Eine Klientelpartei hebt ab

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Das Votum der Wählerinnen und Wähler bei der letzten Bundestagswahl war eindeutig: Nach sechzehn Jahren in der Opposition sollten die Grünen wieder Regierungsverantwortung tragen. Besonders gut schnitt die Partei bei den Erstwählern ab. Knapp anderthalb Jahre nach Vereidigung der Ampel wird jedoch immer deutlicher, dass die Grünen zwar viele gute Ideen haben, aber leider keinen Plan. Sie wären gerne Volkspartei, sind diesem Anspruch auf Bundesebene aber nicht gewachsen. Sie können viel bewegen, aber lenken sollten sie nicht.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis ‘90/Die Grünen) hat in seiner Amtszeit bisher wenig mit Kompetenz geglänzt. Zu Beginn des Jahres musste ihm sogar vor laufender Kamera erklärt werden, was eine Insolvenz ist. Auch seine jüngsten Äußerungen und Pläne bezüglich des Einbaus von Wärmepumpen schlagen hohe Wellen. Seine Absichten mögen noch so gut sein, ohne Plan richtet er mehr Schaden als Nutzen an. Er steht exemplarisch für die kopflose Politik einer ganzen Partei.

Gut gemeint

Die Grünen mussten in ihrer Parteigeschichte schon so manchen Shitstorm über sich ergehen lassen. In ihren Anfangstagen galt die neue Partei als Unruhestifterin, in der sich minderbemittelte und wenig leistungsfreudige Studienabbrecher zusammenfanden. Mittlerweile hat sich die Partei etabliert und ist aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Doch die Unkenrufe von damals flammen in den letzten Jahren wieder auf. Besonders Rechtsaußen überzieht die Grünen mit einer Diffamierungskampagne, die nicht selten jegliches Gespür für Anstand und Sitte vermissen lässt.

Leider begegnen die Grünen diesen plumpen Stammtischparolen nicht mit überzeugender und guter Politik. Stattdessen verirren sich in ideologischen Abenteuern und machen sich durch eine künstliche moralische Aufwertung unangreifbar. Sie profitieren dabei von der Tatsache, dass ihre Ideen und Vorstellungen bei einzelner Betrachtung wirklich nicht schlecht sind.

Atomkraftwerke sind ein enormes Sicherheitsrisiko. Ein kleiner Störfall reicht im Zweifelsfall aus, um ganze Regionen für Jahrhunderte mit radioaktiver Strahlung zu verseuchen. Die Kohle ist eine klimapolitische Todsünde. Ihre Emissionen tragen maßgeblich zur globalen Erwärmung bei. Putin ist ein skrupelloser Aggressor. Der Überfall auf die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, der durch nichts zu rechtfertigen ist.

So recht die Grünen mit vielen ihrer Anliegen haben mögen: Politik setzt sich nicht aus gutgemeinten Einzelforderungen zusammen. Es ist das Gesamtbild, das zählt. Die komplette Erfüllung mancher Forderungen der Grünen steht im Widerspruch zu anderen Zielen der Partei. Ein gleichzeitiger Ausstieg aus Atomkraft und Kohle birgt das Risiko einer energetischen Unterversorgung. Die erneuerbaren Energien wurden unter Kanzlerin Merkel sträflich vernachlässigt. Das zu beklagen allein, macht die Versäumnisse der Vergangenheit nicht wett.

Realitätscheck

Anscheinend merken auch immer mehr Grünen-Wähler, dass von dieser Partei kein großer Wurf zu erwarten ist. In Umfragen fielen die Grünen jüngst sogar wieder hinter die AfD zurück. Sie erleben diesen Rückgang an Zustimmung nicht zum ersten Mal: Schon nach der Nominierung von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin vor zwei Jahren konnten die Grünen ihre Traumergebnisse von deutlich über 20 Prozent in den Umfragen nicht halten. Den potenziellen Wählern missfiel damals anscheinend, dass Robert Habeck als Kandidat der Herzen eine Absage erteilt wurde.

