Vertrauter Feind

Lesezeit: 8 Minuten

Die neuen Anti-Corona – Maßnahmen treffen Gastronomie und Kultur bis ins Mark. Viele Betriebe stehen endgültig vor dem Ruin, wenn nicht bald gegengelenkt wird. Steif und fest behaupten viele, für die steigenden Fallzahlen nicht verantwortlich zu sein. Die Zahlen steigen trotzdem weiter. Immer offensichtlicher wird: Die Übeltäter sind an anderer Stelle zu suchen. Sie sind praktisch überall und verstehen es meisterlich, sich aus der Schusslinie zu bringen. Den Frust kriegen währenddessen andere ab…

Wer war’s?

Seit Montag gelten bundesweit verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Explosionsartig steigende Infektionszahlen zwingen die Verantwortlichen dazu, erneut solch drastische Maßnahmen zu treffen. Schulen und Kitas sollen so lange wie möglich geöffnet bleiben. Gaststätten, Hotels und fast sämtliche Einrichtungen des Kulturbetriebs müssen ihre Pforten allerdings für die nächsten vier Wochen schließen. Unmut darüber macht sich breit. Die wirtschaftlichen Folgen des ersten Lockdowns sind noch lange nicht überschaubar und erst recht nicht verdaut. Viele befürchten, dass es finanziell nun solchen Betrieben an den Kragen geht, die in der ersten Jahreshälfte relativ glimpflich davongekommen sind.

Das ist berechtigt und nachvollziehbar. Immer wieder zweifeln vor allem betroffene Betriebe an, dass die steigenden Fallzahlen aus ihrem Bereich herrühren. Gastronomen verweisen auf die strikte Maskenpflicht in ihren Häusern. Erst am Platz und zum Einnehmen der Speisen dürfen die Masken abgenommen werden. Ähnlich argumentieren Vertreter aus dem Kulturbereich. Abstandhalten und freie Plätze bei Kinovorstellungen und öffentlichen Darbietungen gehören längst zur Normalität der Branche. Auch der Tourismus versteift sich vehement darauf, dass von Reiserückkehrern kein erhöhtes Infektionsrisiko ausgehe. Nun kann man den Beteuerungen aus den verschiedenen Bereichen unterschiedliches Gewicht beimessen. Fakt ist allerdings: Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis die Zahl der Neuinfektionen die 20.000er-Marke knackt.

Bekanntes Muster

Viele der Argumentationen in dieser Frage laufen den wissenschaftlichen Erkenntnissen in eklatant auffälliger Weise entgegen. Es mag fundierte und seriöse Auswertungen und Studien geben, die das unterschiedliche Infektionsrisiko aus den verschiedenen Bereichen belegen. Doch der Hinweis darauf, dass es gerade in diesem oder in jenem Bereich kaum zu Ansteckungen kommt, ist inzwischen längst zur ausgeleierten Floskel verkommen. Da wird auch schon das ein oder andere Mal auf „Studien“ verwiesen, die die eigene Argumentation untermauern. Viele dieser spontanen wissenschaftlichen Erkenntnisse basieren allerdings auf Hörensagen. Mit vermeintlichen Fakten versucht man eine Wahrheit zu generieren, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als eine Meinung.

Diese Meinung wird mit zusammengeklaubten Zahlen und Analysen zum unumstößlichen Fakt gestutzt. Das hat bereits in der Flüchtlingskrise bestens funktioniert. Hier dichtete man den Asylantinnen und Asylanten vier- oder fünfstellige Geldbeträge an, die sie angeblich an Sozialleistungen erhielten. Belege dazu? Fehlanzeige. Und so wurde die Meinung von eben zur dreisten Lüge. Ich halte es für brandgefährlich, in der Coronakrise auf den gleichen Zug aufzuspringen und wahllos mit vermeintlich wissenschaftlichen Fakten um sich zu werfen.

