Was wir 2020 gelernt haben…

Vorschaubild: stux, pixaby, bearbeitet von Sven Rottner.

Lesezeit: 11 Minuten

2020 – was für ein Jahr! Viele werden dem Jahreswechsel hoffnungsvoll entgegenblicken. Grund dazu haben sie genug. Die Pandemie bestimmt schließlich weiterhin unseren Alltag. Das Jahr 2020 hat uns allen enorm viel abverlangt. Trotzdem konnten wir einiges von diesem beknackten Jahr lernen. Die zehn wichtigsten Erkenntnisgewinne sind hier zusammengefasst.

Den Artikel zum Wort „Virus“

Nachdem das Genus dieses Wortes besonders im Frühjahr noch für reichlich Irritationen sorgte, stand spätestens nach den ersten 10.000 Coronafällen offiziell fest: Es heißt DAS Virus. Obwohl viele in den ersten Monaten des Jahres krampfhaft versuchten, den männlichen Artikel für das Wort durchzudrücken, mussten sie gegenüber einer breiten Front von Sprachwissenschaftlern und Virologen klein beigeben. Diese bestimmten nämlich auf alle Ewigkeit: Virus ist Neutrum. Einzige Ausnahme gilt in Baden-Württemberg: Die Menschen von dort dürfen weiterhin ungestraft „der“ Virus sagen. Gegen die jahrhundertelange Tradition der artifiziellen Maskulinisierung von Substantiven kamen selbst die Gelehrten nicht an. Immerhin heißt es in dem südwestdeutschen Bundesland bis heute auch der Butter und der Klo.

Abstandsstriche ersetzen kostspielige IQ-Tests

In Zeiten der Pandemie ist eines ganz wichtig: Abstand voneinander halten. In einer überbevölkerten Welt, die immer enger zusammenwächst, fällt das vielen allerdings nicht leicht. Der Einzelhandel hat sich deswegen etwas ganz besonders gewieftes ausgedacht. Nach etlichen Stunden in den Laboren und nach so manchem rauchenden Kopf konnte die Branche stolz ihre Erfindung präsentieren. Mithilfe sogenannter Abstandsstriche sollte vor allem im Kassenbereich gewährleistet werden, dass die Menschen Abstand zueinander hielten. Es handelte sich dabei um speziell angefertigte Klebestreifen in leuchtenden Signalfarben, die die Menschen auf das Abstandsgebot aufmerksam machten.

Den erhofften Erfolg brachte die geniale Maßnahme leider nicht. Trotzdem stellte sich schon nach kurzer Zeit heraus, dass die Striche noch einen ganz anderen Effekt hatten. So ließen sie ohne viel technischen Schnickschnack für jedermann und jedefrau die Intelligenz der Kundinnen und Kunden erkennen. Ruben V., Filialleiter eines REWE-Marktes in Gütersloh bedauerte: „Es war für uns ein harter Schlag, dass fast zwei Drittel unserer Kundschaft einen Intelligenzquotienten von unter 40 haben. Das ist dümmer als Donald Trump.“

Da nicht in jeder Lebenslage ein Abstandsstrich zur Hand ist, gibt es eine noch alltäglichere Methode, um den IQ seiner Mitmenschen zu ermitteln. Die Art und Weise, wie die Maske getragen wird, spiegelt die Intelligenz des Tragenden sogar noch zuverlässiger wider als die farbigen Linien in den Supermärkten. Sollte jemand mit seiner Mund-Nasen – Bedeckung nur den Mund bedecken, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dieser bemitleidenswerte Zeitgenosse nicht weiß, was eine Nase ist. Dies ist Indikator dafür, dass der IQ nicht höher als 10 liegt.

Es gibt in Deutschland Heerscharen an renommierten Wissenschaftlern.

