Neue Wege statt roter Socken

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Die fragwürdige Ansprache von Angela Merkel bei ihrer wohl letzten Rede als Bundeskanzlerin löste ein kleines Medienbeben aus. Viele Berichterstattungen überschlugen sich nahezu bei ihrer Kritik an der Noch-Regierungschefin. Dabei waren die Äußerungen Merkels wirklich keine Überraschung. Ein Regierungsbündnis mit den Linken scheint ohnehin nicht die wahrscheinlichste Option. Was sich allerdings abzeichnet, sind schwierige Koalitionsverhandlungen. Olaf Scholz und seine SPD könnten aus der Lage aber auch gestärkt hervorgehen. Alles, was es dazu braucht, sind Diplomatie und eine deftige Prise an politischem Wagemut.

Kleine Worte mit großer Wirkung

Vergangene Woche hielt Angela Merkel ihre vermutlich letzte Regierungserklärung als Bundeskanzlerin. Eigentlich sollte es bereits vor zwei Monaten soweit gewesen sein, doch die verschärfte Lage in Afghanistan zwang den Bundestag dazu, vor der Bundestagswahl zu weiteren Sitzungen zusammenzukommen. Die scheidende Bundeskanzlerin nutzte ihre wirklich-wirklich letzte Rede im Bundestag auch dazu, einen Ausblick in die Zukunft zu wagen. Sie wies auf die richtungsweisende Wirkung der anstehenden Bundestagswahl hin. Sie erklärte sinngemäß, dass sich die Wählerinnen und Wähler zwischen einer soliden bürgerlichen Regierung oder einer von den Linken tolerierten Regierung jenseits der Union entscheiden könnten.

Merkels Ausführungen sorgten für laute Zwischenrufe und Empörung. Besonders die linke Seite des Parlaments wollte sich diese Einmischung in den Wahlkampf nicht gefallen lassen. Sie warfen der Kanzlerin vor, die roten Socken aus der untersten Schublade der CDU-Wahlkampftricks herauszukramen. Die rechte Seite des Bundestags teilt diese Einschätzung naturgemäß nicht. Für sie kam es eher überraschend, dass sich Angela Merkel so offen gegen eine linke Regierung sträubte. Immerhin habe die Kanzlerin die CDU in den vergangenen Jahren derart entkernt, dass zwischen ihr und der SPD kaum noch Unterschiede deutlich wären.

Konkret war oft die Rede davon, Angela Merkel hätte ihre Partei sozialdemokratisiert. Das ist natürlich völliger Unsinn. Mit ihrem Fetisch für Große Koalitionen hat sie ihrer Partei zwar das nötige Profil geraubt, für sozialdemokratische Politik zeichnet die Kanzlerin aber wahrlich nicht verantwortlich. Immerhin ist die Anzahl an prekären Arbeitsverhältnissen und befristeten Stellen in ihrer Regierungszeit signifikant gestiegen. Die desaströse Rentenpolitik hat eine Grundrente nötig gemacht – und selbst die wurde erst nach zähem Kampf mit der Union beschlossen.

Ein alter Hut

Der Noch-Kanzlerin Anbiederei bei der politischen Linken zu unterstellen, ist also völlig absurd. Nur weil Angela Merkel nicht alle feuchten Träume von Erzkonservativen aus CSU und AfD erfüllt, macht sie noch lange keine linke Politik. Darum ist es auch so unverständlich, warum gerade SPD und Linke ein so großes Problem mit Merkels Erklärung vom 7. September haben.

Es ist doch wirklich keine Überraschung, dass Angela Merkel keinen Wahlkampf für die SPD macht. Natürlich möchte sie, dass ihre eigene Partei das Zepter in der Hand behält und selbstverständlich weiß sie, dass Regierungskoalitionen ohne die Union nicht mehr undenkbar sind. Und außerdem hat sich Merkel noch nie mit einer nennenswerten Nähe zur Linken hervorgetan. Bereits 1999 schloss sie bei Maybritt Illner eine Zusammenarbeit mit der PDS praktisch für alle Zeiten aus. Auch einige Wochen vor der Bundestagswahl 2005 wehrte sie sich entschieden gegen die Möglichkeit, die Linkspartei könne an der nächsten Regierung beteiligt sein. Merkels Rede mag ein Rückfall in die Ära der roten Socken gewesen sein. Ein politischer Skandal, wie er nun von vielen herbeigeredet wird, waren ihre Worte jedenfalls nicht.