Doch auch der Sunnyboy der Grünen wird ganz offensichtlich an seinen Taten gemessen. Immer mehr Menschen scheint die gutgemeinte Politik der Bündnisgrünen nicht mehr zu reichen. Dabei vermochte es die Partei bei der letzten Bundestagswahl meisterlich, die wichtigen Erstwähler von sich zu überzeugen.

Eine Klientelpartei hebt ab

Die Grünen haben das Potenzial, vielen Wählerinnen und Wählern eine politische Heimat zu bieten. Bei ihrer Gründung füllten sie geschickt eine politische Repräsentationslücke und brachten ordentlich Schwung in den Laden. Den rebellischen Gründungsgeist haben die Grünen heute freilich abgelegt und dennoch ist der schwindende Zuspruch nicht nur ein Problem für die Partei selbst. Auch wenn die Grünen für die AfD das Feindbild überhaupt sind, ist es durchaus denkbar, dass manche Wähler in den Grünen das letzte demokratische Ventil für ihre politische Enttäuschung sahen – und nun den Gegnern der Demokratie ihre Stimme geben.

Es bewahrheitet sich nun, was schon im Bundestagswahlkampf 2021 überdeutlich war: Die Grünen überschätzen sich in ihrer Rolle und in ihren Möglichkeiten maßlos. Auch wenn es auf Länderebene teilweise anders aussieht, sind sie im Bund nach wie vor eine Klientelpartei. Sie vertreten die Interessen einer bestimmten Gruppe in der Bevölkerung. Der Anspruch, eine Volkspartei zu sein, welche die Breite der Bevölkerung repräsentiert, ist vermessen und abgehoben.

In ihrem Programm finden sich durchaus populäre Einzelforderungen, mit denen sie in einer Regierung grüne Akzente setzen können. In einer Koalition mit der SPD können sie den Unterschied machen, ob sich die Regierung an bürgerlichen und liberalen Themen orientiert oder einen linken Kurs verfolgt. Es fehlt ihnen jedoch die Gesamtvision in Form einer kohärenten Politik, was sie als führende Kraft in einer wie auch immer gearteten Regierung disqualifiziert. Aus diesem Grund wirkte auch Annalena Baerbocks Kanzlerkandidatur unglaubwürdig und streckenweise grotesk.

(K)eine Konkurrenz für die Volksparteien

Bei einem so starken Wahlergebnis wie nach der Bundestagswahl 2021 ist es zwangsläufig, dass die Grünen früher oder später enttäuschen. Einen anderen Weg hat die Partei beispielsweise in Baden-Württemberg eingeschlagen. Dort ist sie inzwischen fest als Volkspartei etabliert. Sie hat ihren Gründungsgedanken geopfert und macht den ehemaligen Volksparteien ordentlich Konkurrenz. Unter Kretschmann hat sich die Partei immer mehr dem bürgerlichen Spektrum angenähert und die CDU teilweise obsolet werden lassen. Auch das ist einer der Gründe, warum die Konservativen in ihrem ehemaligen Stammbundesland inzwischen so schwach abschneiden.

Auf Bundesebene sind die Grünen noch lange nicht so weit, andere Volksparteien zu ersetzen. Viel mehr profitieren sie von einem allgemeinen Trend, der dem Konzept der Volksparteien eindeutig zuwiderläuft. Doch wie es aussieht, hat sich diese Erkenntnis zumindest auf der Regierungsbank noch nicht durchgesetzt. In der Folge eifert der grüne Wirtschaftsminister einer Fantasterei nach der anderen hinterher und merkt nicht, dass er damit nicht nur Deutschlands Rolle als Handels- und Wirtschaftspartner auf’s Spiel setzt, sondern den Alltag vieler Menschen im Land immer unerträglicher macht.

