Ohne Ausgleich

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Nach zähen Verhandlungen hat sich die Regierungskoalition vergangene Woche nicht nur auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds geeinigt. Auch eine Reform des Wahlrechts nimmt die Regierung nun endlich in Angriff. Der Kompromiss von Union und SPD ist allerdings mehr als enttäuschend. Herausgekommen ist eine Lösung, die vor allem die CSU pusht, während die Opposition in die Röhre schaut. Der Ausblick auf eine umfassendere Reform bis 2025 klingt daneben wie ein schlechter Witz.

Das verflixte siebte Jahr

Paukenschlag. Mit dem kürzlich beschlossenen ersten Schritt zu einer Wahlrechtsreform hat die Bundesregierung nun endlich ein Projekt praktisch in Angriff genommen, das bereits seit 2013 theoretisch auf dem Tisch liegt: eine Reform des Wahlrechts. Die ganz Schlauen werden bemerkt haben, dass das exakt die Zeit ist, seit der die GroKo am Drücker ist. Sieben Jahre lang passierte aber so gut wie nichts. Doch selbst die Große Koalition muss nun einsehen, dass 709 Abgeordnete im Bundestag jeglichen Rahmen sprengen und es den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären ist, warum der nächste Bundestag im Zweifelsfall mehr als 800 Abgeordnete beherbergen sollte.

Aus der letzten Wahlperiode hat die Opposition wohl gelernt, dass von der Regierung bei diesem Thema ganz bestimmt kein großer Wurf zu erwarten ist. Deswegen setzten es drei der vier Oppositionsfraktionen in der laufenden Legislaturperiode immer wieder auf die Tagesordnung. Und weil die Opposition nun einmal Opposition ist, werden ihre Vorschläge von der Regierung natürlich abgelehnt.

Doch weil man vor einer Horde von mehr als 700 Abgeordneten nicht mehr die Augen verschließen konnte, stand die Regierung zuletzt unter dringendem Zugzwang. Nachdem es gerade der Unionfraktion gelungen war, das Thema sieben Jahre lang zu verschleppen, kommt die Einigung nun sogar noch später als auf den sprichwörtlich letzten Drücker. Denn bereits im Frühjahr wies die Opposition darauf hin, dass eine Entscheidung allerspätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 2020 vorliegen müsste. Andernfalls wäre eine deutliche Verkleinerung des Parlaments ausgeschlossen. Und genau so wird es jetzt auch kommen. Der von der Regierung beschlossene erste Schritt ist bestenfalls dazu geeignet, eine Vergrößerung des Bundestags bedingt zu verhindern. Deutlich kleiner wird er durch diesen Tippelschritt aber nicht.

Verweigerung mit Ankündigung

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht mehr ausgeglichen wird. Diese Entscheidung nimmt also nur Einfluss auf die Stimmauszählung im September 2021, nicht aber auf die generelle Richtgröße des Bundestags. Sie ist also bloße Symptombekämpfung und wenig nachhaltig. Erst im zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2025 soll ein Konzept folgen, das die Anzahl an Abgeordneten wieder auf ein erträgliches Maß senken soll. Die Bundesregierung hat also erneut vier Jahre lang Zeit, das Problem zu verschleppen und am Ende wieder nicht zu lösen. Vielleicht werden dann bei der Wahl 2025 noch mehr Überhangmandate nicht ausgeglichen.

Der Koalitionsausschuss beriet in der gleichen Sitzung übrigens auch über die Verlängerung einiger Corona-bedingten Maßnahmen. Das prominenteste Ergebnis ist bestimmt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Gerade weil mit Union und SPD zwei im Prinzip grundverschiedene Fraktionen in der Regierung sitzen, waren zähe Verhandlungen vorprogrammiert. Es ist allerdings schon ziemlich bedenklich, dass die Parteien diese Diskussion schneller abgefrühstückt haben als die Wahlrechtsreform. An diesem Punkt saßen sie in der Sitzung nämlich wesentlich länger.

Die Koalition muss über ein an und für sich so untergeordnetes Thema also länger diskutieren als über einschneidende arbeits- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Denn die Wahlrechtsreform ist doch nur deshalb so dringend, weil sie seit Jahren verschleppt wurde. Selbst FDP, Linke und Grüne sind einvernehmlich – und vor allem schneller – zu einem Kompromiss gekommen. Ganz offensichtlich ist selbst diese unübliche Konstellation inzwischen handlungsfähiger als die Bundesregierung.

Ungleiche Wahl

Aber natürlich ist das Thema Wahlrechtsreform für den gemeinen Parlamentarier existenzbedrohender als die Weiterzahlung von Kurzarbeitergeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Entscheidungsträger von Kurzarbeitergeld abhängig sein wird, ist verschwindend gering. Die nächste Bundestagswahl aber kommt bestimmt. Und da will man natürlich das beste für sich rausholen. Alles eine Frage der Motivation.