Das Phantom der Krise

Nun behauptet fast jede Branche, dass sie nicht für die steigenden Coronazahlen verantwortlich ist. Die Fallzahlen steigen indes ungehindert weiter. Es gibt daher mehrere Möglichkeiten: entweder die Betriebe und Einrichtungen sagen die Wahrheit und die Infektionen entstehen tatsächlich an anderer Stelle oder sie lügen. Vielleicht machen sie aber auch von beidem ein bisschen. Möglicherweise gibt es gar nicht „den“ Hotspot. Was wäre denn, wenn sich die Übeltäter branchenübergreifend bewegten? Und das nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Raum? Was, wenn nicht die Branchen an sich für die Neuinfektionen verantwortlich sind, sondern das Verhalten von einigen Gästen, Kunden und Besuchern?

Man sieht sie schließlich überall: in Bahnen, in Geschäften, in dicht gedrängten Einkaufsstraßen. Die obligatorischen Falschträger und Maskenverweigerer gehören fast so lange zum Bild wie es die Pandemie gibt. Wie Quotenmenschen schlängeln sie sich durch alle Bereiche des Lebens. Diese unverantwortlichen Mitbürger pfeifen auf die geltenden Hygienebestimmungen. Tagsüber tragen sie die Maske bestenfalls direkt unter der Nase. Erbarmt sich der Bahnfahrer dazu, die Heizung anzustellen, wandert der Stofffetzen gerne auch mal bis unter das Kinn. Zwischendurch beglücken sie zwei Aldi- und eine REWE-Filiale mit ihrem Besuch. Dort greifen sie beherzt in die Obst- und Gemüseauslage – keine Frucht kann ihrem Griff entkommen. An der Kasse fehlt ihnen die Bewegung. Sie merken, dass sie frieren und kuscheln sich vertraut an die wartende Person vor ihnen. Den Tag runden sie mit einer legendären Coronaparty ab, zu der neben den 270 facebook-Freunden auch sämtliche Follower von Instagram eingeladen sind.

Vertrauter Feind

Diese Menschen sind dafür verantwortlich, dass die Zahlen ins unermessliche steigen und Restaurants, Hotels und Fitnessstudios wieder dichtmachen mussten. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir erneut solch schwere Einschränkungen ertragen müssen. Und hier wird’s schwierig: Diese Unverantwortlichen sind ausgesprochen heterogen. Es sind nicht überwiegend Männer und auch nicht vorwiegend Frauen. Sie können jung und alt sein, groß und klein. Sie können einen Professorentitel tragen oder ihre schulische Karriere bereits nach der neunten Klasse Hauptschule beendet haben. Für Bequemlichkeit ist Intelligenz kein Hindernis. Das einzige, was diese Menschen gemeinsam haben, sind schöne Nasen. Diese wollen sie mit der ganzen Welt teilen. Keine Maske, kein Abstandsstrich, keine Kontaktbeschränkung und erst recht keine Sperrstunde kann sie davon abhalten.

Vielleicht gäbe es ja aber doch eine Möglichkeit, dem unverantwortlichen Treiben dieser Menschen Einhalt zu gebieten. Wenn sie ausreichend gesellschaftlichen Druck zu spüren bekämen, würden viele von ihnen möglicherweise einlenken. Stattdessen werden sie seit Monaten geduldet, um nicht zu sagen hofiert. Der Frust und der Zorn richtet sich gegen die Politik, insbesondere gegen die Bundesregierung. Sicher kann die Zielgenauigkeit und auch das Zustandekommen der beschlossenen Maßnahmen kritisiert werden. Ist es sinnvoll, sämtliche Restaurants zuzumachen? Hätte nicht vorher das Parlament befragt werden müssen? Sicher ist aber auch, dass die Regierung aufgrund der jüngsten Entwicklungen unter gewaltigem Zugzwang stand. Sie lenkt dagegen, weil sie es muss. Den Grund dafür haben andere geschaffen.