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Parlamentarismus als Selbstzweck

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Mit polemischen Plakaten und empörten Mienen ziehen Gegner der Coronamaßnahmen skandierend durch die Straßen. Der routinierte Protest geht zurück bis auf die Pegida-Demos, die vor einem dreiviertel Jahrzehnt viele Menschen auf die Straßen trieben. Mit Gesetzen für eine lebendige und wehrhafte Demokratie versuchen die Abgeordneten im Bundestag, die chronisch Enttäuschten wieder ins Boot zu holen. Zu oft setzen sie dabei aber die falschen Akzente und beschäftigen sich lieber mit sich selbst als mit den Problemen der Mehrheit. Das ganze führt zu einer um sich greifenden politischen Resignation, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Reden und Handeln

Mit dem Wehrhafte-Demokratie – Gesetz wollte die Große Koalition in der zurückliegenden Wahlperiode der politischen Beteiligung im Land neues Leben einhauchen. Außerdem sollten Staat, Amtsträger und Öffentlichkeit besser vor Terrorismus und anderen demokratiefeindlichen Bestrebungen geschützt sein. Die Regierung sprach oft und gerne über dieses Vorhaben. Am Ende der Legislatur folgte dann aber die große Enttäuschung: Das Gesetz platze; die Regierung legte keinen entsprechenden Entwurf vor. Man schob sich gegenseitig die Schuld am Scheitern der Initiative zu. Die angebliche Herzensangelegenheit der Großen Koalition war Geschichte.

Trotzdem zog sich die Verteidigung der Demokratie wie ein roter Faden durch viele Gesetzesvorlagen und Bundestagsdebatten der vergangenen vier Jahre. In keiner anderen Wahlperiode stritten die Abgeordneten so häufig über den Schutz der demokratischen Ordnung wie in der zurückliegenden. Sie hatten allen Grund dazu: Terroristische Anschläge kosteten vielen Menschen das Leben. Die Angriffe wurden meist von Rechtsradikalen begangen. Die Lage bei Demonstrationen lief regelmäßig aus dem Ruder. Mit den sogenannten Coronademos erreichte die Gewalt auf den Straßen allerdings eine neue Eskalationsstufe. Währenddessen lud die Wahlbeteiligung bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen weiterhin nicht zu Freudenstürmen ein.

Besonders die niedrige Wahlbeteiligung ist ein verlässlicher Indikator dafür, dass sich viele Menschen von der Politik nicht mehr vertreten fühlen. Es ist daher sinnvoll, über die Stärkung demokratischer Teilhabe zu diskutieren. Zwischen Reden und Handeln liegen manchmal jedoch Welten. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich an der grundsätzlichen Frustration nichts ändert, wenn die Damen und Herren im Bundestag lieber über die Sitzordnung im Plenarsaal diskutieren und das dann medienwirksam als besonders demokratieförderlich verkauft wird.

Groteskes Schauspiel

Allen Beschwörungen der Abgeordneten zum Trotz machen solche Debatten die Demokratie eben nicht krisensicherer und attraktiver. Es scheint eher so, als wäre die politische Realität der Abgeordneten und die der Wählerinnen und Wähler nicht mehr deckungsgleich. Die einen feiern den derzeitigen Parlamentsbetrieb als großen Gewinn für die Demokratie. Die anderen gehen verzweifelt auf die Straße und müssen sich dafür als Querdenker und Schwurbler beschimpfen lassen.

Jüngstes Beispiel für diese Divergenz zwischen Parlamentarismus und erlebter Demokratie ist die Kanzlerwahl von Olaf Scholz. Zweifellos ist die SPD am 26. September stärkste politische Kraft des Landes geworden. Anders als viele seiner Amtsvorgänger hat es Scholz aber nicht mit um die 40 Prozent ins Kanzleramt geschafft. Seine Wahl auf den Kanzlerstuhl war bestimmt ein großer Erfolg für seine Partei, die vor einigen Monaten noch völlig zerstört am Boden lag. Die Jubelstürme im Bundestag, die auf seine Wahl folgten, säen jedoch Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit einiger Abgeordneter. Erstens war seine Wahl keine Überraschung und zweitens sieht Demut vor dem Wählerwillen angesichts des mickrigen Wahlergebnisses beider ehemaliger Volksparteien sicher anders aus.