Jenseits von Rot-Grün-Rot

Es ist tatsächlich möglich, dass Die Linke an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein wird. In Umfragen gibt es dazu immer wieder die entsprechenden Mehrheiten. Eine rot-grün-rote Koalition würde aber sicher nicht an den mahnenden Worten der Noch-Kanzlerin scheitern. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sich die Akteure in diesem Dreierbündnis in einigen Punkten nicht einig werden und mögliche Sondierungsgespräche ein ähnlich trauriges Schicksal ereilt wie einst die Verhandlungen über Jamaika.

Schon heute zeichnet sich ab, dass eine rechnerische linke Mehrheit im Zweifelsfall nicht genutzt werden würde. Besonders SPD und Grüne haben in den vergangenen Monaten immer anderen Parteien Avancen gemacht. Lange Zeit galt eine schwarz-grüne Koalition als am wahrscheinlichsten. Dann kam Armin Laschet und ließ dieses Szenario wieder in weitere Ferne rücken. Auch die Grünen blinkten lange Zeit fleißig in Richtung CDU. Als jedoch auch deren Umfragewerte mit Annalena Baerbock in den Keller rauschten, war erst mal Schluss mit solchen Träumereien.

Munteres Farbenspiel

Bei Olaf Scholz spukt bis heute der Verdacht, er habe es auf eine Ampelkoalition mit Grünen und FDP abgesehen. Ob sich Christian Lindners FDP allerdings tatsächlich auf eine Koalition mit gleich zwei traditionell eher linken Parteien einlässt, bleibt abzuwarten. Die Umfragewerte der Liberalen deuten zumindest nicht darauf hin, dass es demnächst zu einem Wechsel an der Parteispitze kommen wird.

Und selbst wenn es zu Sondierungsgesprächen zwischen SPD, Grünen und Linken käme – scheitern würden solche Verhandlungen zweifellos am ehesten an den außen- und verteidigungspolitischen Vorstellungen. Der große Knackpunkt ist und bleibt die NATO. Den Linken wird nicht ohne weiteres ein Bekenntnis zu diesem Bündnis zu entlocken sein. Mit SPD und Grünen muss sich die Partei außerdem darauf einstellen, früher oder später die Entscheidung treffen zu müssen, ob sie sich entgegen ihrem Grundsatzprogramm für Auslandseinsätze der Bundeswehr ausspricht.

Ein schwieriger Spagat

Im Angesicht gravierender innenpolitischer Probleme wirken solche Fragen fast nebensächlich – in jedem Falle aber kontraproduktiv. Denn in zentralen sozial- und finanzpolitischen Angelegenheiten sind sich die drei Parteien weitgehend einig. Im wesentlichen stehen sowohl SPD, Linke und auch die Grünen für ein höheres Rentenniveau und eine Rückkehr zu einem funktionierenden Solidarstaat. Sie stehen für bessere Arbeitsbedingungen und ein gerechteres Steuersystem. Solche Punkte betreffen die Menschen im Land stärker als fehlende Treueschwüre gegenüber der NATO.

Deswegen wäre es fatal, wenn eine solche Mehrheit im nächsten Bundestag nicht genutzt werden würde. Mit Union und FDP lassen sich solch bedeutende Veränderungen nämlich nicht herbeiführen. Mit ihnen lassen sich bestenfalls Träumereien von Zwei-Prozent – Zielen realisieren. Warum also nicht beide Mehrheiten nutzen, wenn Rot-Grün-Rot an dieser Frage scheitern würde?

Demokratischer Gewinn

In einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Tolerierung der Linken ließe sich vieles im Land verbessern. Man würde wieder mehr in Bildung, Schulen und Kitas investieren. Der Mindestlohn würde deutlich steigen. Die Ostrenten könnten auf ein angemessenes Niveau angehoben werden. Und vielleicht kann Rot-Grün auch in einem Zweckbündnis mit Union und FDP ihre Vorstellungen von geringeren Wehrausgaben umsetzen.

