Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

Lesedauer: 6 Minuten

Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Seit Jahren liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, wie der XXL-Bundestag wieder auf eine nachvollziehbare Größe geschrumpft werden kann. Die Regierungen der letzten Jahre waren allesamt nicht in der Lage, auch nur eines der Konzepte umzusetzen. Die Ampelkoalition hat nun eine konkrete Reform vorgelegt. Die Pläne sind mehrheitsfähig und werden den Bundestag wahrscheinlich auch verkleinern. Mit einer repräsentativen Demokratie sind sie nicht vereinbar.

In der laufenden Wahlperiode beherbergt die Reichstagskuppel 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Die Zahl an sich ist absurd hoch. Indessen wird auch den Abgeordneten das Problem immer klarer, weil ihnen allmählich der Platz ausgeht. Zu den Sitzen im Plenarsaal kommen nämlich auch die Büros, die den Volksvertretern zustehen. Die GroKo hat echte Anstrengungen zur Verkleinerung des Parlaments eher blockiert als aktiv daran mitgewirkt. Nun will die Ampelregierung ihr Glück versuchen und eine wirksame Wahlrechtsreform zustandebringen. Als Grüne und FDP noch in der Opposition waren, klangen ihre Ideen zumindest vielversprechend.

Schwarzer Peter für die CSU

Davon geblieben ist kaum etwas. Die vorgelegte Reform benachteiligt eine Partei ganz besonders und ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu stärken. Denn im Kern wollen die Regierungsfraktionen sämtliche Überhangmandate abschaffen. Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, soll sie fortan auf die Zusatzmandate verzichten. Ausgleichsmandate erübrigen sich bei dieser Sitzezuteilung.

Den schwarzen Peter zieht dabei die CSU. Es verwundert daher kaum, dass gerade diese Partei gegen die Pläne von SPD, Grünen und FDP auf die Barrikaden geht. Es ist fraglich, ob sie das auch tun würde, wenn einer anderen Partei so übel mitgespielt würde. Dennoch ist der Protest der bayrischen Volkspartei berechtigt.

Die Abschaffung der Überhangmandate bedeutet im Zweifel nämlich, dass nicht mehr der stimmenstärkste Kandidat eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht. Ein starkes Erststimmenergebnis wäre fortan keine Eintrittskarte ins Parlament mehr. In einem mittlerweile so diversifizierten Spektrum von Parteien, die Aussichten auf einen Einzug in den Bundestag haben, ist diese Entscheidung völlig verfehlt. Manche Wahlkreise gelten schon bei Ergebnissen von um die 20 Prozent als gewonnen. Mit der vorgelegten Reform könnten sogar Kandidaten mit noch niedrigerem Ergebnis als Gewinner hervorgehen, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Repräsentanz kann man so etwas dann nicht mehr nennen.

Das Ende der zwei Stimmen?

Einerseits bringt diese Methode das Gleichgewicht von Erst- und Zweitstimme aus der Balance. Andererseits nimmt sie potenziell Einfluss auf die Wahlentscheidung des Einzelnen. Künftig werden sich die Wählerinnen und Wähler genauer überlegen, ob sie dem Kandidaten ihres Vertrauens die Stimme geben oder lieber dem Vertreter einer anderen Partei, weil ihre erste Wahl wahrscheinlich sowieso nicht in den Bundestag einziehen wird.

Die aktuelle Wahlrechtsreform ist daher unvollständig. Die Abgeordneten in Berlin sollten sich ehrlichmachen und in diesem Zuge das Zwei-Stimmen – Wahlsystem komplett über Bord werfen. Damit würde die Repräsentanz des Wahlergebnisses wiederhergestellt werden, weil der Kandidat der stärksten Partei aus einem Wahlkreis wahrscheinlich in den Bundestag einziehen würde.

Kleine Parteien im Nachteil

Doch ein Wahlsystem mit nur einer Stimme ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar würde weiterhin die Parteienstimme die Sitzverteilung im Bundestag bestimmen und auch die Zustimmung in den jeweiligen Wahlkreisen für die Abgeordneten eine Rolle spielen, unter der Methodik würde aber die Bindung zwischen Wähler und Mandatsträger leiden. Als „Gewählte“ könnte man die Abgeordneten dann nur noch mit zwei zugedrückten Augen bezeichnen, immerhin standen sie persönlich nie zur Wahl. Sie profitieren andererseits auch indirekt von der Zustimmung zu ihrer Partei aus anderen Wahlkreisen. Läuft eine Partei in einem Wahlkreis mit einem besonders beliebten Politiker auf und wählen dort überdurchschnittlich viele Menschen diese Partei, dann hat das auch Auswirkungen auf mögliche Abgeordnete in weit entfernten Wahlkreisen.