Politik exklusiv

Der langanhaltende Applaus für den neuen Bundeskanzler mitsamt den Jubelrufen hatte eher was von einer Selbstbeweihräucherung des Parlaments und erinnerte wenig an eine für die Bundesrepublik weitreichende Entscheidung. In Zügen erinnerte dieses Verhalten an die Debatte um die Ehe für Alle im Juni 2017. Das von SPD, Linken und Grüne eingebrachte Gesetz wurde mehrheitlich angenommen und sendete ein wichtiges Signal an die Gesellschaft. Auch diese begrüßenswerte Entscheidung führten einige Abgeordnete durch Konfettiregen völlig ad absurdum. Sie zeigten dadurch, dass es ihnen nicht um die Sache ging, sondern vorrangig darum, sich als Fraktion zu behaupten.

Der einst starke Draht zum Volk wird durch solche Schauspiele immer dünner und erinnert inzwischen eher an einen seidenen Faden. Für manche Menschen ist er bereits gerissen. Sie haben sich womöglich für immer abgewendet und wählen extrem oder gar nicht. Sie haben kein Verständnis mehr für den Politikbetrieb, weil zu viele Entscheidungen gegen sie getroffen wurden oder weil sie von wichtigen Beschlüssen ganz ausgeschlossen sind. Denn nicht nur die Gesetzesvorlagen entstehen hinter verschlossenen Türen, wo besonders finanzstarke Lobbys sinnvolle Maßnahmen verwässern und nach Belieben abmildern können. Auch die Vergabe wichtiger Posten können viele Menschen nicht mehr nachvollziehen.

Sie sehen stattdessen, dass immer häufiger solche Personen in hohe Ämter gehoben werden, wenn sie besonders viel Dreck am Stecken haben. Die Wahl Ursula von der Leyens (CDU) zur EU-Kommissionspräsidenten ist ein bis heute nicht gelöstes Mysterium. Zu keinem Zeitpunkt im Wahlkampf stand ihr Name zur Debatte. Dann kam die Berateraffäre und -schwupps- war sie durch die Versetzung nach Brüssel aus dem Schussfeuer.

Who the fuck?

Das ganze ist inzwischen über zwei Jahre her. Andere fragwürdige Personalentscheidungen sind deutlich jünger. Mit Franziska Giffey (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) schafften es zwei Damen, bei denen sich die Plagiatsvorwürfe in kurzer Zeit verhärtet hatten, auf einflussreiche Posten in der Republik. Offenbar sah das selbst Olaf Scholz kritisch und machte seine einstige Kontrahentin Baerbock lieber nicht zur Vizekanzlerin. Währenddessen stehen auch gegen unseren neuen Kanzler schwerwiegende Vorwürfe in Zusammenhang mit den Cum-Ex- und den Wirecard-Skandalen im Raum.

Und auch wenn manche Amtsträger nicht so viel auf dem Kerbholz haben wie Scholz, Baerbock & Co., irritiert ihre plötzliche Bedeutung im Land. Kevin Kühnert machte in den letzten Jahren öfter als rebellischer Juso-Chef von sich reden. Nun hat er den Sprung in den Bundestag geschafft. Dort musste er sich aber gar nicht großartig etablieren: Sogleich trat er die Nachfolge von Lars Klingbeil als Generalsekretär seiner Partei an. Auch die Grünen entschieden sich dafür, der erfahrenen neuen Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann mit Katharina Dröge eine unbekannte Hinterbänklerin zur Seite zu stellen.

Tiefe Gräben und hohe Mauern

Viele dieser Posten wurden in korrekten demokratischen Verfahren vergeben. Die Grünen haben sich bewusst für eine Doppelspitze entschieden. Die Mehrheit der SPD wollte Kevin Kühnert als Generalsekretär. Auch Olaf Scholz war den meisten Wählerinnen und Wählern im Vergleich zu Annalena Baerbock und Armin Laschet am liebsten. Er ist aber trotzdem nicht der Kanzler der Herzen. Seine Beliebtheitswerte sind viel eher ein Zeichen von gefühlter Alternativlosigkeit und Resignation.