Viele Parteien könnten von dieser Konstellation profitieren. Die Union hätte ihre wohlverdiente Pause in der Opposition, die FDP könnte sich naturgemäß wichtigmachen. Die Linken könnten ihre herbeigesehnten sozialen Verbesserungen endlich durchsetzen, ohne die eigenen Werte zu verraten. SPD und Grüne könnten sich glücklich schätzen, endlich wieder eine Bundesregierung zu stellen.

In erster Linie würde aber wieder Leben in die Bude kommen. Die Minderheitsregierung setzt voraus, dass man für Mehrheiten wieder kämpfen müsste. Auf diese Weise kann der politische Wettbewerb wieder angekurbelt werden. Der Sturz des SPD-Kanzlers durch ein konstruktives Misstrauensvotum wäre eher unwahrscheinlich, weil Union und FDP dazu mit der Linken zusammenarbeiten müssten. Auch die rot-grüne Minderheitsregierung wäre ein lebendiger Kompromiss. Es wäre aber ein Kompromiss, mit der den meisten Interessen im Volk gedient wäre.

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Die Partei der Sitzenbleiber

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Was für viele Filme gilt, gilt auch für die Politik: Eine Fortsetzung macht alles nur noch schlimmer. Ungeachtet dieser banalen Weisheit hat die CDU in Thüringen vor kurzem die angesetzten Neuwahlen im September platzen lassen. Die AfD veranstaltete daraufhin ein Misstrauensvotum; die CDU verweigerte sich ein weiteres Mal ihrer Verantwortung. Die ehemalige Volkspartei möchte sich gerne als die große politische Kraft gerieren, die dem bösen rot-rot-grünen Lager wie der Bedrohung von rechts gleichermaßen strotzt. Die CDU verkennt dabei, dass die Karten längst neu gemischt sind und sie in Thüringen immer bedeutungsloser wird.

Ein unerledigtes Geschäft

Eigentlich war die Sache geritzt: Parallel zur Bundestagwahl im September sollten auch die Wählerinnen und Wähler in Thüringen einen neuen Landtag wählen. Schon der 26. September als Termin für die Landtagswahl war aufgeschoben. Ursprünglich war die Wahl für Anfang des Jahres vorgesehen. Corona machte der Politik einen Strich durch die Rechnung. Auch die Pläne für den Herbst wurden durchkreuzt – dieses Mal von der CDU.

Entgegen der Vereinbarung mit der amtierenden Regierung wollten vier Abgeordnete aus den Reihen der CDU plötzlich nichts mehr von einer Neuwahl wissen. Die im Frühjahr 2020 geschlossene Waffenruhe mit Rot-Rot-Grün sollte ohne demokratische Legitimation auslaufen. Dabei war es der CDU zu verdanken, dass Bodo Ramelows Koalition ohne Parlamentsmehrheit weiterregieren konnte.

Keine Neuwahl mit der CDU

Die CDU hatte sich diesen Schritt seinerzeit nicht leichtgemacht. Auch alle anderen politischen Akteure und nicht zuletzt die thüringische Bevölkerung hatte unter der Aufschiebe- und Verdrängungspraxis der einstigen Volkspartei zu leiden. Immerhin war es maßgeblich der CDU zu verdanken, dass die AfD den FDP-Mann Thomas Kemmerich für einige Stunden zum Ministerpräsidenten erhob. Der massive Widerstand dagegen ließ der CDU schließlich keine andere Wahl: Sie erklärte sich zähneknirschend bereit dazu, eine Regierung unter Bodo Ramelow zu tolerieren.

Die CDU verstieß damit gegen einen ihrer eisernsten Grundsätze: Keine Zusammenarbeit mit den Linken! Die Toleranz von vier Abgeordneten war dann kürzlich auch aufgebraucht: Sie erklärten, dass sie einer vorzeitigen Neuwahl nicht zustimmen würden. Die erforderliche Mehrheit für den Beschluss war in Gefahr. Die Linken wollten sich nicht auf die FDP verlassen und bliesen das ganze kurzerhand ab.

