Gegen das Restrisiko

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Politik und Wissenschaft blicken weiterhin mit Sorge auf das dynamische Infektionsgeschehen infolge der Coronapandemie. Die größte Herausforderung liegt einhellig in der Überlastung des Gesundheitssystems, das den steigenden Fallzahlen immer schwerer beikommt. Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat darum jüngst eine Reihe ambitionierter Maßnahmen angekündigt, um der Lage wieder Herr zu werden. Seine Pläne gehen weit über die derzeitige Krisenlage hinaus und sollen das Gesundheitssystem auch in gewöhnlichen Zeiten spürbar entlasten.

Bäumchen-wechsle-dich

Die neue Ampelkoalition hatte einen denkbar ungünstigen Start. Die Koalitionsverhandlungen dauerten länger als gedacht, die vierte Welle der Pandemie katapultiert die Infektionszahlen in nicht gekannte Höhen, die Spaltung im Land geht immer tiefer. Die neue Regierung zeigt sich dennoch optimistisch und möchte getreu dem Titel ihres Koalitionsvertrags mehr Fortschritt wagen. Dabei war die Besetzung des Kabinetts keine unumstrittene Angelegenheit. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) holte mehrere Politiker in seine Regierung, die viele sicher nicht auf dem Zettel hatten. Am meisten rieben sich die Medien an der neuen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Ähnlich wie bei ihrer Kandidatur ums Kanzleramt spricht man ihr auch für dieses Ressort jegliche Kompetenz ab.

In einer weitaus komfortableren Lage befindet sich da schon der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Auch wenn viele seine Ernennung ob seiner bisherigen Politik eher skeptisch sehen, müssen sie doch eingestehen, dass er als Arzt grundsätzlich keine schlechte Wahl für den Posten ist. Sein Vorgänger hat ihm einen regelrechten Scherbenhaufen hinterlassen; das Vertrauen in die Coronapolitik der Bundesregierung ist zerrüttet. Nun wird offenbar auch noch der Impfstoff knapp. Trotzdem hält der neue Minister an einer allgemeinen Impfpflicht fest. Er sieht es als seine dringendste Aufgabe, eine Überlastung des Gesundheitswesens unbedingt zu verhindern.

Süße Sünde

Die Teilimpfpflicht im Gesundheitswesen ist dabei nur der erste Schritt. Mit einer allgemeinen Impfpflicht sollen nicht nur die vulnerablen Gruppen im Krankenhaus geschützt werden, sondern möglichst alle Bürgerinnen und Bürger. Doch auch der Gesundheitsminister sieht, dass Corona dadurch nicht ganz verschwinden wird. Um die Überlastung der Krankenhäuser zurückzudrängen, braucht es weitere einschneidende Maßnahmen.

Karl Lauterbach will sich dabei an einer Methode orientieren, die sich bereits vergangenes Silvester bewährt hat. Durch das Böllerverbot, das auch in diesem Jahr wieder greift, konnten viele schwerwiegende Verletzungen und Unfälle vermieden werden, die zum Jahreswechsel sonst immer die Notaufnahmen fluten. Der Minister möchte diese Maßnahme daher auf andere Lebensbereiche ausweiten. Er hat begriffen, dass die Prävention gesundheitsschädlichen Verhaltens Balsam für die Lage in deutschen Krankenhäusern ist.

Sein Haus arbeitet deshalb zur Zeit an einem Schokoladenverbot für die Weihnachtszeit. Dieses Jahr wird damit wenig zu erreichen sein, aber bereits zu kommendem Weihnachten könnten Schoko-Nikoläuse, überzogene Lebkuchen und andere Leckereien aus den Supermarktregalen verschwinden. Das Ministerium verweist darauf, dass der übermäßige Verzehr dieser Süßigkeiten jedes Jahr mehrere Tausend Zuckerschocks auslöst. Die Betroffenen müssten in den meisten Fällen intensivmedizinisch behandelt werden. Knapp 80 Prozent der jährlich erfassten Fälle ereignen sich in der Adventszeit.