Immer mehr Menschen verlieren die Lust daran, politisch zu diskutieren und sich einzubringen. Sie spüren, dass sie mit ihrer Meinung oft auf Mauern des Unverständnisses prallen. Die Abgeordneten liefern sich hingegen kontroverse Rededuelle, die zunächst nicht den Eindruck erwecken, das Land sei politisch gelähmt. Die eindruckvollsten Debatten werden jedoch zu Themen geführt, die mitunter nur Minderheiten betreffen oder am Interesse vieler Menschen vorbeigehen. Als besonders progressiv verkauft die Regierung neuerdings die Einigungen im Bezug auf die Legalisierung von Cannabis, die Absenkung des Wahlalters oder eine bessere geschlechtergerechte Inklusion.

All diese Themen sind herzensgut gemeint, verhindern aber nicht, dass Kinder im Land arm sind oder Rentnerinnen und Rentner in Heerscharen auf Pfandflaschenjagd gehen müssen. Auch die neue Regierung hat wohl nicht begriffen, dass man das Dach erst bauen kann, wenn man zuvor für ein starkes Fundament gesorgt hat. Trotzdem sind diese woken Themen häufig koalitionsentscheidend. Wichtige andere Fragen wie die Einführung einer Bürgerversicherung werden dem unbedingten Regierungswunsch bereitwillig geopfert. Dabei haben sich zwei der drei Koalitionäre im Wahlkampf für genau dieses Anliegen starkgemacht.

Kein Zuspruch ohne Widerspruch

Randthemen erfahren bei diesem Politikstil immer öfter eine Dimension, gegen die schier nicht anzukommen ist. Garniert wird das ganze mit einer großzügigen Portion Moral, bei der sich jeder Gegenredner automatisch ins Aus manövriert. Wer Zweifel daran äußert, dass die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vernünftig ist oder wer die Freigabe von Cannabis kritisch sieht, gilt als rückwärtsgewandt und nicht zeitgemäß. Was zeitgemäß ist, bestimmt aber immer die Mehrheit. Das kann nicht funktionieren, wenn ein gewichtiger Teil der Gesellschaft konsequent ausgeblendet wird. Viele passen sich den Veränderungen an, eben weil sie ihr Leben meist nicht direkt betreffen und sie sich damit arrangieren können. Vertrauen schafft ein solcher Umgang aber nicht.

Das konsequente Abwürgen von Widerspruch führt in der Folge immer auch zur Abnahme des Zuspruchs. Wer immer wieder erlebt, dass sein Wort in der Gesellschaft überhört und nicht beachtet wird, der wendet sich irgendwann ganz ab. Wir müssen in unserem Land dringend wieder lauter über Themen sprechen, welche die breite Mehrheit betreffen. Sozialere Arbeitsverhältnisse, die Überwindung der Zwei-Klassen – Medizin und bezahlbarer Wohnraum für alle eint uns deutlich mehr als die endlosen Debatten über Gendersternchen, alternative Lebensformen und Sitzordnungen.


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Die autoimmune Gesellschaft

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Hauptsache regieren

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Momentan laufen die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP auf vollen Touren. Das gesteckte Ziel ist eindeutig: Noch vor Weihnachten soll eine Regierung stehen. Das veröffentlichte Sondierungspapier versprach bereits Einigungen in wesentlichen Punkten. Diese betont locker-flockige Harmonie täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass besonders die Grünen zurückstecken mussten. Beim Klimawandel bleibt das Papier chronisch unkonkret, die Finanzierung ist fragwürdig und die kleinen Leute fallen hinten runter. Ein echter Neustart bleibt aus.

Weniger als vier Wochen nach der Bundestagswahl haben sich SPD, Grüne und FDP zu Koalitionsverhandlungen bereiterklärt. Dieser Fortschritt bei der Bildung einer neuen Regierung ist beachtlich, dauerte es in der Ära Merkel doch regelmäßig deutlich länger, bis sich in neues Kabinett zusammenfand. Wie es aussieht, können die drei Parteien ihr Versprechen vom Wahlabend halten: Noch vor Weihnachten wird eine neue Regierung stehen.