Gefährliche Dynamik

Eine kleine Minderheit in der Bevölkerung lässt keine Gelegenheit aus, die Hygienemaßnahmen zu unterwandern und mit Füßen zu treten. Immer wieder muss die Mehrheit das Fehlverhalten dieser Minderheit ausbaden – ob durch Hamsterkäufe, verschärfte Maskenpflicht oder gestrichene Theaterbesuche. Es ist falsch, andere dafür verantwortlich zu machen. Der Finger muss auf jeden deuten, der in der Bahn die Maske runterzieht, sobald der Kontrolleur sich umdreht. Stattdessen versteifen sich immer mehr auf die Politik als den Unheilbringer in der Coronakrise. Den absoluten Tiefpunkt an menschlichem Niveau erreichten kürzlich der Wirt einer Bar in Berlin: Er erteilte der Bundeskanzlerin kurzerhand Hausverbot. Als die Zustimmung dafür vorwiegend aus der rechten Ecke kam, ruderte er zurück. Den fragwürdigen Beifall hätte man leicht vorhersehen und vermeiden können. Aber es eben immer leichter, gegen eine weit entfernte Gruppe vorzugehen als sich mit den Offensichtlichkeiten auseinanderzusetzen.

Eine dieser Offensichtlichkeiten sind schlechte Vorbilder, die auch in der Politik vertreten sind. Die AfD gibt all denen Rückhalt, die zu feige sind, sich den Problemen zu stellen. Im Falle der Hygienemaßnahmen sind die Rechtspopulisten sogar aufgestiegen. Sie sind nun nicht mehr nur geistige Brandstifter, sondern aktive Vormacher. Immer wieder fallen die Abgeordneten der Fraktion im Bundestag durch eine sehr laxe Handhabung der allgemein gültigen Verordnungen auf. Wie soll die Pandemiebewältigung gelingen, wenn selbst im Bundestag Menschen sitzen, die mehr Probleme schaffen als welche zu lösen?

Solche Menschen setzen eine gefährliche Dynamik in Gang. Das Fehlverhalten weniger provoziert umfangreichere und härtere Maßnahmen, um der Lage Herr zu werden. Diejenigen, die den bisherigen Einschränkungen skeptisch gegenüberstanden, fühlen sich in ihren Ansichten bestätigt und torpedieren die härteren Maßnahmen. Die Querdenker und Querschießer der Nation haben Zulauf und machen ihrem Namen alle Ehre. Sie kommen der Sicherheit und der Gesundheit der Bevölkerung nämlich tatsächlich in die Quere. In ekelhafter Selbstgefälligkeit rühmen sie sich dafür, eine andere Meinung zu haben als die Mehrheit. Sie merken nicht, dass echte Kritik immer eine Verbesserung beabsichtigt. Sie aber zerstören.


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Ohne Ausgleich

Lesedauer: 9 Minuten

Nach zähen Verhandlungen hat sich die Regierungskoalition vergangene Woche nicht nur auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds geeinigt. Auch eine Reform des Wahlrechts nimmt die Regierung nun endlich in Angriff. Der Kompromiss von Union und SPD ist allerdings mehr als enttäuschend. Herausgekommen ist eine Lösung, die vor allem die CSU pusht, während die Opposition in die Röhre schaut. Der Ausblick auf eine umfassendere Reform bis 2025 klingt daneben wie ein schlechter Witz.

Das verflixte siebte Jahr

Paukenschlag. Mit dem kürzlich beschlossenen ersten Schritt zu einer Wahlrechtsreform hat die Bundesregierung nun endlich ein Projekt praktisch in Angriff genommen, das bereits seit 2013 theoretisch auf dem Tisch liegt: eine Reform des Wahlrechts. Die ganz Schlauen werden bemerkt haben, dass das exakt die Zeit ist, seit der die GroKo am Drücker ist. Sieben Jahre lang passierte aber so gut wie nichts. Doch selbst die Große Koalition muss nun einsehen, dass 709 Abgeordnete im Bundestag jeglichen Rahmen sprengen und es den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären ist, warum der nächste Bundestag im Zweifelsfall mehr als 800 Abgeordnete beherbergen sollte.

Aus der letzten Wahlperiode hat die Opposition wohl gelernt, dass von der Regierung bei diesem Thema ganz bestimmt kein großer Wurf zu erwarten ist. Deswegen setzten es drei der vier Oppositionsfraktionen in der laufenden Legislaturperiode immer wieder auf die Tagesordnung. Und weil die Opposition nun einmal Opposition ist, werden ihre Vorschläge von der Regierung natürlich abgelehnt.