Als sich die pandemische Lage auf der Welt zuspitzte, da hatte ihre Stunde geschlagen: Die Wissenschaft ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und war in aller Munde. Nachdem sich die Menschen gerade in Deutschland ihre Fakten jahrelang zurechtbogen, wie es ihnen passte, hielt nun die faktenbasierte Recherche wieder Einzug. In schier obsessiver Leidenschaft haute so mancher Mitbürger eine wissenschaftlich fundierte Aussage nach der anderen raus. Mancheiner fand sogar den Mut, sich nach jahrelangem Versteckspiel als Wissenschaftler zu outen. Im April hatten wir dazu bereits den 76-jährigen Hermann S. befragt, der schon im Frühjahr einen eindeutigen Standpunkt hatte: „Dieses neuartige Virus ist nicht einmal so gefährlich wie eine Grippe. Studien haben ergeben, dass im Straßenverkehr dreimal so viele Menschen in Autounfällen sterben wie an Corona.“

S. war früher Schaffner bei der Bundesbahn, betrieb aber heimlich ein eigenes Forschungszentrum im Keller, von dem weder seine Frau noch seine drei Kinder wussten. Auf seine Forschungen blickt er mit Stolz zurück: „Jahrzehntelang war es verpönt, empirische Studien zu betreiben. Hinter allem vermuteten die Menschen wirtschaftliche Interessen. Ich bin stolz darauf, meinen kleinen Beitrag zum Wiederaufleben der Gesundheitsforschung zu leisten. Das ist das einzige noch nicht korrumpierte Forschungsfeld, denn immerhin forschen die Labore fast ausschließlich nach einem Impfstoff, der für alle von Nutzen sein wird. Dahinter kann einfach kein Profitinteresse stehen.“

Die richte Aussprache des Worts „Quarantäne“

In Zusammenhang mit der Pandemie ist noch ein weiterer linguistischer Meilenstein gelegt worden. Ähnlich wie bei dem Genus des Wortes „Virus“ ist seit diesem Jahr für alle Zeiten klar, wie die medizinisch verordnete Isolation richtig ausgesprochen wird: Es heißt Karantäne, ohne einen eingeschobenen w-Laut, wie häufig falschgemacht. Eine Kwarantäne gibt es nicht. Diese Wortschöpfung ist genau so falsch wie eine revolutionäre Gerillja (Gerieja!), das stinklangweilige Fach Kemie (weiches ch wie in „rieCHen“) oder wie der klassische Anfängerfehler Leviosah.

Wir sind auf eine Pandemie schlecht vorbereitet

Mit dem Virus haben wir nun schon seit einigen Monaten zu kämpfen. Zeit also für eine Zwischenbilanz. Diese fällt jedoch ernüchternd aus: Obwohl Deutschland bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen ist, gibt es eklatante Schwachstellen. Diese betreffen besonders die Frühphase der weltweiten Krise und haben deshalb auch Monate danach schwere Auswirkungen. Nachdem das Virus bereits in den ersten beiden Monaten des Jahres eindrucksvoll demonstriert hat, zu was es fähig ist, wartete man in Deutschland lieber seelenruhig ab, anstatt beizeiten geeignete Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen. Reiserückkehrer aus Risikogebieten konnten unbehelligt ihren Alltag in Deutschland wieder aufnehmen, ohne jemals auf das neuartige Virus getestet worden zu sein oder unter Karantäne gestellt zu werden.

Besonders blamabel an dieser Vorstellung: Geeignete Schutzkonzepte, um die Ausbreitung hochinfektiöser Krankheiten einzudämmen, lagen bereits zu Jahresbeginn vor. Zur Anwendung kam im Frühjahr kaum etwas. Schiefer ging in diesem Jahr einzig der bundesweite Sirenentest. Die Lehre von 2020 ist eindeutig: Wenn eine Krankheit erst einmal zu einer Pandemie ausgeartet ist, ist ambitioniertes Handeln reine Schadensbegrenzung.