Auch wenn das Ein-Stimmen – Wahlrecht die Repräsentanz im Bundestag weniger verzerren würde als die vorgelegte Wahlrechtsreform, hat es noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Makel. Es würde nämlich besonders die kleineren Parteien benachteiligen. Die Linke beispielsweise profitiert von jeher von einer hohen Zustimmung in einzelnen Wahlkreisen. Mehr als einmal hat die Grundmandatsklausel der Partei den Einzug in den Bundestag gesichert. Solche Parteien hätten es künftig schwerer, authentische Kandidaten aufzustellen, wenn ein Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist.

Symptombekämpfung

Will die Regierung die repräsentative Demokratie nachhaltig erhalten, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben als über einen Neuzuschnitt der Wahlkreise nachzudenken. Zugegeben platzen viele Wahlkreise schon heute aus allen Nähten, aber zumindest ließe sich auf diese Weise am ehesten die Repräsentanz im Bundestag beibehalten. Sicher ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zwangsläufig zurückginge, weil weniger Wahlkreise vertreten werden müssten. Gleichzeitig ließe sich so das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten lösen: Wenn es weniger Wahlkreise zu gewinnen gibt, können auch weniger von ihnen zusätzliche Mandate erzeugen.

Das Herumdoktern an Wahlrechtssystemen ist und bleibt aber reine Symptombekämpfung. Die Politiker in Berlin sollten sich lieber darauf konzentrieren, die weitere Diversifizierung des Parteienspektrums zu bremsen. Es ist nämlich maßgeblich die steigende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien, die das stetige Anwachsen des Parlaments maßgeblich begünstigen. Sahnt eine Partei regional ab, könnte ihr die bittere Konkurrenz mit einer anderen Partei in anderen Wahlkreisen schwer auf die Füße fallen.


Die Pluralität von Meinungen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Solange die Regierung aber keine Politik aus einem Guss liefert, werden sich manche Menschen immer benachteiligt fühlen. Grenzt man bestimmte Sichtweisen zusätzlich aus, schafft man neue Parteien, deren Bestehen auf mehreren Ebenen schädlich für die Demokratie ist. Es gibt einen Grund dafür, warum es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag gab. Keiner will in die 60er oder 70er Jahre zurück. Aber vielleicht täte uns ein politischer Stil ganz gut, der an die erfolgreichsten Jahre der zweiten deutschen Demokratie angelehnt ist.


Mehr zum Thema:

Ohne Ausgleich

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Ohne Ausgleich

Lesedauer: 9 Minuten

Nach zähen Verhandlungen hat sich die Regierungskoalition vergangene Woche nicht nur auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds geeinigt. Auch eine Reform des Wahlrechts nimmt die Regierung nun endlich in Angriff. Der Kompromiss von Union und SPD ist allerdings mehr als enttäuschend. Herausgekommen ist eine Lösung, die vor allem die CSU pusht, während die Opposition in die Röhre schaut. Der Ausblick auf eine umfassendere Reform bis 2025 klingt daneben wie ein schlechter Witz.

Das verflixte siebte Jahr

Paukenschlag. Mit dem kürzlich beschlossenen ersten Schritt zu einer Wahlrechtsreform hat die Bundesregierung nun endlich ein Projekt praktisch in Angriff genommen, das bereits seit 2013 theoretisch auf dem Tisch liegt: eine Reform des Wahlrechts. Die ganz Schlauen werden bemerkt haben, dass das exakt die Zeit ist, seit der die GroKo am Drücker ist. Sieben Jahre lang passierte aber so gut wie nichts. Doch selbst die Große Koalition muss nun einsehen, dass 709 Abgeordnete im Bundestag jeglichen Rahmen sprengen und es den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären ist, warum der nächste Bundestag im Zweifelsfall mehr als 800 Abgeordnete beherbergen sollte.