Doch weil man vor einer Horde von mehr als 700 Abgeordneten nicht mehr die Augen verschließen konnte, stand die Regierung zuletzt unter dringendem Zugzwang. Nachdem es gerade der Unionfraktion gelungen war, das Thema sieben Jahre lang zu verschleppen, kommt die Einigung nun sogar noch später als auf den sprichwörtlich letzten Drücker. Denn bereits im Frühjahr wies die Opposition darauf hin, dass eine Entscheidung allerspätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 2020 vorliegen müsste. Andernfalls wäre eine deutliche Verkleinerung des Parlaments ausgeschlossen. Und genau so wird es jetzt auch kommen. Der von der Regierung beschlossene erste Schritt ist bestenfalls dazu geeignet, eine Vergrößerung des Bundestags bedingt zu verhindern. Deutlich kleiner wird er durch diesen Tippelschritt aber nicht.

Verweigerung mit Ankündigung

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht mehr ausgeglichen wird. Diese Entscheidung nimmt also nur Einfluss auf die Stimmauszählung im September 2021, nicht aber auf die generelle Richtgröße des Bundestags. Sie ist also bloße Symptombekämpfung und wenig nachhaltig. Erst im zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2025 soll ein Konzept folgen, das die Anzahl an Abgeordneten wieder auf ein erträgliches Maß senken soll. Die Bundesregierung hat also erneut vier Jahre lang Zeit, das Problem zu verschleppen und am Ende wieder nicht zu lösen. Vielleicht werden dann bei der Wahl 2025 noch mehr Überhangmandate nicht ausgeglichen.

Der Koalitionsausschuss beriet in der gleichen Sitzung übrigens auch über die Verlängerung einiger Corona-bedingten Maßnahmen. Das prominenteste Ergebnis ist bestimmt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Gerade weil mit Union und SPD zwei im Prinzip grundverschiedene Fraktionen in der Regierung sitzen, waren zähe Verhandlungen vorprogrammiert. Es ist allerdings schon ziemlich bedenklich, dass die Parteien diese Diskussion schneller abgefrühstückt haben als die Wahlrechtsreform. An diesem Punkt saßen sie in der Sitzung nämlich wesentlich länger.

Die Koalition muss über ein an und für sich so untergeordnetes Thema also länger diskutieren als über einschneidende arbeits- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Denn die Wahlrechtsreform ist doch nur deshalb so dringend, weil sie seit Jahren verschleppt wurde. Selbst FDP, Linke und Grüne sind einvernehmlich – und vor allem schneller – zu einem Kompromiss gekommen. Ganz offensichtlich ist selbst diese unübliche Konstellation inzwischen handlungsfähiger als die Bundesregierung.

Ungleiche Wahl

Aber natürlich ist das Thema Wahlrechtsreform für den gemeinen Parlamentarier existenzbedrohender als die Weiterzahlung von Kurzarbeitergeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Entscheidungsträger von Kurzarbeitergeld abhängig sein wird, ist verschwindend gering. Die nächste Bundestagswahl aber kommt bestimmt. Und da will man natürlich das beste für sich rausholen. Alles eine Frage der Motivation.

Geht es nach der Bundesregierung, sollen bei der kommenden Wahl im nächsten Jahr drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Die Nachteile dieser Überlegung liegen auf der Hand. Vor allem die Unionsfraktion profitiert von der großen Anzahl an Überhangmandaten. Würden diese nicht mehr ausgeglichen werden, stünde diese Fraktion besser da als die übrigen Fraktionen. Das ist mit dem Gleichheitsprinzip der Wahl nicht vereinbar. Denn zwangläufig würden Stimmen für die jetzige Opposition dadurch entwertet werden. Wer für AfD, FDP, Linke oder Grüne stimmte, der hätte bei der Wahl 2021 weniger Einfluss als solche Wähler, die CDU, CSU oder SPD wählten.