Die AfD ist eine bürgerliche Partei

Lange angezweifelt, doch seit diesem Jahr eindeutig bewiesen: Die AfD ist eine Partei, die die Interessen der Mitte der Gesellschaft vertritt. Sie selbst verortet sich schon seit Jahren im konservativ-bürgerlichen Spektrum. Nach der Wahl des Abgeordneten Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen konnten selbst die etablierten Parteien die Augen davor nicht mehr verschließen. Immerhin war es maßgeblich der AfD zu verdanken, dass der Fünf-Prozent – Mann das höchste Amt im Freistaat bekleiden durfte, wenn auch nur für ein paar Stunden.

Die Partei unter Führung von Bernd Höcke hat am 5. Februar gezeigt, dass sie staatspolitische Verantwortung übernehmen kann, als sie dem glatzköpfigen Liberalen den Weg an die Spitze der thüringischen Regierung ebnete. Auch der frisch vereidigte Kemmerich signalisierte der bürgerlichen Höcke-Partei Entgegenkommen. Anders als so manche beleidigte Leberwurst im Saal warf er ihm weder einen Blumenstrauß vor die Füße noch verweigerte er ihm den Handschlag.

Die Internetabdeckung im Land ist grottig

Völlig überraschend mussten in diesem Jahr Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern feststellen, wie schlecht es um die Verbindung mit dem Internet bestellt ist. Nachdem auch die Politikerinnen und Politiker pandemiebedingt im Home Office arbeiten mussten, bemerkten sie plötzlich, dass sie völlig vergessen hatten, das Internet in Deutschland einzuschalten. Von dem Fauxpas betroffen waren auch viele Schülerinnen und Schüler. Die per E-Mail gesendeten Hausaufgaben haben sie nie erreicht. Im schlimmsten Fall kassierten sie dafür sogar einen Strich.

Um diesem Problem zügig Abhilfe zu verschaffen, kündigte Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) jüngst an, in allen deutschen Ortschaften großzügig Milchkannen zu verteilen. Diese seien prädestiniert für einen ruckelfreien Internetempfang.

Wir haben ein Rechtsextremismus- und Antisemitismusproblem

Hanau und Halle sind zwei Städte, die in diesem Jahr traurige Bekanntschaft erlangt haben, die weit über die deutsche Bundesgrenze hinausreicht. Sie stehen symbolisch für die schlimmsten rechtsextremen Anschläge, die es in Nachkriegsdeutschland je gab. Die beiden Täter metzelten auf ihren rassistischen Mordzügen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie mögen Einzeltäter gewesen sein, doch gleichzeitig sind sie auch Ausdruck eines viel tieferliegenden Problems. Wenn in Deutschland regelmäßig jüdische Friedhöfe geschändet werden, dann ist es umso trauriger, dass es der beiden Täter aus Halle und Hanau bedurfte, um auf dieses eindeutige Rechtsextremismus- und Antisemitismusproblem aufmerksam zu werden.

Die Bereitschaft, vieler Demonstrierenden, rechtsextremen Symbolen hinterherzulaufen und sich gleichzeitig als ganz besonders überzeugte Demokraten zu gerieren, ist nicht nur heuchlerisch, sondern vor allem besorgniserregend. Die Grenzen zwischen Legitimität und absolutem No-Go verschwimmen immer mehr. Die Stimmen, die sich dagegen wehren, werden an vielen Stellen niedergebrüllt. Das Gewaltmonopol des Staats steht nicht zuletzt deshalb in Frage, weil selbst in der Polizei seit langem ein rechtsextremer Geist herumspukt. Anstatt dieses Problem ernstzunehmen und der Mehrheit der rechtschaffenden Polizistinnen und Polizisten den Rücken zu stärken, schiebt unser werter Herr Innenminister in einem Anfall von altersbedingter Sturheit und Senilität das Problem einfach beiseite. Horst Seehofer ist nicht die Lösung des Problems, sondern ein Teil davon.