Aus der letzten Wahlperiode hat die Opposition wohl gelernt, dass von der Regierung bei diesem Thema ganz bestimmt kein großer Wurf zu erwarten ist. Deswegen setzten es drei der vier Oppositionsfraktionen in der laufenden Legislaturperiode immer wieder auf die Tagesordnung. Und weil die Opposition nun einmal Opposition ist, werden ihre Vorschläge von der Regierung natürlich abgelehnt.

Doch weil man vor einer Horde von mehr als 700 Abgeordneten nicht mehr die Augen verschließen konnte, stand die Regierung zuletzt unter dringendem Zugzwang. Nachdem es gerade der Unionfraktion gelungen war, das Thema sieben Jahre lang zu verschleppen, kommt die Einigung nun sogar noch später als auf den sprichwörtlich letzten Drücker. Denn bereits im Frühjahr wies die Opposition darauf hin, dass eine Entscheidung allerspätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 2020 vorliegen müsste. Andernfalls wäre eine deutliche Verkleinerung des Parlaments ausgeschlossen. Und genau so wird es jetzt auch kommen. Der von der Regierung beschlossene erste Schritt ist bestenfalls dazu geeignet, eine Vergrößerung des Bundestags bedingt zu verhindern. Deutlich kleiner wird er durch diesen Tippelschritt aber nicht.

Verweigerung mit Ankündigung

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht mehr ausgeglichen wird. Diese Entscheidung nimmt also nur Einfluss auf die Stimmauszählung im September 2021, nicht aber auf die generelle Richtgröße des Bundestags. Sie ist also bloße Symptombekämpfung und wenig nachhaltig. Erst im zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2025 soll ein Konzept folgen, das die Anzahl an Abgeordneten wieder auf ein erträgliches Maß senken soll. Die Bundesregierung hat also erneut vier Jahre lang Zeit, das Problem zu verschleppen und am Ende wieder nicht zu lösen. Vielleicht werden dann bei der Wahl 2025 noch mehr Überhangmandate nicht ausgeglichen.

Der Koalitionsausschuss beriet in der gleichen Sitzung übrigens auch über die Verlängerung einiger Corona-bedingten Maßnahmen. Das prominenteste Ergebnis ist bestimmt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Gerade weil mit Union und SPD zwei im Prinzip grundverschiedene Fraktionen in der Regierung sitzen, waren zähe Verhandlungen vorprogrammiert. Es ist allerdings schon ziemlich bedenklich, dass die Parteien diese Diskussion schneller abgefrühstückt haben als die Wahlrechtsreform. An diesem Punkt saßen sie in der Sitzung nämlich wesentlich länger.

Die Koalition muss über ein an und für sich so untergeordnetes Thema also länger diskutieren als über einschneidende arbeits- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Denn die Wahlrechtsreform ist doch nur deshalb so dringend, weil sie seit Jahren verschleppt wurde. Selbst FDP, Linke und Grüne sind einvernehmlich – und vor allem schneller – zu einem Kompromiss gekommen. Ganz offensichtlich ist selbst diese unübliche Konstellation inzwischen handlungsfähiger als die Bundesregierung.

Ungleiche Wahl

Aber natürlich ist das Thema Wahlrechtsreform für den gemeinen Parlamentarier existenzbedrohender als die Weiterzahlung von Kurzarbeitergeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Entscheidungsträger von Kurzarbeitergeld abhängig sein wird, ist verschwindend gering. Die nächste Bundestagswahl aber kommt bestimmt. Und da will man natürlich das beste für sich rausholen. Alles eine Frage der Motivation.

Geht es nach der Bundesregierung, sollen bei der kommenden Wahl im nächsten Jahr drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Die Nachteile dieser Überlegung liegen auf der Hand. Vor allem die Unionsfraktion profitiert von der großen Anzahl an Überhangmandaten. Würden diese nicht mehr ausgeglichen werden, stünde diese Fraktion besser da als die übrigen Fraktionen. Das ist mit dem Gleichheitsprinzip der Wahl nicht vereinbar. Denn zwangläufig würden Stimmen für die jetzige Opposition dadurch entwertet werden. Wer für AfD, FDP, Linke oder Grüne stimmte, der hätte bei der Wahl 2021 weniger Einfluss als solche Wähler, die CDU, CSU oder SPD wählten.

