Überzeugungstäter

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Wer hat recht und wer liegt falsch? Für viele ist diese Frage immer öfter bereits beantwortet, bevor das Gespräch losgeht. An der Überlegenheit der eigenen Überzeugung besteht kein Zweifel und auch noch so gute Gegenargumente können daran nichts ändern. Die Menschen sprechen zwar noch miteinander, aber sie hören einander nicht mehr zu. Die Fähigkeit, sich auf sein Gegenüber einzulassen, ist dem Auftrag gewichen, sein Gegenüber rhetorisch zu vernichten. Die Debatten rund um Corona und die Impfung haben diesen Trend nur verstärkt. Immer seltener geht es um einen fairen Austausch, sondern um bloßes Rechthaben.

Polarisierter Zweikampf

Die Demokratie ist der Wettstreit der Meinungen. Sie lebt davon, dass Menschen miteinander diskutieren und um die besten Lösungen ringen. Das ist nicht allein Aufgabe von Politikerinnen und Politikern. Um zu vernünftigen Entscheidungen zu kommen, sollten alle Menschen in einem Land die Möglichkeit haben, daran mitzuwirken. Sie müssen den gewählten Abgeordneten signalisieren, was in ihrem Interesse ist und was nicht. Nur so können tragbare Mehrheiten entstehen.

Seit einigen Jahren gerät dieser gesunde Meinungsstreit aber mehr und mehr aus den Fugen. Die öffentliche Debatte zu wichtigen Themen erinnert immer weniger an einen fairen Streit, sondern ähnelt immer mehr einem regelrechten Zweikampf. In der polarisierten Gesellschaft geht es kaum noch darum, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Im Vordergrund steht viel mehr, sich selbst zu profilieren und die Gegenseite zu widerlegen. Das oberste Gesprächsziel ist nicht mehr, einen Kompromiss zu finden, sondern zu beweisen, dass der Gesprächspartner falschliegt.

Das ist an und für sich kein großes Drama. Problematisch ist allerdings die Verbissenheit, mit der mancheiner auf seinem Standpunkt verharrt. Man will die anderen unbedingt von seiner Meinung überzeugen, ist aber nicht bereit dazu, sich auf die Gegenargumente einzulassen. Für viele steht von vornherein fest: Der Weg des anderen ist nicht nur nachteilig und fehlerhaft – er führt zwangsläufig ins Verderben.

Das Ticket zum Untergang

Diesen Starrsinn bekommen beide Seiten seit Jahren bei zwei besonders wichtigen Themen zu spüren. Bei der Flüchtlingsdebatte waren die Fronten besonders verhärtet. Die einen sahen in der Flüchtlingswelle den Untergang des Abendlands und der europäischen Werte endgültig besiegelt, die anderen konnten es gar nicht abwarten, die Geflüchteten in Deutschland aufzunehmen und zu braven Staatsbürgern zu erziehen. Beide Seiten greifen zu kurz. Ein Mittelweg schien ausgeschlossen, Argumente dieser Art wurden kaum gehört. Viel zu sehr ging es bei der Flüchtlingsfrage ums Eingemachte. Auf dem Spiel stand nichts weniger als die Menschlichkeit. Und die war für viele nicht verhandelbar.

Ein fast noch größeres Polarisierungspotenzial weist die Klimakrise auf. Viele Menschen haben begriffen, dass die Bewältigung dieser Krise nicht nur das entschlossene Handeln der Politik erfordert, sondern dass es im Zweifelsfall auf jeden einzelnen ankommt. Anstatt aber zusammenzustehen, verlieren sich viele darin, den Lebensstil der anderen für inakzeptabel zu erklären. Menschen mit geringem Einkommen werden öffentlich dafür angegriffen, dass sie preisgünstige Lebensmittel einkaufen, die eine schlechtere Umweltbilanz aufweisen. Auf der anderen Seite greifen besonders bequeme Zeitgenossen das Engagement der jüngeren Generation an und erklären den Klimawandel zum Kampf ums Auto. Beide Seiten halten angeblich das Ticket zum Untergang in ihren Händen. Bei den einen werden die schlimmsten Umweltkatastrophen schon morgen zu sehen sein, die anderen provozieren einen Blackout in ganz Deutschland.