Sophie Scholl lebt

Lange lehrten uns die Geschichtsbücher, dass die mutige Widerstandskämpferin Sophie Scholl am 22. Februar 1943 von den Nazis ermordet wurde. In diesem Jahr kam es aber in Hannover zu einer wundersamen Wendung. Die bisher unscheinbare Jana aus Kassel trat nämlich auf einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen auf und machte unmissverständlich klar: Der Geist von Sophie Scholl ist in sie eingefahren und hat sie zur Gegenbewehr berufen. Nicht noch einmal sollte es so weit kommen, dass Deutschland von angeblichen Demokraten zu einer Diktatur umgebaut würde. Dieses Mal seien sie und ihre Gefährten besser gerüstet: tausende Menschen auf Demonstrationen statt ein paar Dutzend Flugblätter an der Uni, öffentliche Entrüstung statt stillem Protest, mediale Aufmerksamkeit statt klammheimlicher Gerichtsverfahren. Ihre 1,0 im Leistungskurs bei Herrn Höcke hat sich dieses Mädel wahrlich verdient!

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„Last Christmas“ von Wham! ist ein nerviger Song

Der Pandemie fiel dieses Jahr auch ein echter Kultklassiker zum Opfer. Kein Weihnachtsfest der vergangenen 30 Jahre verging ohne den legendären Ohrwurm von Wham!, der uns Jahr für Jahr darauf einschwor, im nächsten Jahr nicht so leichtgläubig das eigene Herz zu verschenken. Er lief wirklich überall: im Radio, im Supermarkt, im Kaufhaus, in der Bahnhofshalle, teilweise sogar im Fahrstuhl. In der Zwischenzeit konnte man sich mit seinen Liebsten treffen und sich über die virtuosen Vorzüge dieses Meisterwerks austauschen. Genau diese Gelegenheit fiel dieses Jahr wegen Corona weg. Die Menschen hatten keine Möglichkeit, dieses Lied wenigstens für ein paar Minuten hinter sich zu lassen. Schnell verkam der sonst so beliebte Weihnachtssong zu einer nervtötenden Begleitmusik, die wir im nächsten Jahr sicher nicht mehr hören wollen.

Gegenvorschlag:

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Racheakt im Bundestag – Rot-Rot-Grün stimmt FÜR AfD-Kandidaten

Lesedauer: 6 Minuten

Das politische Beben nach dem Eklat in Thüringen hält weiter an. Längst hat es auch die Bundesebene erreicht. Abgeordnete von SPD, Linke und Grüne haben sich nun zusammengetan, um der AfD eins auszuwischen. Sie setzten darauf, es den Rechtspopulisten mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Am 5. Februar dieses Jahres kam es im Thüringer Landtag zum politischen Showdown. Der amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) musste seinen Platz für den FDP-Mann Thomas Kemmerich räumen. Dabei hatten die Liberalen den Einzug in das Landesparlament nur um Haaresbreite geschafft. Der Skandal: Kemmerich wurde maßgeblich mit Stimmen aus der AfD-Fraktion ins Amt gewählt. Es folgte ein politisches Beben, das rasch auch die Bundesebene ergriff. Im Nachgang sanken die Umfragewerte für CDU und FDP nicht nur in Thüringen. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer trat schließlich zurück.

Im zweiten Wahlgang zur Mehrheit

Der Politkrimi von Erfurt war sicherlich kein Meisterstück der AfD. Auch der Begriff „Intrige“ verbietet sich bei einer solch offensichtlichen Scharade. Führende Politiker der anderen Parteien machten darauf aufmerksam, dass ein solches Szenario die logische Konsequenz aus der Kandidatur Kemmerichs war. Sie zeigten sich fassungslos darüber, dass dieser die Wahl überhaupt angenommen hatte. Von Paktieren mit Rechtsextremen und einem politischen Tabubruch war die Rede.