Weniger Risiko, mehr Sicherheit

Auch Fettleibigkeit (Adipositas) ist nach Angaben des Gesundheitsministeriums seit Jahren auf dem Vormarsch. Eine vom Ministerium beauftragte Studie stellte einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem frühzeitigen Verkauf von Weihnachtsgebäck ab dem Spätsommer fest. Auch hier verspricht die drastische Maßnahme Entspannung. Adipositaspatienten seien anfälliger für Herzerkrankungen und landen auffällig oft auf der Intensivstation. Sie müssten dann aufgrund ihres Gewichts in Spezialbetten behandelt werden. Laut Ministerium und Ärztekammer seien genügend dieser Betten vorhanden. Sie erfordern aber einen erhöhten Personalbedarf, der bei der angespannten Lage im Gesundheitswesen in Zukunft nicht mehr gewährleistet werden könne.

Daher gibt es im Ministerium Überlegungen, das saisonale Schokoladenverbot auszuweiten. Es mehren sich die Stimmen, die für ein ganzjährige Verbot von Schokolade plädieren. Im Gespräch ist außerdem ein Gesundheitspass, der allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes ausgestellt werden soll. Dieser Pass diene dazu, gesundheitsschädliches Verhalten aufzuzeigen und diesem vorzubeugen. Letztendlich soll das dazu führen, dass die Menschen ein medizinisch risikofreies Leben führen können. Sie haben sich dazu regelmäßigen Untersuchungen zu unterziehen, um Vorerkrankungen und Risikofaktoren zu erfassen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind maßgeblich dafür, welche Produkte der Betroffene konsumieren und welchen Aktivitäten er nachgehen darf.

Alles unter Kontrolle

Um die Vorgaben möglichst niederschwellig zu halten, sollen die Verträglichkeitswerte zukünftig direkt auf die Lebensmittelverpackungen aufgedruckt werden. Die Konsumenten können daran ablesen, ob das Produkt für sie in Frage kommt. Eine Sicherheitsüberprüfung an der Kasse verhindert Verstöße gegen die Vorgaben. Um auch hier das Personal zu entlasten, werden bundesweit die Selbstbedienungskassen ausgebaut. Mittels QR-Code im Gesundheitspass erhalten die Kundinnen und Kunden dann nur noch für sie verträgliche Waren.

Zusätzlich behält man die Ausbreitung schwerwiegender Erkrankungen und Gebrechen genau im Blick. Behandlungspflichtige Fälle, die besonders häufig auftreten, werden einer Inzidenz unterworfen. Bei steigender Inzidenz sind strengere Regeln in diesem Bereich möglich. Nehmen beispielsweise die Fälle von Adipositas signifikant zu, dürfen auch nicht vorbelastete Kundinnen und Kunden nur noch geringere Mengen zuckerhaltiger Produkte kaufen.

Bei der Ermittlung des Gesundheitsstatus soll aber nicht nur die physische Verfassung der Menschen eine Rolle spielen. Besonders bei künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen und Erzeugnissen ist die psychische Gesundheit ausschlaggebend. Zutritt zu Kino, Theater oder Oper sollen nur die erhalten, die die Darbietung seelisch verkraften können. Diese Maßnahme ergänzt die gängigen Altersbeschränkungen und entlastet die ebenfalls überforderten psychiatrischen Einrichtungen. Die Einschränkungen in diesem Bereich betreffen auch den Verkauf von Kunstwerken, Zeitschriften und Literatur.

Entlastung an allen Fronten

Der neue Gesundheitsminister ist sich sicher, dass die Maßnahmen auch über die Coronapandemie hinaus eine spürbare Entspannung in den Krankenhäuern bewirken. Er geht sogar davon aus, dass durch den Gesundheitspass weiteres Personal im Gesundheitswesen eingespart werden kann. Einerseits steige dadurch die Lebensqualität der Menschen im Land, weil sie seltener krank werden, andererseits sinken die Beiträge für Krankenkassen und andere Vorsorgeleistungen.