Geht es nach der Bundesregierung, sollen bei der kommenden Wahl im nächsten Jahr drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Die Nachteile dieser Überlegung liegen auf der Hand. Vor allem die Unionsfraktion profitiert von der großen Anzahl an Überhangmandaten. Würden diese nicht mehr ausgeglichen werden, stünde diese Fraktion besser da als die übrigen Fraktionen. Das ist mit dem Gleichheitsprinzip der Wahl nicht vereinbar. Denn zwangläufig würden Stimmen für die jetzige Opposition dadurch entwertet werden. Wer für AfD, FDP, Linke oder Grüne stimmte, der hätte bei der Wahl 2021 weniger Einfluss als solche Wähler, die CDU, CSU oder SPD wählten.

Gegen den Wählerwillen

Die Zahl 3 klingt dabei harmloser als sie letztendlich ist. Denn drei nicht auszugleichende Überhangmandate heißen nicht automatisch, dass es nur drei Sitze weniger gibt. Ein einzelnes Überhangmandat kann zu mehreren Ausgleichsmandaten führen. Es ist also zu erwarten, dass bei dem jetzt vorgeschlagenen Konzept alle Oppositionsfraktionen den schwarzen Peter ziehen werden. Denn eine Kappung der Ausgleichsmandate verzerrt das Zweitstimmenergebnis immer.

Das könnte weitreichende Folgen für die kommende Wahl haben, aber auch für die Demokratie an sich. Wer mit der jetzigen Regierung nicht einverstanden ist, der wählt natürlich Opposition. Aber warum sollte er das tun, wenn seine Stimme im Zweifel weniger wiegt als eine Stimme für das Weiter so? Die jetzt getroffene Lösung geht an dem bestehenden Problem also blindlinks vorbei und schafft zudem ein weiteres: Sie ist ein Anreiz zum Nichtwählen.

Denn ein Wechsel auf der Regierungsbank wird durch den Kompromiss von Union und SPD unwahrscheinlicher. Die gefühlt ewig regierende Union würde so noch weiter künstlich an der Macht gehalten werden. Mit einer repräsentativen Demokratie hat das dann nur noch wenig zu tun. Der Volkswille würde nämlich nicht mehr 1:1 abgebildet werden. Es gäbe mehr Direktmandate als Listenmandate. Bisher wird jedes direkte Überhangmandat mit einem Ausgleichsmandat von den Landeslisten aufgewogen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr so.

Wider die Verfassung

Auch hier sorgt die Union allerdings für einen Klopfer. Überschüssige Direktmandate sollen künftig mit Listenmandaten der gleichen Fraktion aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Selbst innerhalb der Unionsfraktion ist die CSU also klar im Vorteil. Denn gerade diese bayrische Provinzpartei erzielt traditionell die meisten Überhangmandate. Jetzt kann sie der Schwesterpartei ungehindert Listenmandate aus anderen Bundesländern absaugen. Das führt nicht nur zu einer ungerechten Bevorteilung der CSU, sondern zu einer noch tiefergreifenden Benachteiligung aller Listenmandate insgesamt.

Der Vorschlag von Union und SPD zeigt außerdem deutlich, dass die Parteien überhaupt nicht verstanden haben, wo das Problem liegt. Okay, der Bundestag schwillt seit Jahren immer weiter an. Das liegt hauptsächlich an den außer Kontrolle geratenden Überhangmandaten. Anstatt dann den Ausgleichsmandaten an den Kragen zu gehen, sollte man sich zu allererst fragen, woher diese Flut an Überhangmandaten überhaupt kommt. Aus Bayern, könnte man jetzt flapsig sagen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr laut Zweitstimmenergebnis zusteht. Warum war das früher kein Problem?

In den Nachkriegsjahrzehnten saßen sehr lange nur drei Fraktionen im Bundestag: die Union, die SPD und die FDP. Andere Parteien hatten selten eine Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden. Auch aus diesem Grund haben die Wählerinnen und Wähler seltener für sie gestimmt. Dann kamen die Grünen als vierte Kraft mit Turnschuhen in den Bundestag gelatscht. Nach dem Mauerfall gesellte sich die PDS dazu und seit einigen Jahren erweitert die AfD das Parteienspektrum im Bundestag. Die Wählerinnen und Wähler haben also eine größere Auswahl an Parteien, die den Einzug wahrscheinlich schaffen werden. Umso größer ist auch die Bereitschaft, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben. Auf diese Weise kann das Erststimmenergebnis erheblich vom Ergebnis der Zweitstimmen abweichen. Überhangmandate entstehen.

Letztendlich gibt es nur eine Möglichkeit, diese Überhangmandate demokratisch in Grenzen zu halten: durch eine Neuzuschneidung der Wahlkreise. Die Zahl der Wahlkreise muss deutlich verringert werden. Damit sinkt auch die Richtgröße des Bundestags. Überhangmandate entstehen trotzdem, aber nicht mehr in so großer Zahl, schließlich gibt es ja weniger Wahlkreise. Außerdem kann der Anspruch an eine Wahlrechtsreform nicht sein, möglichst viele Überhangmandate zu verhindern. Die Entscheidung, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben, ist ein Ausdruck lebendiger Demokratie und des freien Wählerwillens. Der aktuellste Vorstoß beschneidet den Einfluss der Wählerinnen und Wähler allerdings. Er ist nicht gerecht; er ist nicht demokratisch. Er ist verfassungswidrig.

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