Gegen den Wählerwillen

Die Zahl 3 klingt dabei harmloser als sie letztendlich ist. Denn drei nicht auszugleichende Überhangmandate heißen nicht automatisch, dass es nur drei Sitze weniger gibt. Ein einzelnes Überhangmandat kann zu mehreren Ausgleichsmandaten führen. Es ist also zu erwarten, dass bei dem jetzt vorgeschlagenen Konzept alle Oppositionsfraktionen den schwarzen Peter ziehen werden. Denn eine Kappung der Ausgleichsmandate verzerrt das Zweitstimmenergebnis immer.

Das könnte weitreichende Folgen für die kommende Wahl haben, aber auch für die Demokratie an sich. Wer mit der jetzigen Regierung nicht einverstanden ist, der wählt natürlich Opposition. Aber warum sollte er das tun, wenn seine Stimme im Zweifel weniger wiegt als eine Stimme für das Weiter so? Die jetzt getroffene Lösung geht an dem bestehenden Problem also blindlinks vorbei und schafft zudem ein weiteres: Sie ist ein Anreiz zum Nichtwählen.

Denn ein Wechsel auf der Regierungsbank wird durch den Kompromiss von Union und SPD unwahrscheinlicher. Die gefühlt ewig regierende Union würde so noch weiter künstlich an der Macht gehalten werden. Mit einer repräsentativen Demokratie hat das dann nur noch wenig zu tun. Der Volkswille würde nämlich nicht mehr 1:1 abgebildet werden. Es gäbe mehr Direktmandate als Listenmandate. Bisher wird jedes direkte Überhangmandat mit einem Ausgleichsmandat von den Landeslisten aufgewogen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr so.

Wider die Verfassung

Auch hier sorgt die Union allerdings für einen Klopfer. Überschüssige Direktmandate sollen künftig mit Listenmandaten der gleichen Fraktion aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Selbst innerhalb der Unionsfraktion ist die CSU also klar im Vorteil. Denn gerade diese bayrische Provinzpartei erzielt traditionell die meisten Überhangmandate. Jetzt kann sie der Schwesterpartei ungehindert Listenmandate aus anderen Bundesländern absaugen. Das führt nicht nur zu einer ungerechten Bevorteilung der CSU, sondern zu einer noch tiefergreifenden Benachteiligung aller Listenmandate insgesamt.

Der Vorschlag von Union und SPD zeigt außerdem deutlich, dass die Parteien überhaupt nicht verstanden haben, wo das Problem liegt. Okay, der Bundestag schwillt seit Jahren immer weiter an. Das liegt hauptsächlich an den außer Kontrolle geratenden Überhangmandaten. Anstatt dann den Ausgleichsmandaten an den Kragen zu gehen, sollte man sich zu allererst fragen, woher diese Flut an Überhangmandaten überhaupt kommt. Aus Bayern, könnte man jetzt flapsig sagen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr laut Zweitstimmenergebnis zusteht. Warum war das früher kein Problem?

In den Nachkriegsjahrzehnten saßen sehr lange nur drei Fraktionen im Bundestag: die Union, die SPD und die FDP. Andere Parteien hatten selten eine Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden. Auch aus diesem Grund haben die Wählerinnen und Wähler seltener für sie gestimmt. Dann kamen die Grünen als vierte Kraft mit Turnschuhen in den Bundestag gelatscht. Nach dem Mauerfall gesellte sich die PDS dazu und seit einigen Jahren erweitert die AfD das Parteienspektrum im Bundestag. Die Wählerinnen und Wähler haben also eine größere Auswahl an Parteien, die den Einzug wahrscheinlich schaffen werden. Umso größer ist auch die Bereitschaft, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben. Auf diese Weise kann das Erststimmenergebnis erheblich vom Ergebnis der Zweitstimmen abweichen. Überhangmandate entstehen.