Von dieser parlamentarischen Handlungsunfähigkeit profitierte letztlich nur einer: Bernd Höcke und seine AfD. Sogleich initiierte er ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Ramelow. Als Nachfolger sah er sich selbst vor. Er zwang damit besonders die CDU, endlich Farbe zu bekennen. Hasst sie die Linken mehr oder die AfD?

Weniger als Enthaltung

Das Schmierentheater der AfD war genau so vorhersehbar wie die gecrashte Ministerpräsidentenwahl knapp anderthalb Jahre zuvor. Erneut gelang es den Rechtsextremen, die CDU vor sich herzutreiben. Wieder konnte jeder sehen, in welch desolatem Zustand sich das Erfurter Parlament befand.

Die AfD konnte aus der ganzen Misere nur als Sieger hervorgehen. Ihr Ziel, mindestens eine demokratische Partei zu schwächen, hätte sie in jedem erdenklichen Szenario erreicht. Die CDU hätte gegen Höcke und damit für Ramelow stimmen können. Das hätte an der Ehre dieser Partei gekratzt und viele konservative Wähler möglicherweise zur AfD getrieben. Für Höcke zu votieren, hatte die CDU vorab klipp und klar abgelehnt. Also tat die CDU das für sie logischste: Sie blieb während der Abstimmung sitzen und nahm überhaupt nicht an der Wahl teil. Das ist weniger als eine Enthaltung. Es ist eine Verweigerung. Letzten Endes bestätigten sie damit Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten. Insgeheim bildet sich die Partei ein, damit nicht mit den Linken paktiert zu haben. Irgendwie stimmt das auch – sie haben nämlich auch sehenden Auges der AfD in die Hände gespielt.

Brandmauer nach links

Die Frage, die sich nach dem konstruktiven Misstrauensvotum vom 23. Juli stellt, liegt auf der Hand: Wie wird sich die CDU bei künftigen Abstimmungen verhalten? Im Kosmos dieser Partei hat die Linke keine vernünftigen Konzepte, eine Zusammenarbeit kommt nicht in Frage. Andererseits lobpreist die Partei ihre Brandmauer nach rechts, durch die es bisher stets gelungen ist, die AfD kleinzuhalten.

In den vergangenen Jahren glänze die CDU nicht gerade durch eine bemerkenswerte Nähe zum rot-rot-grünen Lager. Man hat besonders nach den jüngsten Ereignissen und Erklärungen den Eindruck, die Trennlinie nach links ist deutlich breiter als die Abgrenzung nach rechts.

Hat die CDU allen Ernstes vor, weiterhin das bockige Kleinkind zu spielen und bei Abstimmungen demonstrativ sitzenzubleiben? Werden die Abgeordneten nicht einmal mehr die Hand heben, wenn es zu gewöhnlichen parlamentarischen Abstimmungen kommt? Wollen sie die politische Handlungsfähigkeit Thüringens weiter lähmen? Was soll das sein? Die Rache am Wähler, dass er Linke und AfD mehr liebhat als die alte CDU?

Politisch bedeutungslos

Die CDU in Thüringen steht zwischenzeitlich besonders für eines: ein zerstrittenes und nicht mehr handlungsfähiges Parlament. Mit ihrem Boykott der Neuwahlen im Herbst hat die Partei erneut bewiesen, dass es ihr nicht um den Freistaat Thüringen geht. Es geht ihr auch nicht um die Würde des Erfurter Landtags. Es geht der CDU ausschließlich darum rechtzuhaben. Sie will die Wortführerin in einer politischen Landschaft spielen, die der Wähler längst umgebaut hat.

Der Schaden für die Demokratie ist enorm. Während die CDU demokratische Absprachen unterwandert und durch Nichtstun glänzt, zwängt sie der AfD die Rolle des Machers förmlich auf. Es ist ausschließlich auf die Verweigerungshaltung der CDU zurückzuführen, dass die AfD sich mit ihrem Misstrauensvotum profilieren konnte.

