Anschlag auf die Demokratie

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Ohne entschlossenes Gegenlenken könnte der Bundestag nach der nächsten Wahl mehr als 1.000 Abgeordnete zählen. Handlungsbedarf zur Reduzierung der Sitze ist daher dringend geboten. Die Ampelkoalition hat sich nun etwas ganz Besonderes überlegt: die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten und die Streichung der Grundmandatsklausel. Mathematisch geht ihr Plan voll auf, die Demokratie bleibt währenddessen auf der Strecke.

Bundestag ohne Bayern?

Der Bundestag ist zu groß. Das Problem ist seit Jahren offensichtlich. Schon beim Umzug ins Reichstagsgebäude Ende der 1990er-Jahre beherbergte die berühmte Kuppel 665 Abgeordnete. Heute zwängen sich regelmäßig bis zu 736 Abgeordnete in den Plenarsaal. Der Handlungsbedarf lag auf der Hand, eine Lösung ließ aber bis vor kurzem auf sich warten. Nun ist sie da, die langersehnte Wahlrechtsreform – und mit ihr jede Menge neue Probleme.

Die von der Regierungsmehrheit getragenen Fraktionen haben am 17. März im Grunde nichts anderes beschlossen als eine Schwächung der Direktmandate. Durch die Reform ist die Sitzzuteilung im Bundestag ab sofort allein vom Zweitstimmenergebnis abhängig. Die Erststimmen spielen bei dieser Frage keine Rolle mehr. Ein errungenes Direktmandat erhöht zwar die Chance, in den Bundestag einzuziehen, der Sieg in einem Wahlkreis ist aber lange keine Garantie mehr für einen Sitz im Parlament. Selbst wer seine Mitstreiter weit hinter sich lässt, kann sich fortan nicht mehr darauf verlassen, in den nächsten vier Jahren in Berlin zu sitzen.

In der Theorie bedeutet das: Eine Partei könnte alle Direktmandate eines Bundeslands gewinnen, aber keinen einzigen Sitz im Bundestag erhalten, weil ihr Zweitstimmenergebnis dazu nicht ausreicht. In der Praxis heißt das: Die CSU geht im Zweifelsfall leer aus, obwohl sie in Bayern enormen Rückhalt hat. Allein dieses bildhafte Beispiel reicht aus, um die großen Zweifel an der Reform zu verstehen.

Die Christlich-Sozialen haben bei den vergangenen Bundestagswahlen kontinuierlich schwächer abgeschnitten und müssen inzwischen darum bangen, die 5-Prozent – Hürde zu meistern. Trotzdem gewinnen sie regelmäßig die meisten Wahlkreise im größten deutschen Bundesland. Ihre personelle Repräsentanz im Bundestag dürfte damit außer Frage stehen.

Wahlkampf ohne Sinn?

Das Direktmandat ist der direkte Draht zum Wahlkreis. Die gerade beschlossene Wahlrechtsreform missachtet diesen Grundsatz, weil sie die Bindung zwischen Abgeordneten und Wählern schwächt. Die Abgeordneten werden auch in Zukunft einen Bezug zu ihren Wahlkreisen haben, aber es sind eben nicht mehr zwingend die Kandidaten im Bundestag vertreten, welche die größte Zustimmung hinter sich wissen. Viele Wähler werden sich fragen: Warum soll ich einer bestimmten Person meine Stimme geben, wenn die Vertretung meiner persönlichen Interessen damit nicht wahrscheinlicher wird?

Auf der anderen Seite werden es besonders kleine Parteien künftig schwerer haben, motivierte Kandidaten für ihren Wahlkampf zu gewinnen. Wenn absehbar ist, dass die Partei nur mit Mühe mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen holen wird, dann macht die Performance der Direktkandidaten keinen Unterschied mehr. Kandidaten von Parteien, die im Trend liegen andererseits, brauchen sich nicht besonders abzumühen: Ihr Einzug in den Bundestag ist schon allein aufgrund des Zweitstimmenergebnisses wahrscheinlicher. Die Reform hat also auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Wahlkampf. Es besteht das Risiko politisch verwahrloster Wahlkreise, weil der Wählerwille nicht ausreichend repräsentiert wird und die Kandidaten ein demotivierendes Szenario vor Augen haben.