Sackgasse Moral

Bei allen diesen Debatten verhärten sich die Fronten durch eine moralische Aufladung zusätzlich. Diese moralische Motivation macht es beinahe unmöglich, die einmal eingenommene Position wieder zu verlassen. Zweifel daran, dass es eine gute Idee ist, die Grenzen für jedermann zu öffnen, ist gleichbedeutend mit einem Schießbefehl auf Flüchtlinge. Andererseits riskiert ein umweltbewusster Autoliebhaber, bald schon zum linksgrün-versifften Mainstream zu gehören.

Diese moralische Entrüstung betrifft aber nicht nur universale Themen wie die Flüchtlingsbewegung und die Klimakrise. Auch viele Nischenthemen werden mit einer guten Portion Moral zur Frage über Leben und Tod aufgewertet. Die Befürworter des Gendern wollen selbstverständlich vorrangig die deutsche Sprache zerstören und das Geschlecht zum Bestandteil der täglichen Garderobe machen. Seine Kritiker hingegen finden es gut, wenn Transmenschen drangsaliert werden und Frauen aufgrund ihres Geschlechts weniger Geld verdienen. Beides völliger Blödsinn.

Argumente als Nebensache

Eine neue Dimension erreichte diese Art des Umgangs miteinander durch die Coronakrise. Die moralische Kompetente ist hier offensichtlich, immerhin hat sich frühzeitig der Ethikrat eingeschaltet. Besonders bei der Frage zum Umgang mit Ungeimpften und ob eine allgemeine Impfpflicht vertretbar ist, spielt der Rat eine entscheidende Rolle. In keiner anderen Debatte der jüngeren Zeit waren die Fronten so verhärtet wie bei der Frage nach der Impfung. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen die beiden Extrempositionen, differenzierte Sichtweisen werden fast gar nicht zugelassen. Es kam zu einer perversen Umdeutung des Begriffs „Solidarität“, mit dem nun mit unerbittlicher Härte auf die Ungeimpften eingedroschen wird.

Rhetorisch erinnert in der Impfkampagne nichts mehr an einen demokratischen Meinungsstreit. Die existenzielle Tragweite der Pandemie ist die Legitimation dafür, dass eine faire Debatte entfällt. Obwohl manche Gründe gegen eine Impfung wissenschaftlich nicht widerlegbar sind, zählen die Argumente für die Impfung grundsätzlich mehr. Dadurch verlieren auch die wichtigen Gründe, die für eine Impfung sprechen, zusehends an Wert. Die Argumente verkommen zum Beiwerk in der Debatte. Entscheidend ist einzig, dass das eigene Ideal, eine flächendeckende Impfung, erreicht wird.

Der Zweck heiligt die Mittel?

In der Pandemie geht es schon lange nicht mehr darum, Andersdenkende von der eigenen Meinung zu überzeugen – und erst recht nicht darum, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen – sondern darum, die Impfquote in die Höhe zu treiben. Es ist dabei egal, warum sich die Menschen impfen lassen. Ob sie die medizinische Notwendigkeit der Impfung eingesehen haben oder ob sie sich monatelang vor einer Impfung sträubten und einfach wieder unbehelligt ins Restaurant gehen wollen, ist für die ärgsten Verfechter einer Impfpflicht unerheblich.

So funktioniert Demokratie aber nicht. Haben die Menschen das Gefühl, ihnen wird etwas aufgezwungen, von dem sie nicht überzeugt sind, dann erzeugt das Frust und kein Verständnis. Momentan fügen sich die meisten Menschen dem Impfdruck. Doch die Stimmung könnte angesichts regelmäßiger Impfungen und der in einigen Bundesländern beschlossenen 2G+ – Regelung in der Gastronomie bald kippen. Wer einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung seinen Willen aufzwingen will, ohne den Menschen zuzuhören, der erzeugt Frust und Spaltung. Das kann sich im weiteren Pandemiegeschehen bitter rächen.

Pistole auf der Brust

Es gibt in Deutschland Menschen, die wollen, dass eine allgemeine Impfpflicht eingeführt wird. Und es gibt Menschen, die das nicht wollen. Es ist möglich, dass sich die Mehrheit bei einer Volksbefragung für die allgemeine Impfpflicht aussprechen würde. Diese potenzielle Mehrheit ist zumindest das Lieblingsargument der Befürworter einer solchen Impfpflicht.