Etwas ähnliches wiederholte sich nun während der letzten Sitzung des Deutschen Bundestags. Routinemäßig stellte die AfD-Fraktion einen der ihrigen erneut zur Wahl für das Amt des Parlamentsvizepräsidenten. Der sächsische Abgeordnete Karsten Hilse sah sich bereits zum zweiten Mal dem Urteil der Bundestagskollegen gegenüber – im ersten Wahlgang war er bereits wie seine glücklosen Vorgänger krachend gescheitert. Die Überraschung folgte, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Ergebnis verlas. Insgesamt hatten 352 Abgeordnete für den AfD-Kandidaten gestimmt. Es gab 298 Nein-Stimmen und 37 Enthaltungen.

Eine mathematische Gewissheit

Der Fall ist klar: Verteilt man die 687 abgegebenen Stimmen der anwesenden Parlamentarier auf die Fraktionen, so lässt sich leicht ausrechnen, wer den AfD-Kandidaten ins Amt gehoben hat. Abzüglich der abgegebenen AfD-Stimmen deckt sich die Zahl der übrigen Ja-Stimmen mit der Zahl an anwesenden Abgeordneten aus den Reihen von SPD, Linken und Grünen. Auch wenn einzelne AfD-Abgeordnete diesen Umstand weiterhin dementieren, lässt sich diese Offensichtlichkeit nicht von der Hand weisen.

Die rot-rot-grünen Abgeordneten hatten anscheinend gehofft, Hilse würde die Wahl nicht annehmen können, wenn er so offensichtlich vom ärgsten politischen Gegner der AfD gewählt würde. Doch wie bereits im Fall Kemmerich hatten die Abgeordneten die Rechnung ohne den Ehrgeiz des designierten Kandidaten gemacht. Denn Hilse nahm die Wahl unverblümt an.

Die daraufhin entstehenden Tumulte veranlassten Parlamentspräsident Schäuble dazu, die Sitzung zu unterbrechen. Bereits unmittelbar nach Hilses Erklärung, die Wahl anzunehmen, verließen einige seiner Fraktionskollegen demonstrativ den Saal. Die pfälzische AfD-Abgeordnete Nicole Höchst ließ sich in ihrer grenzenlosen Rage sogar dazu hinreißen, den Tisch direkt vor ihr in seine Einzelteile zu zerlegen.

Himmelweite politische Unterschiede

Einige AfD-Kollegen zeigten sich zwar verunsichert, aber weniger irritiert. Vereinzelt schüttelten sie dem frischgewählten Vizepräsidenten die Hand. Auch die Fraktionsvorsitzenden Weidel und Gauland vermieden überstürzte Reaktionen und gratulierten Hilse. Empörung über die Wahl gab es auch in den anderen Fraktionen des Hauses. FDP-Chef Lindner beispielsweise trat in der Beglückwünschungsrunde zwar an Hilse heran, warf ihm dann allerdings kommentarlos den Blumenstrauß vor die Füße.

Später rechtfertigte er seine schroffe Handlung und betonte, dass er kein Verständnis dafür habe, sich von solchen Menschen ernsthaft wählen zu lassen. Er verwies auf die himmelweiten politischen Unterschiede zwischen AfD und FDP einerseits und dem rot-rot-grünen Lager andererseits.

Während der Unterbrechung der Sitzung konnte einigen Abgeordneten ein Statement zur Wahl Hilses entlockt werden. Von der AfD gab es hingegen zunächst kaum eine direkte Stellungnahme. Die meisten Abgeordneten der Fraktion wollten keine vorschnellen Kommentare abgeben, sondern lieber die von Fraktionschef Gauland bereits einberufene Sonderfraktionssitzung abwarten. Dort solle das weitere Vorgehen besprochen werden.