Immer auf die Kleinen

Völlig überraschend erweiterten die Regierungsparteien ihre Wahlrechtsreform um die Streichung der Grundmandatsklausel. Selbst die Fachpresse war von dieser Entwicklung überrumpelt. Fraktionslose Abgeordnete sind in den künftigen Bundestagen also nicht mehr vorgesehen. Nur wenn gewählte Abgeordnete ihre Fraktionen verlassen, gehören sie dem Parlament weiterhin als Fraktionslose an. Die Abbildung regionaler politischer Präferenzen wird so unterbunden.

Es ist in Zukunft nämlich völlig unerheblich, ob Parteien in bestimmten Wahlkreisen und Regionen deutlich mehr Zustimmung erfahren als im Bundesdurchschnitt. In der Geschichte der Bundesrepublik gab und gibt es Parteien, die in manchen Gegenden besonders punkten können und Wahlkreise für sich bestimmen, in anderen Gegenden aber nur die dritte oder vierte Geige spielen. Sie konnten bislang trotzdem Abgeordnete ins Parlament entsenden oder sogar eine Abgeordnetengruppe bilden.

In den 1990er-Jahren profitierte von dieser Regelung besonders die damalige PDS. Auch bei der Bundestagswahl 2021 rettete die Grundmandatsklausel der heutigen Linken den Kopf. Von jeher hatten gerade kleine Parteien durch die Klausel sprichwörtlich einen Fuß in der Tür. Auch wenn ihr Zweitstimmenergebnis nicht für die Bildung einer Fraktion ausreichte, konnten die Wählerinnen und Wähler auf ihre politischen Belange auf sich aufmerksam machen.

Der Wegfall der Grundmandatsklausel ist somit ein Anschlag auf demokratische Entwicklung und Innovation. Vor allem kleine und aufkeimende Parteien werden dadurch von Anfang an abgewürgt. Ihre Chancen, im Bundestag repräsentiert zu sein, sinken erheblich durch den Wegfall einer Regelung, die sich als überaus demokratisch erwiesen hat.

Die unvollständige Reform

Die kürzlich beschlossene Wahlrechtsreform schließt demokratische Türen, ohne an anderer Stelle neue zu öffnen. Beim Ausdruck des Wählerwillens sieht sie einseitig Einschränkungen vor. Die Erststimmen werden künftig weniger zählen als die Zweistimmen, direkt gewählte Kandidaten verpassen womöglich den Einzug in den Bundestag, regionale politische Bewegungen und Strömungen werden konsequent ignoriert. All diese Defizite lassen sich durch einfache und nachvollziehbare Maßnahmen ausgleichen.

Fällt das Direktmandat als Garantie für den Bundestageinzug weg, muss die Sperrklausel sinken. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass Parteien mit hohen Erst- aber niedrigen Zweistimmenergebnissen im Bundestag vertreten sind. Senkt man die Hürde zum Beispiel auf 3 Prozent, wäre es außerdem wahrscheinlicher, dass vorrangig Kandidaten von kleinen Parteien einziehen, die ein Direktmandat errungen haben.

Abgesehen davon, sind Direktmandate durch die neue Reform obsolet geworden. Sie spielen in der Abbildung des Wählerwillens künftig bestenfalls eine nebengeordnete Rolle. Wenn bei unseren Wahlen aber weiterhin der Gleichheitsgrundsatz gelten soll, müssen sie ganz abgeschafft werden. Nach der neuen Regelung verursachen sie einzig ein Ungleichgewicht. Solange die Balance nicht wiederhergestellt ist, bleibt die Reform unvollständig und unehrlich.