Die Opposition im Bundestag befürchtet währenddessen, dass das ausgeschiedene Gesundheitspersonal in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten könnte. Auch hier hält der Gesundheitsminister dagegen. Die freigewordenen Kapazitäten könnten dazu genutzt werden, den Fachkräftemangel in anderen Bereichen abzumildern. Durch groß angelegte Umschulungsmaßnahmen soll allen Betroffenen eine Brücke zurück in den Arbeitsmarkt gebaut werden. So könnten sich ehemalige Pflegerinnen und Pfleger innerhalb weniger Monate zu qualifizierten Lehrkräften ausbilden lassen. Das Ministerium verwies dabei auf den hohen Bedarf an geschultem pädagogischen Personal. Die Schülerinnen und Schüler hatten durch Lockdowns, Distanzunterricht und Schulschließungen am meisten unter der Pandemie zu leiden. Der geplante Gesundheitspass würde auch diese Situation entschärfen.

Das Kabinett berät momentan zu den Plänen des Gesundheitsministeriums. Sollte es zu einer Einigung kommen, möchte Minister Lauterbach das Vorhaben zügig umsetzen. Eine Beratung zu einer entsprechenden Gesetzesvorlage wird allerdings frühestens im Februar oder März erwartet.

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Kanzler aus Leidenschaft

Lesedauer: 7 Minuten

Um den Einzug ins Kanzleramt streiten vor der anstehenden Bundestagswahl dieses Mal drei Kandidaten. Einer von ihnen hat besonders gute Chancen: Seit Wochen stellt Olaf Scholz (SPD) seine Kontrahenten in den Schatten. Scholz gibt sich in Interviews offen für verschiedene Regierungskonstellationen. Doch ein anonymer Informant behauptet nun, dass sich Kanzlerkandidat Scholz längst auf eine Koalition festgelegt hat. Die kommenden vier Jahre wolle er vor allem dazu nutzen, Rache an der Union zu nehmen.

Ungleicher Dreikampf

In drei Wochen ist Bundestagswahl. Lange gab es nicht mehr so viel zu entscheiden wie bei dieser Wahl. Ein Sieg von Angela Merkel und ihrer CDU galt bei den letzten Wahlen stets als sicher. Der Einzug der AfD in den Bundestag vor vier Jahren zementierte Merkels Macht dann vollkommen. Völlig richtig stellte sie noch am Wahlabend fest, dass gegen sie und ihre Partei keine Regierung gebildet werden könnte. Bei der Wahl am 26. September sieht das nun völlig anders aus: Merkel kündigte bereits 2019 an, nicht mehr als Kanzlerkandidatin anzutreten. Ihr Nachfolger Armin Laschet reitet die CDU von einem Umfragetief zum nächsten.

Die politische Konkurrenz kann davon nur profitieren. Neben Armin Laschet haben sich in den vergangenen Monaten Olaf Scholz von der SPD und Annalena Baerbock von den Grünen als Kanzlerkandidaten in Stellung gebracht. Die jüngsten Entwicklungen im Rennen auf das Kanzleramt sind eindeutig: Sowohl in den Umfragewerten der Parteien als auch bei den persönlichen Beliebtheitswerten liegt Olaf Scholz klar vorne. Ihm trauen die Menschen im Land am ehesten zu, Deutschland in den kommenden Jahren zu regieren.

Ein überraschendes Comeback

Angesprochen auf mögliche Regierungskoalitionen wollte Olaf Scholz beim ersten Kanzler-Triell nichts ausschließen. Selbst eine Koalition mit den Linken hielt er für möglich, wenn es entsprechende Bewegungen vonseiten der Partei gäbe. Ein interner Whistleblower behauptet nun aber, dass sich Scholz längst auf eine Zielkoalition festgelegt hätte.

Der anonyme Informant verfügt über beste Verbindungen ins Innere der SPD-Parteizentrale und kann bestätigen: Am liebsten würde Olaf Scholz die Koalition mit der Union weiterführen. Diese Option sei bei den vor Wahlen üblichen Spekulationen völlig aus dem Blick geraten und könnte noch in diesem Herbst ihr überraschendes Comeback feiern.

Methode „Kretschmann“

Die Verbindungsperson aus der SPD führte weiter aus, dass es Olaf Scholz nicht so sehr um das Zustandekommen einer Großen Koalition ginge. Momentan lägen Union und Grüne in Umfragen sowieso viel zu dicht beieinander. Verlässliche Aussagen, mit welcher der beiden Parteien eine Große Koalition zustandekommen könnte, wären daher verfrüht.