Nicht mit den Altparteien

Außerhalb der Bundestagsfraktion zeigte man sich weniger zurückhaltend. Verschiedene Landes- und Kommunalpolitiker der AfD drückten ihren Unmut über den Vorgang in Berlin aus. Auf Twitter verwiesen mehrere Politiker auf den Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei, der eine Zusammenarbeit mit SPD, Linken und Grünen kategorisch ausschließe. Vereinzelt wurde sogar die Forderung nach einem Parteiausschlussverfahren gegen Hilse laut. Nach Ansicht einer Gruppe von AfD-Landtagsabgeordneten aus Sachsen sei Hilses Vorgehen nicht mit den Grundwerten der Partei vereinbar.

Viele AfDler stellen nun auch die Führungskompetenzen der beiden Fraktionschefs Weidel und Gauland offen in Frage. Weidel kommentierte die immense Kritik vorerst nicht. Einige Mitarbeiter des Bundestags beobachteten sie dabei, wie sie sich nach ersten kritischen Fragen von Journalisten mit einer Leberwurst in der Hand in ihr Büro zurückzog und dort einschloss. Ihr Kollege Alexander Gauland gab sich betont offensiv. Er kündigte knapp an, dass er sich auf einem Sonderparteitag in wenigen Wochen der Vertrauensfrage der Delegierten stellen würde.

Der neue Bundestagsvizepräsident Hilse kündigte bereits in der Sitzungsunterbrechung an, dass er sein Amt nicht antreten werde. Er gestand Fehler im Umgang mit dem politischen Gegner ein und distanzierte sich von seiner Entscheidung, die Wahl anzunehmen. Man werde es nicht zulassen, dass Rot-Rot-Grün einen Keil zwischen die Abgeordneten der AfD treiben würde.

Die AfD-Bundestagsfraktion stellt somit auch in Zukunft keinen Vizepräsidenten. Erneut wurde betont, dass eine Kooperation mit den sogenannten Altparteien weiterhin ausgeschlossen sei. Enthaltungen seien willkommen, aktive Ja-Stimmen allerdings würden als unzulässige Zusammenarbeit gewertet werden. Immerhin müsse auf die Befindlichkeiten der AfD als stärkste demokratisch gewählte Oppositionspartei eingegangen werden.

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Rechte Strippenzieher

Lesedauer: 8 Minuten

Nach der Wahl ist vor der Wahl. In Thüringen passiert das schneller als den meisten lieb ist. Gerade einmal einen Tag nach seiner Vereidigung zum neuen Ministerpräsidenten hat FDP-Mann Thomas Kemmerich bereits wieder gekündigt. So gern viele diesen Skandal durch Neuwahlen wieder rückgängig machen wollen: Der Vorgang hat gezeigt, wie mächtig Höckes Flügel zwischenzeitlich ist.

Immer anders als man denkt

Eigentlich wollte ich als nächstes einen Beitrag über das Massenphänomen „Austritt aus der AfD-Fraktion“ machen. Mit Verena Hartmann hat nämlich vor kurzem die fünfte Abgeordnete in der laufenden Legislaturperiode bekanntgegeben, in Zukunft nicht mehr Mitglied der nationalkonservativen Fraktion zu sein. Aber bekanntlich kommt es ja immer anders als man denkt.

Dass aber ausgerechnet der Politskandal in Thüringen dazwischengrätscht, hätte ich mir nicht zu träumen gewagt. Dass es spannend werden würde, war keine Frage. Dass in Thüringen etwas neuartiges geschaffen würde, war auch von vornherein klar. Auch dass es knapp werden würde, war absehbar. Dass aber tatsächlich der Amtsinhaber Bodo Ramelow als Ministerpräsident verdrängt werden würde, damit hatten die wenigsten gerechnet. Fast jeder sah den Linken spätestens im dritten Wahlgang als Gewinner.

Dazu kam es aber nicht. CDU und FDP beliebte es, ihren Kandidaten Thomas Kemmerich mithilfe der AfD zum neuen Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Die faschistische Alternative unter Bernd Höcke ließ darüber getrost ihren eigenen Kandidaten im Regen stehen.