Die regierungstragenden Fraktionen haben am 17. März Geschichte geschrieben. Sie haben Schluss gemacht mit einem Wahlsystem, das überaus demokratisch war, das Parlament aber unnötig aufblähte. Mit einem Schnellschuss haben sie beide Aspekte dieses Systems überwunden. Künftige Wahlen werden dadurch nicht gerechter, sondern undemokratischer.

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Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

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Ein vielversprechendes Projekt

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Das 9-Euro – Ticket wird kommen. Allen Unkenrufen und Boykottierungssuchen seitens der Opposition zum Trotz können die Bürgerinnen und Bürger ab Juni für weniger als zehn Euro pro Monat deutschlandweit den öffentlichen Personennahverkehr nutzen. Die Maßnahme entlastet vor allem Menschen, die andernfalls unter den steigenden Spritpreisen zu leiden hätten. Das Ticket ist außerdem ein sinnvolles Werkzeug im Kampf gegen den Klimawandel. Auch wenn das Ampelprojekt nach drei Monate wieder ausläuft, ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Euphorie hat es dennoch nicht ausgelöst.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Seit Monaten steigen die Preise an deutschen Zapfsäulen auf schwindelerregende Höhen. Auch wer in der letzten Zeit Heizöl bestellt hat, erlebte bei einem Blick auf die Rechnung ein böses Erwachen. Autofahren und Heizen sind so teuer wie nie. Der Krieg in der Ukraine und die verhängten Sanktionen gegen Russland treiben die Preise weiter an. Eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Viel eher befürchten Experten, dass es besonders in der kalten Jahreszeit noch einmal zu deutlichen Preissprüngen kommen kann.

An den meisten Menschen im Land geht diese Preisexplosion nicht spurlos vorbei. Sie müssen immer knapper haushalten, um die gestiegenen Kosten zu kompensieren. Für viele ist das inzwischen nicht mehr möglich. Die Bundesregierung begegnet dem rasanten Preisanstieg mit einer Reihe von Hilfsmaßnahmen, welche die Bürger entlasten sollen. Teil des Pakets ist auch das 9-Euro – Ticket, mit dem jeder Bundesbürger in den Sommermonaten deutschlandweit den öffentlichen Personennahverkehr nutzen kann.

Das Ticket wird seit Wochen heiß diskutiert, weil es ein nie dagewesenes Projekt ist. Es schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Es bedeutet große Mobilität für kleines Geld und schont dadurch den Geldbeutel der Bürgerinnen und Bürger. Auf der anderen Seite ist es ein Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel. Der zeitlich begrenzte Umstieg vom Auto auf die Schiene ist gerade in den Metropolen Balsam für die Umwelt. Manche hätten sich noch etwas mehr gewünscht, aber: Das 9-Euro – Ticket ist die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit.

Ernsthafte Bedenken

Das Vorhaben der Regierung wurde in der Bevölkerung ausgesprochen gut aufgenommen. Obwohl manche Menschen leer ausgehen, weil sie beispielsweise eine Monatskarte besitzen, stößt das Ticket durchaus auf große Sympathie.

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten, und so gibt es auch beim 9-Euro – Ticket den ein oder anderen ernsthaften Kritikpunkt. Befürchtet wird vor allem eine Überlastung des Nahverkehrs, weil der Fuhrpark der meisten Verkehrsunternehmen dem zu erwartenden Andrang nicht standhalten wird. Angesichts eines weiterhin grassierenden Virus sind diese Bedenken nicht von der Hand zu weisen.

Indische Verhältnisse?

Alle drei Regierungsparteien waren in den letzten zwanzig Jahren mit unterschiedlicher Durchschlagskraft an der Demontage des Schienennetzes beteiligt. Es ist gut, dass SPD, Grüne und FDP angesichts großer Herausforderungen nun einlenken und eine so sinnvolle Maßnahme auf den Weg bringen.