Letztendlich gibt es nur eine Möglichkeit, diese Überhangmandate demokratisch in Grenzen zu halten: durch eine Neuzuschneidung der Wahlkreise. Die Zahl der Wahlkreise muss deutlich verringert werden. Damit sinkt auch die Richtgröße des Bundestags. Überhangmandate entstehen trotzdem, aber nicht mehr in so großer Zahl, schließlich gibt es ja weniger Wahlkreise. Außerdem kann der Anspruch an eine Wahlrechtsreform nicht sein, möglichst viele Überhangmandate zu verhindern. Die Entscheidung, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben, ist ein Ausdruck lebendiger Demokratie und des freien Wählerwillens. Der aktuellste Vorstoß beschneidet den Einfluss der Wählerinnen und Wähler allerdings. Er ist nicht gerecht; er ist nicht demokratisch. Er ist verfassungswidrig.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Die Dritten werden die Ersten sein

Lesedauer: 10 Minuten

Um eins vorwegzuschicken: Rezo kann das besser. Der blausträhnige Influencer ist ja schließlich auch die Nummer 1, wenn es darum geht, die CDU für ihren Politikstil zu kritisieren. Leider hat sich seit seinem Klickwunder kurz vor der EU-Wahl nur wenig an der Union geändert. Es ist das alte Lied: Macht um jeden Preis und bloß nicht von alten Prinzipien abweichen. Dass sich die ehemalige Volkspartei dabei auch schnell in Teufelsküche bringen kann, haben zuletzt die Entwicklungen in Thüringen gezeigt. Wenn die CDU wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen möchte, sollte sie schleunigst etwas ändern.

Weniger ist mehr

Der Bundestag platzt beinahe aus allen Nähten. Während unter der Reichstagskuppel vor zehn Jahren noch knapp über 600 Abgeordnete leicht Platz fanden, muss das historische Gebäude heute über 700 Parlamentarier beherbergen. Der Trend setzt sich weiter fort. Experten befürchten gar, dass nach der nächsten Bundestagswahl deutlich mehr als 800 Mandate entstehen können. Dann wird’s nicht nur besonders eng, sondern auch besonders teuer. Schon heute kosten die Volksvertreter den Steuerzahler mehr als 500 Millionen Euro pro Jahr. Ein einfacher Dreisatz verrät, wie teuer der Bundestag wäre, würde die Anzahl an Mandaten weiter steigen.

Der Handlungsbedarf liegt auf der Hand. Doch die Abgeordneten sind sich uneins darüber, wie sie das Problem am besten in den Griff bekommen. Die unterschiedlichsten Vorschläge liegen auf dem Tisch. Bei einem Parlament, das inzwischen aus sechs Fraktionen besteht, ist eine solche Fülle nicht weiter verwunderlich. Nicht jeder der Vorschläge taugt gleich viel. Sicher ist aber eines: Ohne Zähnezusammenbeißen wird es nicht gehen. Wenn der Bundestag wieder auf eine erträgliche Größe reduziert werden soll, müssen einige Mandate zwangsläufig gestrichen werden.

Einer der prominentesten Vorschläge ist eine Reduzierung der Wahlkreise. Momentan ist das Land in 299 Wahlkreise aufgeteilt. Da die Sitze im Bundestag zu einer Hälfte aus Direktmandaten und zur anderen Hälfte aus Listenmandaten bestehen, muss es doppelt so viele Sitze wie Wahlkreise geben. Das heißt, dass die Mindestgröße des Parlaments nach derzeitigem Wahlrecht bereits bei 598 Sitzen liegt. Da nun aber sieben Parteien in den Bundestag eingezogen sind – und sich das Erst- und Zweitstimmenergebnis bei manchen Parteien eklatant voneinander unterscheidet – entsteht eine Vielzahl an Überhangmandaten und den daraus resultierenden Ausgleichsmandaten.

Die Union stellt sich quer

Eine geringere Zahl an Wahlkreisen scheint also einleuchtend. Doch es ist vor allen Dingen eine Fraktion, die diesen Vorstoß bisher blockiert. Die Union fürchtet um den Verlust vieler ihrer Mandate. Gemessen an ihrem Zweitstimmenergebnis haben CDU und CSU bei der letzten Bundestagswahl nämlich übertrieben viele Direktmandate gewonnen. Viele davon sind Überhangmandate. Um das Kräfteverhältnis im Parlament zu wahren, müssen diese nach geltendem Recht durch Ausgleichsmandate der anderen Fraktionen kompensiert werden.