Viel eher möchte sich Olaf Scholz durch eine Koalition an der Union für die jahrelangen Demütigungen und die völlige Demontage seiner SPD rächen. Viel zu lange habe sich die ehemalige Volkspartei im Dienste des Staates für die Union verbogen und eine Kröte nach der anderen geschluckt. Angeblich soll sich Olaf Scholz bei seinen Bemühungen am baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) orientieren. Dieser hatte die CDU bereits 2016 mit einer Großen Koalition in die Knie gezwungen. Nach der Landtagswahl Anfang des Jahres kostete er seinen Triumph über den Koalitionspartner weiter aus, indem er den desolaten Zustand der CDU ausnutze und ihr eine weitere GroKo aufzwang.

Eine Reihe von Möglichkeiten

Wie auch in Baden-Württemberg werden Ende September mehrere Alternativen jenseits der Großen Koalition möglich sein. So spekuliert Christian Lindner auf eine Regierungsbeteiligung der FDP. Möglich wäre das in verschiedenen Konstellationen. Am wahrscheinlichsten galt lange die Ampelkoalition mit SPD und Grünen. Sollte das Hoch der SPD allerdings Bestand haben, wären die Liberalen für diese Koalition nicht mehr vonnöten. Eine rot-grüne Koalition käme dann auch ohne Lindner auf eine Mehrheit.

Doch egal, wie man es dreht und wendet: Die SPD mischt bei den meisten Farbenspielen mit. Gefährlich werden könnte für Olaf Scholz allerdings der vielgehypte Zusammenschluss von Union und Grünen. Bereits vor den letzten Bundestagswahlen hatten die Grünen keine Gelegenheit ausgelassen, um in Richtung CDU zu blinken. Doch besonders nach den jüngsten Umfragewerten müsste diese Koalition um Lindners FDP erweitert werden. Und das Experiment „Jamaika“ ist vor vier Jahren bekanntlich gescheitert, bevor es richtig losging.

Scholz kann Kanzlerin

Im Prinzip kann Olaf Scholz daher gelassen in Richtung Wahlen blicken. Seine Wunschkoalition mit der CDU ist kein unwahrscheinliches Szenario. Nicht nur die zu erwartenden Mehrheiten spielen Scholz dabei in die Hände, sondern auch sein ausgeprägtes Merkel’sches Talent. Immerhin weist der Kanzler in spe einige Gemeinsamkeiten mit der scheidenden Regierungschefin auf.

Zum einen hat er wie sein Vorbild Angela die Ausstrahlung einer Schlaftablette. Nur ab und zu, und dann völlig unerwartet, lässt er sich zu flapsigen Kommentaren und kurzzeitig emotionalen Momenten hinreißen. Sein Rückgrat ist aus Teflon und kann beliebig verbogen und verdreht werden – viele Jahre Große Koalition waren eine gute Schule.

Er wies dabei stets eine gewisse Distanz zur Grundausrichtung seiner Partei auf. Ein gestandener Sozialdemokrat ist er nicht. Seine politische Laufbahn ist die eines Machtpolitikers, der zur Not fast jeden Kompromiss macht, um nicht unterzugehen. Ähnlich wie Merkel hätte er auch in einer anderen großen Partei Karriere machen können.

Und auch wie Mutti ist er nur deshalb Kanzlerkandidat geworden, weil gerade kein besserer Kandidat zur Hand war. Mit den Fotos für den Spiegel, auf denen er stolz mit Merkelraute posiert, stellte er dann endgültig klar, auf welchen Regierungskurs sich das Land in den nächsten Jahren vorzubereiten hat.

Ein ewiger Kanzler?

Für viele Politikwissenschaftler kommen die Enthüllungen des Insiders nicht überraschend. Trotzdem äußern sich einige besorgt über den Regierungsstil á la Merkel und Scholz. Die meisten Forscher gehen sicher davon aus, dass Olaf Scholz das Rennen um das Kanzleramt machen wird. Für diesen Fall sehen sie voraus, dass sich mögliche Koalitionspartner die Zähne an der Profillosigkeit der SPD ausbeißen werden. Sie prognostizieren, dass Scholz seine Mehrheitsbeschaffer in Grund und Boden regieren wird. Darum halten sie eine Koalition mit der Union auch für am wahrscheinlichsten.