Besonders kritische Töne zum 9-Euro – Ticket kommen nun aber vom Oppositionsführer Union. Sie werfen der Regierung vor, kopflos an die Sache heranzugehen. Ihrer Meinung nach habe die Ampelkoalition nicht ausreichend im Blick, dass das Ticket zu einem großen Ansturm auf den öffentlichen Nahverkehr führen würde. Wenn nicht gleichzeitig mit einem Ausbau des Schienennetzes und engeren Takten regiert würde, drohten uns Verhältnisse wie in Indien.

Reine Willensfrage

Die Einwürfe aus der Opposition sind fadenscheinig und durchschaubar. Als regierungsführende Fraktion hat die Union schließlich ordentlich bei den Missständen mitgemischt, die sie nun kritisiert. Das Muster wiederholt sich immer wieder: Kaum hinter den Oppositionsbänken, da entdecken manche Parteien plötzlich ihre soziale Ader.

Trotzdem ist noch nicht bei allen Abgeordneten von CDU und CSU angekommen, dass sie keine regierungstragende Partei mehr sind. Ihre Aufgabe als Oppositionspartei besteht nicht darin, möglichst alle Vorhaben der Regierung zu kritisieren, sondern sinnvolle Alternativen aufzuzeigen. Mit ihrem Geplärre wegen des 9-Euro – Tickets sendet die Union aber ein fatales Signal an die Bürgerinnen und Bürger.

So berechtigt einige Kritikpunkte auch sein mögen – wenn man den Menschen im Land nun auch noch dieses Bonbon wieder wegnimmt, dann wird dabei weiteres Vertrauen flöten gehen. Seit vielen Jahren verweigert sich die Regierung einer bürgerfreundlichen Politik, welche die Zeichen der Zeit erkennt. Auf die Forderungen nach besser ausgestatteten Krankenhäusern, mehr Pflegepersonal oder qualifizierten Lehrkräften an Schulen folgt von manchen Politikern routiniert die Frage nach der Finanzierung. 100 Milliarden für den Verteidigungshaushalt erscheinen aber wie aus dem Nichts. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass vieles keine Finanzierungs- sondern eine Willensfrage ist. Die Aussetzung des 9-Euro – Tickets bei dieser Vorentwicklung wäre aus demokratischer Sicht unverzeihlich.

Oppositionsfrust

Es ist eine Schande, dass viele Medien in diesen Chor aus schiefen Tönen und Disharmonien einstimmen. Sie schlachten die wenigen Ausnahmen über Gebühr aus und prophezeien schier anarchische Zustände in deutschen Bussen und Bahnen. Voller Dankbarkeit klammern sich manche Journalisten an diesen von der Union gereichten Strohhalm aus Frustration und Miesepeterei. Sie werden zu willigen Helfern in dem Unterfangen, ein Projekt madig zu machen, welches in Wirklichkeit das Potenzial hat, viel verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Endlich beschließt die Regierung eine Maßnahme, die viele Bürgerinnen und Bürger spürbar entlastet, wenn auch nur für kurze Zeit. Ganz offensichtlich gibt es aber ein Kommunikationsproblem, denn die Euphorie über dieses Projekt blieb bislang aus. Manche haben es zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, als großer Wurf wird es aber nicht vermarktet.

Man merkt deutlich, dass die kritischen Töne in diesem Land inzwischen von einer Partei kommen, die zu lange regiert hat und jetzt ein ernsthaftes Problem damit hat, dass andere Parteien den Finger in die Wunde legen. Anstatt sich konstruktiv an der Beseitigung des selbstverursachten Scherbenhaufens zu beteiligen, krakelen die Abgeordneten in Söder’scher Manier lieber wild drauf los und tun die respektablen Vorhaben der Regierung als naive Tagträumereien ab.