Koalition nach Drehbuch

Niemanden dürfte es ernsthaft überraschen, dass sich die Ampel-Parteien in so kurzer Zeit in vielen Punkten einig wurden. Bereits vor der Wahl vom 26. September zeichnete sich ein Ampelbündnis ab. Rot-Grün-Rot war auch wie bei den letzten Wahlen bereits im Wahlkampf kein echtes Thema mehr, Jamaika scheiterte maßgeblich an der Personalie Armin Laschet. Nicht einmal Christian Lindner war bereit, mit dieser tragisch-komischen Witzfigur zu koalieren.

Annalena Baerbock war in den Wochen vor der Wahl eher Dekoration als ernsthafte Konkurrentin. Ihre Aufgabe bei den Kanzlertriellen beschränkte sich darauf, den beiden anderen Kandidaten zu demonstrieren, welche Vizekanzlerin sie sich womöglich ans Bein binden würden. Zwischenzeitlich gilt selbst Baerbocks Vizekanzlerschaft nicht mehr als gesetzt.

Keine Lust auf Weiter-so

Auch die Medien erkannten schnell, welches Potenzial in der Ampel steckt. Nach sechzehn Jahren Merkel wäre es für keinen Unionskandidaten leicht gewesen, den Scherbenhaufen zusammenzukehren und das Machtvakuum der scheidenden Kanzlerin zu besetzen. Armin Laschet hat es den Journalisten und Nachrichtensendungen allerdings schon beachtlich leichtgegemacht, ihm von vornherein den Stempel des geborenen Verlierers aufzudrücken.

Die Lust auf eine Regierung ohne die Union war jedenfalls lange Zeit spürbar. Spätestens am Wahlabend stand fest, dass die alte Kanzlerpartei abzutreten habe. In absoluten Zahlen gemessen, verlor an diesem Abend keine Partei so stark wie die CDU. Die Wahlgewinner des Abends waren SPD, Grüne und FDP. Alle drei Parteien konnten teilweise deutlich zulegen. Eine gemeinsame Regierungskoalition ist allerdings nicht die zwangsläufige Folge daraus.

Vorbei sind die Zeiten der Lagerkoalitionen, in denen ausschließlich Parteien zusammenarbeiteten, die sich politisch besonders nahestanden. Schwarz-Gelb ist schon lange passé und auch eine Mehrheit des linken Lagers dürfte sich nach dem desaströsen Abschneiden der Linkspartei auf absehbare Zeit erledigt haben. Neue Bündnisse sind gefragt und es erstaunt schon, wie schnell sich die drei Akteure grundsätzlich geeinigt haben. Immerhin wurden alle drei Parteien von unterschiedlichen Wählerschichten aus unterschiedlichen Gründen gewählt.

Keine halben Sachen

Auf den ersten Blick scheint das Sondierungspapier eine breitgefächerte Sammlung guter Ideen zu sein. Es ist tatsächlich für jeden was dabei. Schaut man aber genauer hin, so entzaubert sich dieses heißerwartete Dokument des Aufbruchs von selbst. An vielen Stellen bleibt das Papier blass und unkonkret. Besonders die Frage der Finanzierung ist nach wie vor nicht geklärt.

Fakt ist: Die Ergebnisse aus Sondierungsgesprächen sind noch kein Regierungsprogramm. Diesen Anspruch sollte man an die Gesprächsergebnisse der drei Parteien nicht stellen. Trotzdem bleibt der erhoffte Neustart aus, sollten es die wesentlichen Punkte in den Koalitionsvertrag schaffen. Besonders enttäuschend sind dabei die vereinbarten Ziele beim Kampf gegen den Klimawandel. Der vorgesehene Ausbau der erneuerbaren Energien wird nicht ausreichen, um den Energiebedarf des gesamten Landes zu decken. Die Pflicht zum Solardach ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Ausstieg aus der Kohleenergie bis 2030 ist lediglich ein idealer Wert. Von grünem Mut fehlt in diesem Sondierungspapier jede Spur.

Ähnlich sehen es auch die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Sondierungsergebnisse protestierten sie lautstark gegen dieses Weiter-so beim Klimaversagen. Bei einer Protestkundgebung vor der SPD-Parteizentrale machten sie deutlich, dass es für sie keine halben Sachen gäbe. Der Frust der jungen Generation ist umso bedauerlicher, waren es doch vorrangig die Erstwähler, die Grünen und FDP das Vertrauen aussprachen.