Samuel Peter Derff, Politologe an der Universität Jena, malt ein eher düsteres Bild: „In den vergangenen Jahren hat sich bei der SPD viel Frust aufgebaut. In einer Koalition mit der CDU lässt sich da vieles wettmachen. Allerdings ist eine langjährige Kanzlerschaft von Olaf Scholz zu erwarten.“ Derffs Kollegen schätzen die zu erwartende Amtszeit Scholz‘ auf mindestens zwanzig Jahre. In dieser Zeit wird er vermutlich in wechselnden Koalitionen regieren und seine ehemaligen Partner stets ausgeblutet zurücklassen.

Der Politjournalist Christopher Darian Ulmen gibt allerdings zu bedenken: „Merkel…äh, Scholz wird die politische Landschaft im Land weiter diversifizieren. Wir werden uns künftig nicht nur auf Kanzlertrielle, sondern wohl auch auf -quartelle und -quintelle einstellen müssen.“

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Noch ganz dicht?

Lesedauer: 9 Minuten

Mit ihrer Aktion #allesdichtmachen haben 52 Künstlerinnen und Künstler einen Shitstorm erster Güte losgetreten. Mit einer kontroversen Debatte über ihre Videos haben sie mit Sicherheit gerechnet, mit solch vernichtender Kritik bestimmt nicht. Über die Inhalte der Kurzclips spricht kaum jemand. Immerhin waren sich die Medien und weite Teile der Öffentlichkeit schnell einig, dass es den Darstellerinnen und Darstellern nicht zusteht, auf diese Weise Kritik zu üben. Von dem künstlich erzeugten Scharmützel zwischen Befürwortern und Gegnern profitieren vor allem diejenigen, die die unhaltbaren Zustände in Krankenhäusern mitzuverantworten haben.

Einig wie selten

Seit Böhmermanns Ziegenficker-Affront aus dem Jahr 2016 schlug wohl keine satirische Überspitzung so hohe Wellen wie die Aktion #allesdichtmachen. Mehr als 50 Künstlerinnen und Künstler aus dem deutschsprachigem Raum üben mit der Aktion Kritik an dem gefühlt endlosen Lockdown, den die Regierung immer wieder verlängert. Die Promis bezweifeln in ihren Kurzvideos, dass die harten Maßnahmen gegen die Pandemie noch verhältnismäßig sind. Die Diskussion über diese Aktion erinnert in Teilen tatsächlich an den Vorwurf der Majestätsbeleidigung, der seinerzeit gegen Jan Böhmermann im Raum stand. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied: Während sich 2016 die öffentliche Meinung über Böhmermanns Schmähgedicht in zwei mehr oder weniger ausgeglichenen Lagern verortete, ist im Falle der Aktion #allesdichtmachen für die Medien die Sache klar: Das geht gar nicht. Es ist absolut deplatziert und verachtenswert.

Die deutschen Leitmedien sind sich bei der Einschätzung des satirischen Fehlgriffs einig wie selten. Die Kritik, die über die Aktion hereinbrach, kam wie aus einem Guss. Unerbittlich verurteilten die großen Nachrichtensender, namhafte Zeitungen und andere Medien die Videoclips, die ihr Anliegen in etwa einer Minute deutlich machen. Zumindest dieses Ziel haben die Macher hinter der Aktion erreicht. Jeder redet darüber. Die Öffentlichkeit für das Thema ist definitiv hergestellt.

Steilvorlage für Rechts

Ein weiteres und weitaus wichtigeres Ziel haben die Initiatoren allerdings auch erreicht. Sie haben bravourös dargestellt, wie eingeengt der geduldete Diskurs in unserem Land zwischenzeitlich ist. Die Kritik an den Videos fiel mitunter so heftig und vernichtend aus, dass die Sachlichkeit an vielen Stellen darunter litt. Mit teilweise brachialer verbaler Gewalt rückte man die Künstlerinnen und Künstler unreflektiert in die Nähe der Querdenkerszene, die sich hauptsächlich aus Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen formatiert. Es geht daneben leicht unter, dass das in Kauf genommene Horrorszenario, in der Folge von der AfD vereinnahmt zu werden, ebenfalls eingetreten ist.