Regierung ohne Wumms

Zugegeben: Die Ampelregierung macht es der Neuopposition mitunter ziemlich leicht, das Kartenhaus ins Wanken zu bringen. Eine selbstbewusste Regierung sieht anders aus. Das könnte aber an der Führungsschwäche des neuen Kanzlers liegen, der einige Gestalten in sein Kabinett aufgenommen hat, deren Stuhl schon wenige Monate nach Regierungsantritt wackelt.

Ein Kanzler mit Wumms müsste auf den Tisch hauen und die Erfolge einer angeblichen Fortschrittkoalition klar benennen. Gepaart mit dem erhöhten Mindestlohn ab Herbst ist das 9-Euro – Ticket ein Projekt, das sich zur Abwechslung endlich in Bürgernähe übt. Doch diese Botschaft kommt bei den Menschen nur unzureichend an. Bisher haben es die Entlastungspakete der Regierung nicht geschafft, die Menschen aus der politischen Passivität herauszuziehen.

Die Landtagswahl in NRW ist ein Indiz für die politische Stimmung im Land. Als einzige Ampelpartei konnten die Grünen dazugewinnen, SPD und FDP sind abgeschmiert. Sicher, im Saarland holten die Sozen vor kurzem die absolute Mehrheit und die AfD muss in mehreren Bundesländern um den Fraktionsstatus bangen. Das alles zeigt, dass sich die etablierten Parteien weiter durchsetzen. Es zeigt aber nicht, dass die Menschen mit der Politik zufrieden sind. Die Wählerwanderung, gerade von der AfD ausgehend, zeigt deutlich, dass sich viele zu den Nichtwählern gesellt haben.


Das 9-Euro – Ticket ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es darf ab September nicht wieder Schluss sein mit Bürgernähe. Im nächsten Schritt muss die Schiene wiederbelebt werden, damit viele auch in Zeiten ohne das günstige Ticket eine Alternative zum Auto haben und von den explodierenden Spritkosten verschont bleiben. Vertrauen gewinnt man nicht durch einzelne Maßnahmen zurück. Der Gesamtkurs muss stimmen. Die Regierung muss standhaft bleiben und darf sich nicht bei Gegenwind aus der Opposition wegducken. Gute Politik macht man nicht für die Opposition, sondern für die Menschen im Land.

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Hauptsache regieren

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Momentan laufen die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP auf vollen Touren. Das gesteckte Ziel ist eindeutig: Noch vor Weihnachten soll eine Regierung stehen. Das veröffentlichte Sondierungspapier versprach bereits Einigungen in wesentlichen Punkten. Diese betont locker-flockige Harmonie täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass besonders die Grünen zurückstecken mussten. Beim Klimawandel bleibt das Papier chronisch unkonkret, die Finanzierung ist fragwürdig und die kleinen Leute fallen hinten runter. Ein echter Neustart bleibt aus.

Weniger als vier Wochen nach der Bundestagswahl haben sich SPD, Grüne und FDP zu Koalitionsverhandlungen bereiterklärt. Dieser Fortschritt bei der Bildung einer neuen Regierung ist beachtlich, dauerte es in der Ära Merkel doch regelmäßig deutlich länger, bis sich in neues Kabinett zusammenfand. Wie es aussieht, können die drei Parteien ihr Versprechen vom Wahlabend halten: Noch vor Weihnachten wird eine neue Regierung stehen.

Koalition nach Drehbuch

Niemanden dürfte es ernsthaft überraschen, dass sich die Ampel-Parteien in so kurzer Zeit in vielen Punkten einig wurden. Bereits vor der Wahl vom 26. September zeichnete sich ein Ampelbündnis ab. Rot-Grün-Rot war auch wie bei den letzten Wahlen bereits im Wahlkampf kein echtes Thema mehr, Jamaika scheiterte maßgeblich an der Personalie Armin Laschet. Nicht einmal Christian Lindner war bereit, mit dieser tragisch-komischen Witzfigur zu koalieren.