Der Union schwebt währenddessen eine ganz andere Reform vor: Die Ausgleichsmandate sollen komplett abgeschafft werden. Dass sich eine Partei gegen die Reduzierung der Wahlkreise sträubt, weil sie selbst besonders stark auf ihr Erststimmenergebnis angewiesen ist, liegt im Bereich des nachvollziehbaren. Dass die gleiche Partei allerdings eine Streichung sämtlicher daraus entstehenden Ausgleichsmandate fordert, grenzt ans unverschämte.

Erststimme hui, Zweitstimme pfui

Die Christdemokraten sollten sich lieber überlegen, woran es denn liegt, dass ihr Erstimmenergebnis so gigantisch über dem Ergebnis aus den Zweitstimmen liegt. Es ist doch logisch: Die Zweitstimmen der Union rauschen doch vor allem deshalb in den Keller, weil die Partei sich in den letzten Jahren total leerregiert hat. Nach fast einem halben Dutzend GroKos ist das Profil dieser Partei fast komplett abgewetzt. Die Wähler haben schlicht keine Lust mehr, von einer Partei regiert zu werden, die sich von Kompromiss zu Kompromiss hangelt.

Und Mehrheit bedeutet für die meisten eben weiterhin Regierungsverantwortung. Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik selten vorgekommen, dass die stärkste Fraktion nicht an der Regierung beteiligt war. Das starke Erststimmenergebnis der Union rührt daher, dass die einzelnen Kandidaten den besten Eindruck auf die Wähler gemacht haben. Ein solcher Vorgang ist hochdemokratisch. Die Abschaffung von Ausgleichsmandaten ist es nicht.

Viel eher sollte die Union zu dem Schluss kommen, dass ewiges Regieren keine Option ist. Sie könnte ihr Zweitstimmenergebnis sicher durch eine Verschnaufpause hinter den Oppositionsbänken aufpolieren. Ist selten der Fall, aber hier können die Christdemokraten tatsächlich von der SPD lernen. Nach vier Jahren in der Opposition war das nächste Ergebnis zwar auch weit von einem Freudenschrei entfernt, lag aber doch höher als das der vorigen Wahl.

Sollen doch die anderen bluten

Doch leider ist die Union anscheinend weiterhin nicht willens, bei der Frage der Wahlrechtsreform einzulenken. Anstatt ihren gesamten Politikstil zu ändern, pocht sie auf den Erhalt ihrer Direktmandate. Dahinter steht vor allem eines: die schiere Angst vor dem Wähler gepaart mit einem Unvermögen, letzteren zu erreichen. Würde die CDU einige ihrer Hochburgen an andere Parteien abtreten müssen, so wäre ihr Reichtum an Überhangmandaten in Gefahr. Dass auch die anderen Fraktionen Einbußen durch fehlende Ausgleichsmandate hätten, interessiert die Union scheinbar nicht.

Um ihre Größe und ihre Macht zu erhalten, blockiert die Union also sämtliche sinnvolle Vorschläge einer Wahlrechtsreform und kommt stattdessen mit völlig grotesken eigenen Ideen um die Ecke. Hauptsache, die Sitze sind sicher.

Wenn die Dritten Erster sein wollen

Ähnliches lässt sich dieser Tage auch in Erfurt beobachten. Die Regierungskrise in Thüringen lässt sich im Endeffekt nur mit zwei Optionen lösen: Neuwahlen oder eine Kooperation mit den Linken. Den Pakt mit Ramelows Linkspartei lehnt die CDU aus reiner Prinzipienreiterei ab. Die Neuwahlen fürchtet sie aus Angst vor dem Wähler. Nach dem kurzen rechtsextremen Intermezzo Anfang Februar befürchtet Mohrings Partei zurecht, dass ein neues Ergebnis noch desaströser ausfallen würde als das jetzige. Aber NATÜRLICH muss der Wähler nach einem solchen Debakel die Möglichkeit haben, seine Entscheidung zu revidieren. Im Strafrecht spricht man von tätiger Reue.

Doch von Reue und Verantwortungsgefühl will die CDU gerade in Thüringen nichts wissen. Ihr heiliges Ziel, weitere fünf Jahre mit Rot-Rot-Grün zu verhindern, ist ihnen wichtiger als schlichter politischer Anstand. Anstatt sich mit ihrer Rolle als Wahldritter zufriedenzugeben und das Votum des Wählers demütig zu akzeptieren, reißt die CDU in Thüringen lieber sperrangelweit das Tor nach rechts auf.