Echte Oppositionsarbeit ist von der CDU nicht mehr zu erwarten. Diese Rolle hat sie der AfD überlassen. Die AfD allein gibt nun den kritischen Ton in Thüringen an. Die AfD allein ist nun Opposition im Erfurter Landtag. Die AfD allein ist Gegner von Rot-Rot-Grün. Es ist fatal, all diese Aufgaben allein der AfD zu überlassen. Außer destruktiver Manöver ist von dieser Gruppierung nichts zu erwarten. Die CDU muss dringend wieder damit anfangen, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen. Viel zu lange hat sie diese Aufgabe in Thüringen schleifen lassen. Denn niemand wählt eine Partei der Sitzenbleiber.


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Racheakt im Bundestag – Rot-Rot-Grün stimmt FÜR AfD-Kandidaten

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Das politische Beben nach dem Eklat in Thüringen hält weiter an. Längst hat es auch die Bundesebene erreicht. Abgeordnete von SPD, Linke und Grüne haben sich nun zusammengetan, um der AfD eins auszuwischen. Sie setzten darauf, es den Rechtspopulisten mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Am 5. Februar dieses Jahres kam es im Thüringer Landtag zum politischen Showdown. Der amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) musste seinen Platz für den FDP-Mann Thomas Kemmerich räumen. Dabei hatten die Liberalen den Einzug in das Landesparlament nur um Haaresbreite geschafft. Der Skandal: Kemmerich wurde maßgeblich mit Stimmen aus der AfD-Fraktion ins Amt gewählt. Es folgte ein politisches Beben, das rasch auch die Bundesebene ergriff. Im Nachgang sanken die Umfragewerte für CDU und FDP nicht nur in Thüringen. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer trat schließlich zurück.

Im zweiten Wahlgang zur Mehrheit

Der Politkrimi von Erfurt war sicherlich kein Meisterstück der AfD. Auch der Begriff „Intrige“ verbietet sich bei einer solch offensichtlichen Scharade. Führende Politiker der anderen Parteien machten darauf aufmerksam, dass ein solches Szenario die logische Konsequenz aus der Kandidatur Kemmerichs war. Sie zeigten sich fassungslos darüber, dass dieser die Wahl überhaupt angenommen hatte. Von Paktieren mit Rechtsextremen und einem politischen Tabubruch war die Rede.

Etwas ähnliches wiederholte sich nun während der letzten Sitzung des Deutschen Bundestags. Routinemäßig stellte die AfD-Fraktion einen der ihrigen erneut zur Wahl für das Amt des Parlamentsvizepräsidenten. Der sächsische Abgeordnete Karsten Hilse sah sich bereits zum zweiten Mal dem Urteil der Bundestagskollegen gegenüber – im ersten Wahlgang war er bereits wie seine glücklosen Vorgänger krachend gescheitert. Die Überraschung folgte, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Ergebnis verlas. Insgesamt hatten 352 Abgeordnete für den AfD-Kandidaten gestimmt. Es gab 298 Nein-Stimmen und 37 Enthaltungen.

Eine mathematische Gewissheit

Der Fall ist klar: Verteilt man die 687 abgegebenen Stimmen der anwesenden Parlamentarier auf die Fraktionen, so lässt sich leicht ausrechnen, wer den AfD-Kandidaten ins Amt gehoben hat. Abzüglich der abgegebenen AfD-Stimmen deckt sich die Zahl der übrigen Ja-Stimmen mit der Zahl an anwesenden Abgeordneten aus den Reihen von SPD, Linken und Grünen. Auch wenn einzelne AfD-Abgeordnete diesen Umstand weiterhin dementieren, lässt sich diese Offensichtlichkeit nicht von der Hand weisen.

Die rot-rot-grünen Abgeordneten hatten anscheinend gehofft, Hilse würde die Wahl nicht annehmen können, wenn er so offensichtlich vom ärgsten politischen Gegner der AfD gewählt würde. Doch wie bereits im Fall Kemmerich hatten die Abgeordneten die Rechnung ohne den Ehrgeiz des designierten Kandidaten gemacht. Denn Hilse nahm die Wahl unverblümt an.