Gegen den Wählerwillen

Die Zahl 3 klingt dabei harmloser als sie letztendlich ist. Denn drei nicht auszugleichende Überhangmandate heißen nicht automatisch, dass es nur drei Sitze weniger gibt. Ein einzelnes Überhangmandat kann zu mehreren Ausgleichsmandaten führen. Es ist also zu erwarten, dass bei dem jetzt vorgeschlagenen Konzept alle Oppositionsfraktionen den schwarzen Peter ziehen werden. Denn eine Kappung der Ausgleichsmandate verzerrt das Zweitstimmenergebnis immer.

Das könnte weitreichende Folgen für die kommende Wahl haben, aber auch für die Demokratie an sich. Wer mit der jetzigen Regierung nicht einverstanden ist, der wählt natürlich Opposition. Aber warum sollte er das tun, wenn seine Stimme im Zweifel weniger wiegt als eine Stimme für das Weiter so? Die jetzt getroffene Lösung geht an dem bestehenden Problem also blindlinks vorbei und schafft zudem ein weiteres: Sie ist ein Anreiz zum Nichtwählen.

Denn ein Wechsel auf der Regierungsbank wird durch den Kompromiss von Union und SPD unwahrscheinlicher. Die gefühlt ewig regierende Union würde so noch weiter künstlich an der Macht gehalten werden. Mit einer repräsentativen Demokratie hat das dann nur noch wenig zu tun. Der Volkswille würde nämlich nicht mehr 1:1 abgebildet werden. Es gäbe mehr Direktmandate als Listenmandate. Bisher wird jedes direkte Überhangmandat mit einem Ausgleichsmandat von den Landeslisten aufgewogen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr so.

Wider die Verfassung

Auch hier sorgt die Union allerdings für einen Klopfer. Überschüssige Direktmandate sollen künftig mit Listenmandaten der gleichen Fraktion aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Selbst innerhalb der Unionsfraktion ist die CSU also klar im Vorteil. Denn gerade diese bayrische Provinzpartei erzielt traditionell die meisten Überhangmandate. Jetzt kann sie der Schwesterpartei ungehindert Listenmandate aus anderen Bundesländern absaugen. Das führt nicht nur zu einer ungerechten Bevorteilung der CSU, sondern zu einer noch tiefergreifenden Benachteiligung aller Listenmandate insgesamt.

Der Vorschlag von Union und SPD zeigt außerdem deutlich, dass die Parteien überhaupt nicht verstanden haben, wo das Problem liegt. Okay, der Bundestag schwillt seit Jahren immer weiter an. Das liegt hauptsächlich an den außer Kontrolle geratenden Überhangmandaten. Anstatt dann den Ausgleichsmandaten an den Kragen zu gehen, sollte man sich zu allererst fragen, woher diese Flut an Überhangmandaten überhaupt kommt. Aus Bayern, könnte man jetzt flapsig sagen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr laut Zweitstimmenergebnis zusteht. Warum war das früher kein Problem?

In den Nachkriegsjahrzehnten saßen sehr lange nur drei Fraktionen im Bundestag: die Union, die SPD und die FDP. Andere Parteien hatten selten eine Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden. Auch aus diesem Grund haben die Wählerinnen und Wähler seltener für sie gestimmt. Dann kamen die Grünen als vierte Kraft mit Turnschuhen in den Bundestag gelatscht. Nach dem Mauerfall gesellte sich die PDS dazu und seit einigen Jahren erweitert die AfD das Parteienspektrum im Bundestag. Die Wählerinnen und Wähler haben also eine größere Auswahl an Parteien, die den Einzug wahrscheinlich schaffen werden. Umso größer ist auch die Bereitschaft, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben. Auf diese Weise kann das Erststimmenergebnis erheblich vom Ergebnis der Zweitstimmen abweichen. Überhangmandate entstehen.