Annalena Baerbock war in den Wochen vor der Wahl eher Dekoration als ernsthafte Konkurrentin. Ihre Aufgabe bei den Kanzlertriellen beschränkte sich darauf, den beiden anderen Kandidaten zu demonstrieren, welche Vizekanzlerin sie sich womöglich ans Bein binden würden. Zwischenzeitlich gilt selbst Baerbocks Vizekanzlerschaft nicht mehr als gesetzt.

Keine Lust auf Weiter-so

Auch die Medien erkannten schnell, welches Potenzial in der Ampel steckt. Nach sechzehn Jahren Merkel wäre es für keinen Unionskandidaten leicht gewesen, den Scherbenhaufen zusammenzukehren und das Machtvakuum der scheidenden Kanzlerin zu besetzen. Armin Laschet hat es den Journalisten und Nachrichtensendungen allerdings schon beachtlich leichtgegemacht, ihm von vornherein den Stempel des geborenen Verlierers aufzudrücken.

Die Lust auf eine Regierung ohne die Union war jedenfalls lange Zeit spürbar. Spätestens am Wahlabend stand fest, dass die alte Kanzlerpartei abzutreten habe. In absoluten Zahlen gemessen, verlor an diesem Abend keine Partei so stark wie die CDU. Die Wahlgewinner des Abends waren SPD, Grüne und FDP. Alle drei Parteien konnten teilweise deutlich zulegen. Eine gemeinsame Regierungskoalition ist allerdings nicht die zwangsläufige Folge daraus.

Vorbei sind die Zeiten der Lagerkoalitionen, in denen ausschließlich Parteien zusammenarbeiteten, die sich politisch besonders nahestanden. Schwarz-Gelb ist schon lange passé und auch eine Mehrheit des linken Lagers dürfte sich nach dem desaströsen Abschneiden der Linkspartei auf absehbare Zeit erledigt haben. Neue Bündnisse sind gefragt und es erstaunt schon, wie schnell sich die drei Akteure grundsätzlich geeinigt haben. Immerhin wurden alle drei Parteien von unterschiedlichen Wählerschichten aus unterschiedlichen Gründen gewählt.

Keine halben Sachen

Auf den ersten Blick scheint das Sondierungspapier eine breitgefächerte Sammlung guter Ideen zu sein. Es ist tatsächlich für jeden was dabei. Schaut man aber genauer hin, so entzaubert sich dieses heißerwartete Dokument des Aufbruchs von selbst. An vielen Stellen bleibt das Papier blass und unkonkret. Besonders die Frage der Finanzierung ist nach wie vor nicht geklärt.

Fakt ist: Die Ergebnisse aus Sondierungsgesprächen sind noch kein Regierungsprogramm. Diesen Anspruch sollte man an die Gesprächsergebnisse der drei Parteien nicht stellen. Trotzdem bleibt der erhoffte Neustart aus, sollten es die wesentlichen Punkte in den Koalitionsvertrag schaffen. Besonders enttäuschend sind dabei die vereinbarten Ziele beim Kampf gegen den Klimawandel. Der vorgesehene Ausbau der erneuerbaren Energien wird nicht ausreichen, um den Energiebedarf des gesamten Landes zu decken. Die Pflicht zum Solardach ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Ausstieg aus der Kohleenergie bis 2030 ist lediglich ein idealer Wert. Von grünem Mut fehlt in diesem Sondierungspapier jede Spur.

Ähnlich sehen es auch die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Sondierungsergebnisse protestierten sie lautstark gegen dieses Weiter-so beim Klimaversagen. Bei einer Protestkundgebung vor der SPD-Parteizentrale machten sie deutlich, dass es für sie keine halben Sachen gäbe. Der Frust der jungen Generation ist umso bedauerlicher, waren es doch vorrangig die Erstwähler, die Grünen und FDP das Vertrauen aussprachen.