Die daraufhin entstehenden Tumulte veranlassten Parlamentspräsident Schäuble dazu, die Sitzung zu unterbrechen. Bereits unmittelbar nach Hilses Erklärung, die Wahl anzunehmen, verließen einige seiner Fraktionskollegen demonstrativ den Saal. Die pfälzische AfD-Abgeordnete Nicole Höchst ließ sich in ihrer grenzenlosen Rage sogar dazu hinreißen, den Tisch direkt vor ihr in seine Einzelteile zu zerlegen.

Himmelweite politische Unterschiede

Einige AfD-Kollegen zeigten sich zwar verunsichert, aber weniger irritiert. Vereinzelt schüttelten sie dem frischgewählten Vizepräsidenten die Hand. Auch die Fraktionsvorsitzenden Weidel und Gauland vermieden überstürzte Reaktionen und gratulierten Hilse. Empörung über die Wahl gab es auch in den anderen Fraktionen des Hauses. FDP-Chef Lindner beispielsweise trat in der Beglückwünschungsrunde zwar an Hilse heran, warf ihm dann allerdings kommentarlos den Blumenstrauß vor die Füße.

Später rechtfertigte er seine schroffe Handlung und betonte, dass er kein Verständnis dafür habe, sich von solchen Menschen ernsthaft wählen zu lassen. Er verwies auf die himmelweiten politischen Unterschiede zwischen AfD und FDP einerseits und dem rot-rot-grünen Lager andererseits.

Während der Unterbrechung der Sitzung konnte einigen Abgeordneten ein Statement zur Wahl Hilses entlockt werden. Von der AfD gab es hingegen zunächst kaum eine direkte Stellungnahme. Die meisten Abgeordneten der Fraktion wollten keine vorschnellen Kommentare abgeben, sondern lieber die von Fraktionschef Gauland bereits einberufene Sonderfraktionssitzung abwarten. Dort solle das weitere Vorgehen besprochen werden.

Nicht mit den Altparteien

Außerhalb der Bundestagsfraktion zeigte man sich weniger zurückhaltend. Verschiedene Landes- und Kommunalpolitiker der AfD drückten ihren Unmut über den Vorgang in Berlin aus. Auf Twitter verwiesen mehrere Politiker auf den Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei, der eine Zusammenarbeit mit SPD, Linken und Grünen kategorisch ausschließe. Vereinzelt wurde sogar die Forderung nach einem Parteiausschlussverfahren gegen Hilse laut. Nach Ansicht einer Gruppe von AfD-Landtagsabgeordneten aus Sachsen sei Hilses Vorgehen nicht mit den Grundwerten der Partei vereinbar.

Viele AfDler stellen nun auch die Führungskompetenzen der beiden Fraktionschefs Weidel und Gauland offen in Frage. Weidel kommentierte die immense Kritik vorerst nicht. Einige Mitarbeiter des Bundestags beobachteten sie dabei, wie sie sich nach ersten kritischen Fragen von Journalisten mit einer Leberwurst in der Hand in ihr Büro zurückzog und dort einschloss. Ihr Kollege Alexander Gauland gab sich betont offensiv. Er kündigte knapp an, dass er sich auf einem Sonderparteitag in wenigen Wochen der Vertrauensfrage der Delegierten stellen würde.

Der neue Bundestagsvizepräsident Hilse kündigte bereits in der Sitzungsunterbrechung an, dass er sein Amt nicht antreten werde. Er gestand Fehler im Umgang mit dem politischen Gegner ein und distanzierte sich von seiner Entscheidung, die Wahl anzunehmen. Man werde es nicht zulassen, dass Rot-Rot-Grün einen Keil zwischen die Abgeordneten der AfD treiben würde.

Die AfD-Bundestagsfraktion stellt somit auch in Zukunft keinen Vizepräsidenten. Erneut wurde betont, dass eine Kooperation mit den sogenannten Altparteien weiterhin ausgeschlossen sei. Enthaltungen seien willkommen, aktive Ja-Stimmen allerdings würden als unzulässige Zusammenarbeit gewertet werden. Immerhin müsse auf die Befindlichkeiten der AfD als stärkste demokratisch gewählte Oppositionspartei eingegangen werden.

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