Bloß nicht die Linken!

Und sie hätte das auch in einer ähnlichen Konstellation bereits 2014 gemacht. Zu dieser Zeit allerdings hatte Ramelows Bündnis noch eine Mehrheit. Die ist jetzt weg. Die Wahl und viele Umfragen zeigen aber eindeutig, dass die Abstimmung im vergangenen Herbst ein klarer Auftrag an Bodo Ramelow war, Ministerpräsident des Freistaats zu bleiben.

Um Rot-Rot-Grün zu stürzen, muss nicht mit Rechtsextremen paktiert werden. Es reicht vollkommen aus, die Wähler von der eigenen Kompetenz zu überzeugen. Die CDU in Thüringen hatte fünf Jahre lang Zeit, ihr konservatives und anti-linkes Profil zu schärfen. Sie konnte die Wähler nicht überzeugen. Sie wurde Dritte. Doch alles jenseits des zweiten Platzes existiert für die CDU nicht. Sie will Macht. Und sie will rechthaben. Einen eigenen Kandidaten für die Ministerpräsidentenwahl aufzustellen, dazu war die CDU zu feige. Lieber soll die FDP dran glauben.

In ihrer schier ekelerregenden Rechthaberei wirft die CDU eine politische Tugend nach der anderen über Bord. Zuerst die Achtung vor dem Wähler und als nächstes die Achtung vor dem Rechtsstaat. Hauptsache die bösen Linken regieren nicht mehr. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es die Thüringer CDU mehr schmerzt, hinter der Linken gelandet zu sein als hinter der AfD.

Die Spielregeln einer repräsentativen Demokratie

Diese beinahe pathologische Abneigung gegenüber den Linken ist bei der CDU bundesweit zu beobachten. Okay, die beiden Parteien sind grundverschieden. Aufgrund ihrer Parteiprogramme und ihrer Visionen für das Land haben sie jedes Recht, wie Hund und Katze zu sein. Doch vor allem die Union begreift nicht, dass die eine nicht ohne die andere kann.

Als Gregor Gysi 2015 seine letzte Bundestagsrede als Fraktionsvorsitzender hielt, da machte er auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam. Er behauptete, es gäbe noch zu viele in der Union, die sich einen Bundestag ohne Linke vorstellen könnten. Dafür erntete er von Unionsseite Applaus. Offensichtlicher kann der Wählerwille nicht übergangen werden. Sowohl bei der AfD heute als auch bei der PDS damals hat die CDU nie kritisch hinterfragt, weswegen diese Parteien so erstarkt sind. Stattdessen verlor sie sich in der Bekämpfung und Schlechtredung des Ergebnisses, anstatt selbst die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Veränderung tut weh

Aber das hätte in beiden Fällen ja eine Veränderung der Union, vielleicht sogar eine totale Kehrtwende bedeutet. Denn immerhin hätte man die Bevölkerung dann erst von den neuen Konzepten überzeugen müssen. Und in Überzeugungsarbeit fällt die CDU seit Jahren durch. Viel zu bequem ist die große Koalition, die bisher noch immer ein Garant für den Machterhalt war. Ein weiterer Vorteil der GroKo: Der Widerspruch ist am leisesten, weil die Opposition künstlich kleingehalten wird. Spätestens seit dem Einzug der AfD in den Bundestag und durch das kontinuierliche Zusammenschrumpfen der Großen Koalition hat sich das allerdings geändert.

Die CDU war im Überzeugen so aus der Übung, dass Jamaika nicht zustandekam. Die gesündeste Lösung, eine Minderheitsregierung, kam für die Union auch nicht in Frage. Eine Minderheitsregierung erfordert nämlich noch größere Zugeständnisse als eine Mehrheitsregierung. Und Zugeständnisse gefährden nun einmal die Rechthaberposition. Außerdem ist es natürlich nicht besonders höflich, solch große Kompromisse von einer Partei einzufordern, die sich über Jahre so lächerlich leerregiert hat wie die CDU. So etwas erfordert nämlich die Bereitschaft, seine eigene Haltung kritisch zu überdenken. Und es erfordert Kampfgeist. Beides hat die CDU derzeit nicht.


Mehr zum Thema:

Rechte Strippenzieher

Ein Pakt mit dem Teufel?

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!