Die reflexartige Ausgrenzung der 52 Promis lässt den Rechten doch auch überhaupt keine andere Wahl, als deren Aktion für sich zu vereinnahmen. Erneut hat eine blauäugige und naive Weltsicht der AfD ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema auf dem Silbertablett serviert. In einem schier neurotischen Distanzierungswahn von der AfD haben bestimmte Meinungsmacher die Promis aus den Videos und deren wichtiges Anliegen auf dem Altar des Nicht-Sagbaren geopfert. Es ist völlig richtig, dass die AfD manche der angesprochenen Maßnahmen ebenfalls kritisiert. Das nun zum Maßstab des Tolerierbaren zu machen, übersteigert die Relevanz dieser rechten Gruppierung allerdings bis ins Wahnwitzige. Bloß weil die AfD auf Sonnenschein hinweist, ist das noch lange kein Grund, trotz frühlingshaften Wetters Regen zu propagieren.

Über’s Ziel hinaus

Einige der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler haben sich bereits laut gefragt, ob Ironie und Sarkasmus die richtigen Stilmittel für die Botschaft der Aktion gewesen wären. Tatsächlich kann man über die Geschmackhaftigkeit der Aktion streiten. Auch dass sich einige mit den Videos vor den Kopf gestoßen fühlen, war ein kalkulierbares Risiko. Hier kann man den Machern sicher noch zugutehalten, dass jede Form der Kunst, wenn sie gut gemacht ist, unbequeme Ausmaße für bestimmte Personen annimmt. Der Kreis dieser Personen ist in diesem Fall unerwartet groß und auch der Zeitpunkt der Aktion war zeitlich bestimmt nicht optimal. Auch vor einigen Wochen und Monaten lebten wir in einem gefühlt ewigen Lockdown bei zwischenzeitlich moderat anmutenden Infektionszahlen. Solche Videos zu verbreiten, wenn die Zahl der Infizierten wieder ganz knapp an der 30.000 kratzt, war auf keinen Fall ein Geniestreich.

Man kann den Künstlerinnen und Künstlern darum durchaus vorwerfen, über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Mit diesem überambitionierten Gebaren sind sie mit ihren Kritikern aber in allerbester Gesellschaft. Die Herabwürdigung der Aktion reichte von Rückzugsforderungen über persönliche Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen. Das geht so einfach nicht. Das ist nicht die logische Antwort auf etwas, was man als unangebracht und geschmacklos empfindet.

Besonders erschütternd ist aber der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus. So wirft Meron Mendel, Direktor des Zentrums für politische Bildung, den Darstellerinnen und Darstellern vor, sie würden eine Verharmlosung der NS-Verbrechen befördern und damit Geschichtsrevisionismus betreiben. Mit dieser infamen Unterstellung wird die in weiten Teilen berechtigte Kritik in selbstgerechter und verantwortungsloser Weise sogleich in Grund und Boden gestampft. Es ist doch genau andersrum: Nicht die Kritik an der Regierung entspricht Nazi-Methoden, sondern die Gleichsetzung von kritischem Zeitgeist mit den Methoden der extremen Rechten.

Schneller Rückzug

Leider ließen sich von dieser regelrechten Hetzkampagne inzwischen einige der Künstlerinnen und Künstler beeindrucken. Bei manchen blieb es nicht bei hilflosen Erklärungs- und Distanzierungsversuchen. Sie nahmen die Videos gefolgsam vom Netz. Die Feierstimmung darüber in der AfD-Parteizentrale soll angeblich alle Ausmaße bisher dokumentierter Corona-Partys gesprengt haben.

So standfest und überzeugt die Darstellerinnen und Darsteller zunächst schienen, so umfallerisch wirken sie nun, nachdem sie ihre Videos zurückgezogen haben. Die heftige Kritik auf ihre Aktion hat alle Dimensionen des Denkbaren in den Schatten gestellt. Nun aber Videos tatsächlich zu löschen, gibt die Aktion dem Verdacht des Opportunismus und der Selbstdarstellung preis. Die Künstler ziehen dabei selbst in Zweifel, wie ernst es ihnen mit der Aktion war. Bemerkenswert ist dabei, wie rasant schnell einige der Videos verschwunden waren.