Der Shitstorm kam postwendend. Susanne Hennig-Wellsow wirft dem frischgebackenen Landeschef den Gratulationsstrauß vor die Füße, in mehreren Städten fanden sich spontan tausende Menschen zu Demonstrationen und Protestkundgebungen zusammen. Führende Politiker von CDU und FDP rügten ihren Parteikollegen für sein schäbiges Kalkül. Der Protest hat gewirkt: Bereits einen Tag nach Vereidigung kündigt Kemmerich seinen Rücktritt an. Neuwahlen stehen wohl ins Haus. Der Schaden ist trotzdem enorm.

Mit 5 Prozent zum neuen MP

Viele bezweifelten sogleich, ob Kemmerich überhaupt ein stabiler Ministerpräsident sein könnte. Sie meldeten Bedenken an, da es Kemmerichs Partei, die FDP, undenkbar knapp in den Erfurter Landtag geschafft hatte. Dass die schwächste Fraktion den Ministerpräsidenten eines Landes stellt ist zwar ein Novum, aber an und für sich nicht undemokratisch. In der Geschichte der Bundesrepublik kam es schon zigmal vor, dass eben nicht der Wahlgewinner den neuen Regierungschef stellte. Zugegeben, bei einer 5-Prozent – Partei mutet der Vorgang besonders grotesk an. Es ist nun aber einmal so, dass im Prinzip jede in einem Parlament vertretene Partei ein gewisses Regierungspotenzial in sich trägt.

Und im Kern geht es auch gar nicht darum, dass ein Bodo Ramelow abgewählt wurde. Es geht eigentlich um gar keine Abwahl. Es geht darum, dass eine faschistische Partei inzwischen so viel Einfluss hat, dass sie einen Ministerpräsidenten ins Amt hieven kann. Wer bei diesem perfiden Spiel mitmacht, verhilft dem Rechtsextremismus zur Unsterblichkeit.

Ein klarer Fall

Anscheinend glauben die Damen und Herren Abgeordneten von CDU und FDP allerdings, sie könnten die Menschen für dumm verkaufen. Angeblich hat es ja keine vorherigen Absprachen bezüglich der Wahl Kemmerichs gegeben. Sie seien Opfer des Kalküls der AfD geworden, die ihren eigenen Mann hinten runterfallen ließ. Wer diese dreiste Lüge glaubt, dem gebührt das gleiche Mitleid wie dem bereits scheidenden Ministerpräsidenten Kemmerich.

Selbstverständlich hat es diese Absprachen gegeben. Ansonsten hätten Konservative und Liberale niemals einen der ihrigen ins Rennen geschickt. Sie hätten doch davon ausgehen müssen, dass sie zwar für Kemmerich stimmen würden, die AfD aber ihren Kindervater wählen würde, während Rot-Rot-Grün ihrem eigenen Kandidaten treu bleiben würde. In einer solchen Konstellation hätte Bodo Ramelow im dritten Wahlgang die meisten Ja-Stimmen eingeheimst. Es ging den Abgeordneten links der AfD einzig und allein darum, einen unliebsamen linken Ministerpräsidenten zu beseitigen, koste es was es wolle.

Besonders verräterisch: Die AfD schickte keinen Fraktionskollegen ins Rennen, sondern jemanden von außerhalb. Bei dem Wahlverhalten der AfD hätte der Fraktionskandidat doch zwangsläufig sein Gesicht verloren. Über Christoph Kindervater haben kurz alle gelacht, selbst er selbst, bevor die Diskussion von Ramelow und Kemmerich beherrscht wurde.