Letztendlich gibt es nur eine Möglichkeit, diese Überhangmandate demokratisch in Grenzen zu halten: durch eine Neuzuschneidung der Wahlkreise. Die Zahl der Wahlkreise muss deutlich verringert werden. Damit sinkt auch die Richtgröße des Bundestags. Überhangmandate entstehen trotzdem, aber nicht mehr in so großer Zahl, schließlich gibt es ja weniger Wahlkreise. Außerdem kann der Anspruch an eine Wahlrechtsreform nicht sein, möglichst viele Überhangmandate zu verhindern. Die Entscheidung, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben, ist ein Ausdruck lebendiger Demokratie und des freien Wählerwillens. Der aktuellste Vorstoß beschneidet den Einfluss der Wählerinnen und Wähler allerdings. Er ist nicht gerecht; er ist nicht demokratisch. Er ist verfassungswidrig.

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Klatschen statt Kleckern

Lesedauer: 7 Minuten

Im ganzen Land erfüllen Solidaritätsbekunden für medizinisches Personal, für Kassiererinnen und Kassierer und für Polizei- und Feuerwehrbeamte die sozialen Netzwerke. Manche Menschen stellen sich sogar demonstrativ an ihre Fenster oder auf ihre Balkons, um für diese Pfeiler unserer Gesellschaft zu applaudieren. Der Bundestag hat sich daran nun ein Beispiel genommen und es den Bürgerinnen und Bürgern gleichgetan. Die nachfolgenden Reaktionen und Entwicklungen überraschten dabei selbst die erfahrensten Parlamentarier.

Geste mit Wirkung

Am 25. März erhoben sich die Abgeordneten des Bundestags und die Mitglieder der Bundesregierung von ihren Plätzen, um den Menschen in sogenannten systemkritischen Berufen Respekt zu zollen. Die stehenden Ovationen galten all denjenigen, die während der Corona-Krise die Infrastruktur des Landes aufrechterhalten – also Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, Polizistinnen und Polizisten, aber auch Verkäuferinnen und Verkäufer sowie alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Was als Akt der Anerkennung und der Ermutigung gedacht war, entfaltete schon bald eine noch erfreulichere Dynamik. Denn tausende Jugendliche waren von dieser menschlichen Geste der Parlamentarier derart gerührt, dass sie sich spontan für eine Ausbildung in den angesprochenen Berufen entschieden. Vor allem Krankenhäuser wurden in den Folgetagen von einer Welle an Bewerbungen geradezu überflutet.

Die angespannte Lage in den Kliniken aufgrund der Corona-Krise lässt eine zeitnahe Sichtung der zahlreichen Bewerbungen allerdings nicht zu. Viele Klinikleitungen signalisierten bereits, dass eine Auswahl frühestens im Sommer getroffen werden könnte. Man sei hocherfreut darüber, dass so viele junge Menschen nun einen Beruf im Gesundheitswesen ergreifen wollen, doch stehe die Versorgung der an Covid-19 erkrankten derzeit im Vordergrund.

Klatschen statt Kleckern

Nicht nur die Jugend wurde von der herzerwärmenden Aktion im Bundestag ergriffen. Tarifpartner und Gewerkschafter fielen sich sprichwörtlich in die Arme (also nur virtuell). Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz gaben sie bereits einen Tag später bekannt, dass es ab dem 1. Mai eine Lohnsteigerung von durchschnittlich 20 Prozent für Angestellte im Gesundheitswesen geben würde. Auch einen verbindlichen Personalschlüssel stellten die Vertreter stolz vor.

Doch damit riss die Serie an glücklichen Wendungen lange nicht ab. Anonyme Großunternehmer investierten ihre milliardenschweren Renditen sogleich in die Herstellung lebensrettender Beatmungsgeräte und Intensivbetten, die den Kliniken ab kommender Woche zur Verfügung stehen sollen.

Die Mitglieder des Bundestags merkten schnell, dass sie auf eine politische Goldader gestoßen waren. Im Eilverfahren beschlossen sie, bei schwierigen Themen langatmige Debatten zukünftig durch mehrminütiges Klatschen zu ersetzen. Davon versprechen sie sich schnellere und bessere Ergebnisse als bisher. Die Offensive nennen sie „Klatschen statt Kleckern“.

