wenn die Damen und Herren im Bundestag lieber über die Sitzordnung im Plenarsaal diskutieren und das dann medienwirksam als besonders demokratieförderlich verkauft wird.

Groteskes Schauspiel

Allen Beschwörungen der Abgeordneten zum Trotz machen solche Debatten die Demokratie eben nicht krisensicherer und attraktiver. Es scheint eher so, als wäre die politische Realität der Abgeordneten und die der Wählerinnen und Wähler nicht mehr deckungsgleich. Die einen feiern den derzeitigen Parlamentsbetrieb als großen Gewinn für die Demokratie. Die anderen gehen verzweifelt auf die Straße und müssen sich dafür als Querdenker und Schwurbler beschimpfen lassen.

Jüngstes Beispiel für diese Divergenz zwischen Parlamentarismus und erlebter Demokratie ist die Kanzlerwahl von Olaf Scholz. Zweifellos ist die SPD am 26. September stärkste politische Kraft des Landes geworden. Anders als viele seiner Amtsvorgänger hat es Scholz aber nicht mit um die 40 Prozent ins Kanzleramt geschafft. Seine Wahl auf den Kanzlerstuhl war bestimmt ein großer Erfolg für seine Partei, die vor einigen Monaten noch völlig zerstört am Boden lag. Die Jubelstürme im Bundestag, die auf seine Wahl folgten, säen jedoch Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit einiger Abgeordneter. Erstens war seine Wahl keine Überraschung und zweitens sieht Demut vor dem Wählerwillen angesichts des mickrigen Wahlergebnisses beider ehemaliger Volksparteien sicher anders aus.

Politik exklusiv

Der langanhaltende Applaus für den neuen Bundeskanzler mitsamt den Jubelrufen hatte eher was von einer Selbstbeweihräucherung des Parlaments und erinnerte wenig an eine für die Bundesrepublik weitreichende Entscheidung. In Zügen erinnerte dieses Verhalten an die Debatte um die Ehe für Alle im Juni 2017. Das von SPD, Linken und Grüne eingebrachte Gesetz wurde mehrheitlich angenommen und sendete ein wichtiges Signal an die Gesellschaft. Auch diese begrüßenswerte Entscheidung führten einige Abgeordnete durch Konfettiregen völlig ad absurdum. Sie zeigten dadurch, dass es ihnen nicht um die Sache ging, sondern vorrangig darum, sich als Fraktion zu behaupten.

Der einst starke Draht zum Volk wird durch solche Schauspiele immer dünner und erinnert inzwischen eher an einen seidenen Faden. Für manche Menschen ist er bereits gerissen. Sie haben sich womöglich für immer abgewendet und wählen extrem oder gar nicht. Sie haben kein Verständnis mehr für den Politikbetrieb, weil zu viele Entscheidungen gegen sie getroffen wurden oder weil sie von wichtigen Beschlüssen ganz ausgeschlossen sind. Denn nicht nur die Gesetzesvorlagen entstehen hinter verschlossenen Türen, wo besonders finanzstarke Lobbys sinnvolle Maßnahmen verwässern und nach Belieben abmildern können. Auch die Vergabe wichtiger Posten können viele Menschen nicht mehr nachvollziehen.

Sie sehen stattdessen, dass immer häufiger solche Personen in hohe Ämter gehoben werden, wenn sie besonders viel Dreck am Stecken haben. Die Wahl Ursula von der Leyens (CDU) zur EU-Kommissionspräsidenten ist ein bis heute nicht gelöstes Mysterium. Zu keinem Zeitpunkt im Wahlkampf stand ihr Name zur Debatte. Dann kam die Berateraffäre und -schwupps- war sie durch die Versetzung nach Brüssel aus dem Schussfeuer.

Who the fuck?

Das ganze ist inzwischen über zwei Jahre her. Andere fragwürdige Personalentscheidungen sind deutlich jünger. Mit Franziska Giffey (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) schafften es zwei Damen, bei denen sich die Plagiatsvorwürfe in kurzer Zeit verhärtet hatten, auf einflussreiche Posten in der Republik. Offenbar sah das selbst Olaf Scholz kritisch und machte seine einstige Kontrahentin Baerbock lieber nicht zur Vizekanzlerin. Währenddessen stehen auch gegen unseren neuen Kanzler schwerwiegende Vorwürfe in Zusammenhang mit den Cum-Ex- und den Wirecard-Skandalen im Raum.