Hauptsache regieren

Viele Medien sprachen davon, dass die Sondierungsergebnisse die Handschrift der FDP trügen. Es stimmt: An keiner Stelle wird das so deutlich wie beim Verzicht auf ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Durchgesetzt haben sich nicht Verkehrssicherheit und Klimaschutz, sondern die testosterongesteuerte Bequemlichkeit der Liberalen. Es ist beinahe zynisch, dass die FDP dafür eine andere für sie schmerzhafte Konzession gemacht hat: Der Mindestlohn soll in einem Schritt auf 12 Euro steigen.

Das Sondierungspapier offenbart aber auch den unbedingten Willen der Grünen, an der nächsten Bundesregierung beteiligt zu sein. Nur durch sie könne ein echter Aufbruch beim Kampf gegen den Klimawandel kommen. Allerdings attestierten Experten dem grünen Wahlprogramm schon vor der Bundestagswahl, dass viele Forderungen nicht weit genug gingen, um dieser Menschheitsaufgabe zu begegnen. Beinahe logisch ist es daher, dass die Grünen selbst ihre Mini-Forderung mit dem Tempolimit einstampften, um die FDP nicht zu verschrecken.

Wer zahlt?

Egal, ob das Sondierungspapier die Handschrift von FDP, Grünen oder sonstwem trägt – es ist kein Regierungsprogramm für die kleinen Leute. Es vernachlässigt Menschen mit geringem Einkommen und solche, die in prekären Verhältnissen beschäftigt sind. Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro scheint zunächst ein großer Wurf zu sein. Aber nicht einmal die FDP kann vor der rasant steigenden Inflationsrate die Augen verschließen, die eine so deutliche Steigerung überfällig macht.

Generelle Steuerhöhungen und eine Wiedereinführung einer Vermögensabgabe haben die drei Partner bereits ausgeschlossen. Gleichzeitig möchten sie aber diszipliniert zur Schuldenbremse zurückkehren. Diese Entscheidung trifft die Schwächsten in der Gesellschaft am meisten. Es dürfte vorprogrammiert sein, wo das viele Geld dann herkommen soll: Der Rotstift wird vorrangig bei Sozialausgaben angesetzt. Die Einhaltung der Schuldenbremse blockiert außerdem wichtige Investitionen in elementare Bereiche der Infrastruktur. Die Straßen, Schulen und Krankenhäuser werden auch in den kommenden vier Jahren zunehmend verfallen, wenn es zu dieser Regierungskonstellation kommt.

Hartz-IV reloaded

Den Gipfel an Wählertäuschung erreicht das neue Regierungstrio allerdings bei einem anderen Herzensprojekt: dem Bürgergeld. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein umgetauftes Hartz-IV. Diese fragwürdige Umbenennung wird nichts ändern an Bevormundung, Gängelei und Perspektivlosigkeit. Stattdessen taugt der neue Name eher dazu, bereits vorhandene Fehlannahmen zu verfestigen. Ein Bürgergeld suggeriert, dass darauf jeder Bürger zu jeder Zeit Anspruch hat. Dieses bedingungslose Grundeinkommen light wirft auch in Zukunft ein falsches Bild auf seine Bezieher. Mehr als zuvor werden sie als faule Dauerarbeitslose gelten, die sich für jede Arbeit zu fein sind. An der gesellschaftlichen Spaltung ändert das nichts.

Viel Hoffnung steckten viele Wählerinnen und Wähler in diese neuartige Regierungskoalition. Weiterhin bleibt eine Mehrheit der Menschen im Land der Ampel wohlgesonnen. An den bislang gelieferten Inhalten kann das kaum liegen. Die Alternative wäre eine Jamaika-Koalition, aber die Union tut wirklich alles, um die Wählerinnen und Wähler in ihrer Entscheidung vom 26. September zu bestätigen. Nicht alles in Deutschland wird durch die Ampelkoalition schlechter. Wesentlich besser wird es nach vier Jahren Scholz aber nur den wenigsten gehen.

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