Zeichen gegen Mietwucher

Die neue Herangehensweise trägt auch in anderen Bereichen bereits Früchte. Um die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entspannen, ließen sich die Abgeordneten erneut zu langanhaltendem Klatschen hinreißen. Einzelne Mandatsträger der Koalitionsparteien stiegen sogar auf ihre Tische, um dem Applaus noch mehr Wirkungskraft zu verleihen. Der Beifall gebührte in diesem Fall all den Mietern, die gierigen Vermietern und Miethaien trotz aller Widrigkeiten tapfer die Stirn boten.

Auch in diesem Fall ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten. Angesichts der unglaublichen Zustände auf dem Wohnungsmarkt stellten viele private Miet- und Wohnungsunternehmen ihre Scham öffentlich zur Schau. In zahlreichen Beiträgen in sozialen Netzwerken zeigten sie sich entsetzt darüber, in welch abgefahrener Situation sich viele Mieterinnen und Mieter befänden. Sie kündigten weitreichende Maßnahmen zur Verbesserung der Mietsituation in Deutschland an.

Der Vermieterbund München wurde dabei deutlich konkreter. Er vereinbarte eine Senkung der innenstädtischen Miete um durchschnittlich ein Drittel der jetzigen Kaltmiete. Die Mieterleichterungen dort sollen ab Herbst in Kraft treten.

Bundesweit gründete sich spontan der Verbund zur Schaffung von Wohnraum (VSW). Es handelt sich dabei um ein Konglomerat aus privaten Vermietern, Großunternehmern der Branche und Politikern. Gemeinsam können sie vor allem Großstädten mehrere Millionen Euro für den Bau von Wohnungen zur Verfügung stellen. Experten erwarten, dass sich bereits in wenigen Monaten eine Entspannung der Lage im ganzen Land abzeichnen wird.

Applaus gegen Altersarmut

Ganz aktuell klatschte der Bundestag für Rentnerinnen und Rentner, die tagein tagaus und bei Wind und Wetter Pfandflaschen aus überfüllten Müllbehältern fischen. Die betroffenen Senioren fühlten sich dadurch enorm ermutigt. Viele von ihnen nutzten die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, um öffentliche Plätze von herumliegendem Pfandgut zu befreien. Mehrere lokale Tageszeitungen berichteten von diesen Trümmerrentnern, die wie nach dem Krieg ihr bestes gaben, um die Szenerie in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.

Spärliche Reaktionen auf den erneuten Beifall der Bundestagsabgeordneten gab es bisher von Seiten der Deutschen Rentenversicherung (DRV). Es ist allerdings davon auszugehen, dass diese Behörde aufgrund eines WLAN – Schadens bisher noch gar nichts von der rührenden Aktion mitbekommen hat. In verschiedenen Interviews zeigten sich Abgeordnete zuversichtlich, dass auch die DRV bald entsprechende Maßnahmen ergreifen würde.

Ein Grund zur Hoffnung

Die Volksvertreter sind indes rundum zufrieden mit der bravourösen Offensive. Bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz gab Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) bekannt, dass weitere Applausstürme geplant seien. So ist vorgesehen, noch im April etwas gegen den um sich greifenden Mangel an Kita-Plätzen zu unternehmen.

Manuela S. (34), Kindertagesbetreuerin in Krefeld, sitzt bereits jetzt schon täglich mit ihren Schützlingen der Notbetreuungsgruppe gespannt vor dem Fernsehgerät, um die neuesten Entwicklungen auf keinen Fall zu verpassen. Sie freut sich auf die Zeit, wenn sie während der Arbeitszeit endlich wieder entspannt zur Toilette gehen kann. Momentan ist das nicht ohne Gewissensbisse möglich, ist sie doch allein für zehn Kleinkinder verantwortlich.

Auch Eltern blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Sie spekulieren auf eine deutliche Absenkung der Anmeldefristen an Kitas auf sechs Monate. Momentan warten Eltern im Durchschnitt drei Jahre auf einen Platz in der Krippe. Politiker sind sich sicher, dass schnöder Anstandsapplaus in diesem Fall kaum helfen wird. Sie richten sich bereits auf orgasmische Freudenstürme im Plenarsaal ein.

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