Hauptsache regieren

Viele Medien sprachen davon, dass die Sondierungsergebnisse die Handschrift der FDP trügen. Es stimmt: An keiner Stelle wird das so deutlich wie beim Verzicht auf ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Durchgesetzt haben sich nicht Verkehrssicherheit und Klimaschutz, sondern die testosterongesteuerte Bequemlichkeit der Liberalen. Es ist beinahe zynisch, dass die FDP dafür eine andere für sie schmerzhafte Konzession gemacht hat: Der Mindestlohn soll in einem Schritt auf 12 Euro steigen.

Das Sondierungspapier offenbart aber auch den unbedingten Willen der Grünen, an der nächsten Bundesregierung beteiligt zu sein. Nur durch sie könne ein echter Aufbruch beim Kampf gegen den Klimawandel kommen. Allerdings attestierten Experten dem grünen Wahlprogramm schon vor der Bundestagswahl, dass viele Forderungen nicht weit genug gingen, um dieser Menschheitsaufgabe zu begegnen. Beinahe logisch ist es daher, dass die Grünen selbst ihre Mini-Forderung mit dem Tempolimit einstampften, um die FDP nicht zu verschrecken.

Wer zahlt?

Egal, ob das Sondierungspapier die Handschrift von FDP, Grünen oder sonstwem trägt – es ist kein Regierungsprogramm für die kleinen Leute. Es vernachlässigt Menschen mit geringem Einkommen und solche, die in prekären Verhältnissen beschäftigt sind. Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro scheint zunächst ein großer Wurf zu sein. Aber nicht einmal die FDP kann vor der rasant steigenden Inflationsrate die Augen verschließen, die eine so deutliche Steigerung überfällig macht.

Generelle Steuerhöhungen und eine Wiedereinführung einer Vermögensabgabe haben die drei Partner bereits ausgeschlossen. Gleichzeitig möchten sie aber diszipliniert zur Schuldenbremse zurückkehren. Diese Entscheidung trifft die Schwächsten in der Gesellschaft am meisten. Es dürfte vorprogrammiert sein, wo das viele Geld dann herkommen soll: Der Rotstift wird vorrangig bei Sozialausgaben angesetzt. Die Einhaltung der Schuldenbremse blockiert außerdem wichtige Investitionen in elementare Bereiche der Infrastruktur. Die Straßen, Schulen und Krankenhäuser werden auch in den kommenden vier Jahren zunehmend verfallen, wenn es zu dieser Regierungskonstellation kommt.

Hartz-IV reloaded

Den Gipfel an Wählertäuschung erreicht das neue Regierungstrio allerdings bei einem anderen Herzensprojekt: dem Bürgergeld. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein umgetauftes Hartz-IV. Diese fragwürdige Umbenennung wird nichts ändern an Bevormundung, Gängelei und Perspektivlosigkeit. Stattdessen taugt der neue Name eher dazu, bereits vorhandene Fehlannahmen zu verfestigen. Ein Bürgergeld suggeriert, dass darauf jeder Bürger zu jeder Zeit Anspruch hat. Dieses bedingungslose Grundeinkommen light wirft auch in Zukunft ein falsches Bild auf seine Bezieher. Mehr als zuvor werden sie als faule Dauerarbeitslose gelten, die sich für jede Arbeit zu fein sind. An der gesellschaftlichen Spaltung ändert das nichts.

Viel Hoffnung steckten viele Wählerinnen und Wähler in diese neuartige Regierungskoalition. Weiterhin bleibt eine Mehrheit der Menschen im Land der Ampel wohlgesonnen. An den bislang gelieferten Inhalten kann das kaum liegen. Die Alternative wäre eine Jamaika-Koalition, aber die Union tut wirklich alles, um die Wählerinnen und Wähler in ihrer Entscheidung vom 26. September zu bestätigen. Nicht alles in Deutschland wird durch die Ampelkoalition schlechter. Wesentlich besser wird es nach vier Jahren Scholz aber nur den wenigsten gehen.

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