Und auch wenn manche Amtsträger nicht so viel auf dem Kerbholz haben wie Scholz, Baerbock & Co., irritiert ihre plötzliche Bedeutung im Land. Kevin Kühnert machte in den letzten Jahren öfter als rebellischer Juso-Chef von sich reden. Nun hat er den Sprung in den Bundestag geschafft. Dort musste er sich aber gar nicht großartig etablieren: Sogleich trat er die Nachfolge von Lars Klingbeil als Generalsekretär seiner Partei an. Auch die Grünen entschieden sich dafür, der erfahrenen neuen Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann mit Katharina Dröge eine unbekannte Hinterbänklerin zur Seite zu stellen.

Tiefe Gräben und hohe Mauern

Viele dieser Posten wurden in korrekten demokratischen Verfahren vergeben. Die Grünen haben sich bewusst für eine Doppelspitze entschieden. Die Mehrheit der SPD wollte Kevin Kühnert als Generalsekretär. Auch Olaf Scholz war den meisten Wählerinnen und Wählern im Vergleich zu Annalena Baerbock und Armin Laschet am liebsten. Er ist aber trotzdem nicht der Kanzler der Herzen. Seine Beliebtheitswerte sind viel eher ein Zeichen von gefühlter Alternativlosigkeit und Resignation.

Immer mehr Menschen verlieren die Lust daran, politisch zu diskutieren und sich einzubringen. Sie spüren, dass sie mit ihrer Meinung oft auf Mauern des Unverständnisses prallen. Die Abgeordneten liefern sich hingegen kontroverse Rededuelle, die zunächst nicht den Eindruck erwecken, das Land sei politisch gelähmt. Die eindruckvollsten Debatten werden jedoch zu Themen geführt, die mitunter nur Minderheiten betreffen oder am Interesse vieler Menschen vorbeigehen. Als besonders progressiv verkauft die Regierung neuerdings die Einigungen im Bezug auf die Legalisierung von Cannabis, die Absenkung des Wahlalters oder eine bessere geschlechtergerechte Inklusion.

All diese Themen sind herzensgut gemeint, verhindern aber nicht, dass Kinder im Land arm sind oder Rentnerinnen und Rentner in Heerscharen auf Pfandflaschenjagd gehen müssen. Auch die neue Regierung hat wohl nicht begriffen, dass man das Dach erst bauen kann, wenn man zuvor für ein starkes Fundament gesorgt hat. Trotzdem sind diese woken Themen häufig koalitionsentscheidend. Wichtige andere Fragen wie die Einführung einer Bürgerversicherung werden dem unbedingten Regierungswunsch bereitwillig geopfert. Dabei haben sich zwei der drei Koalitionäre im Wahlkampf für genau dieses Anliegen starkgemacht.

Kein Zuspruch ohne Widerspruch

Randthemen erfahren bei diesem Politikstil immer öfter eine Dimension, gegen die schier nicht anzukommen ist. Garniert wird das ganze mit einer großzügigen Portion Moral, bei der sich jeder Gegenredner automatisch ins Aus manövriert. Wer Zweifel daran äußert, dass die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vernünftig ist oder wer die Freigabe von Cannabis kritisch sieht, gilt als rückwärtsgewandt und nicht zeitgemäß. Was zeitgemäß ist, bestimmt aber immer die Mehrheit. Das kann nicht funktionieren, wenn ein gewichtiger Teil der Gesellschaft konsequent ausgeblendet wird. Viele passen sich den Veränderungen an, eben weil sie ihr Leben meist nicht direkt betreffen und sie sich damit arrangieren können. Vertrauen schafft ein solcher Umgang aber nicht.

Das konsequente Abwürgen von Widerspruch führt in der Folge immer auch zur Abnahme des Zuspruchs. Wer immer wieder erlebt, dass sein Wort in der Gesellschaft überhört und nicht beachtet wird, der wendet sich irgendwann ganz ab. Wir müssen in unserem Land dringend wieder lauter über Themen sprechen, welche die breite Mehrheit betreffen. Sozialere Arbeitsverhältnisse, die Überwindung der Zwei-Klassen – Medizin und bezahlbarer Wohnraum für alle eint uns deutlich mehr als die endlosen Debatten über Gendersternchen, alternative Lebensformen und Sitzordnungen.


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