Sprungbrett Mehrheitsopposition

Eines ist völlig gewiss: Das Signal, welches CDU und FDP in Thüringen gesendet haben, ist ein völlig falsches. Anstatt den wirklich gemäßigten Bodo Ramelow zumindest zu tolerieren, paktierten die beiden „Gewinner“-Parteien lieber mit der AfD. Höckes Verein allerdings ist im ganzen Land als besonders radikal verschrien. In ihrem unendlichen Linken-Hass haben CDU und FDP erfolgreich sämtliche Prinzipien über Bord geworfen. Für eine derartige Machtgeilheit kann man sich nur schämen.

Denn was wäre denn passiert, hätte man die rot-rot-grüne Minderheitsregierung toleriert? Die Opposition wäre in der Mehrheit gewesen und hätte die Geschicke des Landes viel stärker mitbestimmen können. Gerade in einem solchen Szenario hätte sich die Union als konservative Kraft profilieren können, die die Linksgrünen am kurzen Zügel hält. Ganz offensichtlich übernimmt dieses indirekte Mitregieren nun aber jemand anderes. Innerhalb von zwei Tagen haben Höckes Kameraden gezeigt, was sie können: Sie haben einen Ministerpräsidenten ins Amt gehoben und ihn sogleich wieder daraus entfernt.

Eine Truppe von Lachnummern

Und was passiert jetzt in Thüringen? Eigentlich wollte ich hier schreiben, dass sich die neugewählte Regierung immer von der AfD jagen lassen würde und den schwarzen Peter dann Rot-Rot-Grün und deren genereller Blockadehaltung zuschieben würde. Kann ich jetzt aber nicht mehr schreiben. Diese Regierung wird nach Kemmerichs Rücktritt nicht kommen. Immer anders als man denkt.

Verloren hat also nicht nur Ramelows Bündnis. Auch Kemmerich und seine Mannen müssen als Verlierer vom Feld ziehen. Eindeutiger Gewinner ist Höckes AfD. Unentschlossene Wähler und solche, die bisher zauderten, der AfD ihre Stimme zu geben, fragen sich doch nun zurecht, was so falsch daran ist, die Rechten zu wählen. Immerhin konnten die innerhalb kürzester Zeit aus dem Thüringer Landtag ein Affentheater machen. Ramelow regierungsunfähig, Kemmerich nach einem Tag zurückgetreten – wen soll man denn da wählen, wenn nicht die AfD? CDU und FDP stehen doch wie Vollidioten da, die kein normaldenkender Mensch mehr ernstnehmen kann. An einem Stimmengewinn der AfD führt kein Weg vorbei. Und der wird auf Kosten der beiden größten Politikhuren gehen, die das Land je gesehen hat.

„Wir werden sie jagen“

Die Abgeordneten der Thüringer AfD stehen nun als ehrliche und mächtige Persönlichkeiten da. Sie inszenieren sich als wohlwollende Demokraten, die aus schier unendlicher Verfassungstreue einen Kandidaten aus dem bürgerlichen Lager ihrem eigenen Kandidaten vorzogen. Ein großer und entgegenkommender Schritt. Anstatt sich nun aber in angemessener Form bei Höcke & Co. erkenntlich zu zeigen, wird den rechten Hetzern allerdings eine Beteiligung an der Regierung verwehrt. Ein geschickter Wählerfang also, dessen Botschaft eindeutig ist: Den nächsten Ministerpräsidenten wollen wir stellen.

Mehr und mehr gewinnt Höckes Flügel an Einfluss. Natürlich werden die jüngsten Ereignisse in Thüringen auch die Bundes-AfD nicht unberührt lassen. Es ist eindeutig, dass sich auch die Bundespartei weiter nach rechts bewegen wird. Schließlich wurde in Thüringen völlig offensichtlich, was Faschismus in Deutschland weiterhin bewirken kann.

CDU und FDP haben in Thüringen eine gefährliche Dynamik in Gang gesetzt. Sie haben sich von der AfD jagen lassen. Sie haben sich von der AfD zu Volldeppen machen lassen. Und das alles aus reinem Personalkalkül. Weil sie mit sich selbst beschäftigt sind. Politik für das Volk sieht anders aus.


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