Das Unsagbare

Ein besonders beliebtes Totschlagargument, um die unliebsame Kritik am Corona-Management der Bundesregierung moralisch zu entmündigen, kam auch in diesem Fall zum Einsatz. Mit ihrer Aktion würden die Promis die Pandemie verharmlosen und die Maßnahmen ins Lächerliche ziehen. Außerdem würden sie sich über die zahlreichen Opfer der Erkrankung lustig machen, ungeachtet dessen, ob diese die Krankheit überlebt haben oder nicht. Diese Unterstellung ist so bösartig, dass spätestens jetzt klar wird, dass es nicht um sachliche Kritik, sondern um die öffentliche Demontage und Vernichtung der Künstlerinnen und Künstler geht.

Denn mit keiner Silbe stellen die Darsteller die Gefährlichkeit der Krankheit in Abrede. Sie bezweifeln lediglich die Verhältnismäßigkeit und die Zielgenauigkeit der geltenden Maßnahmen. Sie legen damit den Finger in eine offene Wunde. Nach über einem Jahr Pandemie gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse darüber, wo die Infektionsherde liegen. Jedem dürfte klar sein, dass das Infektionsrisiko in überfüllten Bahnen und Bussen viel höher liegt, als wenn zwei Personen ein Picknick unter freiem Himmel abhalten. Aber selbst dazu gibt es kaum verwertbare Zahlen.

Natürlich war es im Frühjahr 2020 richtig, provisorisch alles dichtzumachen. Wir hatten es mit einem unbekannten Virus zu tun, dessen Folgen nicht abschätzbar waren. Die gleiche Aktion hätte die Opfer der Pandemie vor einem Jahr tatsächlich verachtet, weil sie den gesunden Menschenverstand ins Lächerliche gezogen hätte. Diesen Job hat die Bundesregierung mit ihrem kläglichen Krisenmanagement in der Zwischenzeit aber selbst übernommen.

Rabatz auf dem Nebenschauplatz

Mit der ausufernden Kritik an der Aktion erweisen die Empörten der Bundesregierung übrigens einen großen Dienst. Erneut ist es der Politik gelungen, die Menschen an einen Nebenschauplatz zu verweisen, um sie von den wirklichen Problemen fernzuhalten. Getreu dem Motto „Zerfleischt euch gegenseitig, dann haben wir den Rücken frei“ sprechen die wenigstens über die Gründe dafür, warum ein anhaltender Lockdown leider nötig ist.

Lange vor der Pandemie war der Gesundheitssektor so heruntergewirtschaftet, dass er selbst bei gewöhnlichen Grippewellen an seine Grenzen stieß. Die Gesundheitsämter sind seit Jahren so kaputtgespart, dass es auch nach mehr als einem Jahr Corona kaum verwundert, dass niemand so recht weiß, wo die Infektionen eigentlich herkommen. Wer nun aber glaubt, dieser Missstand stagniert seit der Pandemie, der irrt gewaltig. Tatsächlich mussten im vergangenen Jahr zwanzig Krankenhäuser ihre Pforten für immer schließen. Das ist der Grund dafür, warum die Politik die Pandemie nicht unter Kontrolle bekommt. Das ist der Grund dafür, warum viele Menschen erkranken und die meisten Geschäfte weiterhin zuhaben.

Währenddessen lassen sich viele börsennotierte Unternehmen mit krisengeschüttelten Zwei-Mann – Betrieben gleichstellen und kassieren freudig die Coronahilfen ab. Dieses hart erwirtschaftete Steuergeld fließt dann fast ohne Umwege in Form von Dividenden an die Aktionäre. Die Kritik an diesem unhaltbaren Zustand schimpft sich dann Neiddebatte. In Wahrheit ist es allerdings genau diese Praxis, die die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und in den Heimen verhöhnt. Es ist genau dieser Umgang mit Steuergeld, der die Menschen fassungslos zurücklässt. Es ist genau diese falsche Prioritätensetzung, die der Pandemie Tür und Tor öffnet.


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