Wenn man allerdings ausschließlich geimpften, und teilweise nur geboosterten, Menschen Zutritt zu weiten Teilen der öffentlichen Infrastruktur gewährt, beeinflusst das die Sichtweise auf eine Impfpflicht. Die Mehrheit möchte dann keine gesetzlich vorgeschriebene Impfung, sondern sie will zur Normalität zurück. Viele Menschen haben gesehen, dass sie sich diese Freiheiten erkaufen können, wenn sie sich impfen lassen, unabhängig davon, wie medizinisch sinnvoll die Impfung für sie ist.

Die exekutive Gesellschaft

Trotz dieser objektiven Mehrheit darf nicht vergessen werden, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen einer möglichen Impfpflicht zumindest skeptisch gegenübersteht. Viele dieser Skeptiker haben ernstzunehmende Beweggründe für ihre Ablehnung und es lohnt sich mit Sicherheit, ihnen zuzuhören. In einer Demokratie hat nämlich nicht ausschließlich die Mehrheit das Sagen. Es ist die Aufgabe der Opposition, das Handeln der Mehrheit kritisch zu hinterfragen und alternative Lösungswege aufzuzeigen. Die Mehrheit kann von dieser kritischen Sichtweise sogar profitieren.

Einen aufrechten Demokraten erkennt man daran, wie er Menschen begegnet, die anderer Meinung sind. Für ihn steht nicht die Umstimmung des anderen im Vordergrund, sondern die Überprüfung der eigenen Position. Ein echter Demokrat lässt sich auf die Gegenseite ein und sucht nach Wegen, wie beide Seiten zusammenkommen können. Unsere Demokratie lebt vom Kompromiss und nicht von einem Absolutheitsanspruch. Vielleicht hat die Gegenseite Ansätze, die schneller aus einer schwierigen Lage herausführen können. Mit dieser Handhabung würde man sogar mehr Leute mit ins Boot holen, anstatt eine Vielzahl an Menschen zu verprellen.

Wir haben uns in einer Kultur der Rechthaberei verfangen. Jeder pocht darauf, dass seine Meinung unumstößlich ist und die anderen grundfalsch liegen. Die existenziellen Krisen der letzten Jahre haben zu einer sehr exekutiv geprägten Gesellschaft geführt, in welcher der gegenseitige Austausch immer weniger zählt. Aus dieser Spirale müssen wir dringend ausbrechen, wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen immer weiter entfremden.


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Auf der richtigen Seite

Lesedauer: 9 Minuten

Die Demokratie ist bedroht – auch in Deutschland. Doch militante Nazis, fanatische Terroristen und paranoide Querdenker sind nur ein Teil des Problems. Die Coronakrise zeigte deutlich, dass auch ein lange totgeglaubtes demokratiefeindliches Phänomen schnell wieder zur Hochkonjunktur auflaufen kann. In diesen Tagen feiert das Mitläufertum sein zweifelhaftes Comeback. Kritik an den harten Maßnahmen gegen Ungeimpfte bleibt Sache der Betroffenen. Viel zu groß ist die Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Eine moralisch aufgeladene Debatte sorgt dafür, dass breiter Unmut gegen die restriktive Politik bislang ausbleibt.

Einmal und nie wieder

In keiner anderen Phase der Bundesrepublik diskutierten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags so häufig über die Verteidigung der Demokratie und über den Kampf gegen Rechtsextremismus wie in Zeiten von Flüchtlingsströmen, Klimawandel und Coronakrise. Die Gefahr ist erschreckend real. Mit der AfD hat sich vor vier Jahren eine in Teilen offen rechtsextreme Partei im Reichstagsgebäude eingenistet. Was unter Historikern schon lange als sicher gilt, erleben auch viele Politiker heute hautnah: Es ist einmal passiert und es kann wieder passieren.

Die deutschen Wähler wurden seitdem mehrfach Zeuge von flammenden Reden, mit denen verschiedene Abgeordnete inbrünstig die Demokratie beschworen und sich klipp und klar von den Feinden der Demokratie auf der rechten Seite des Saals distanzierten.  Eines durfte dabei nicht fehlen: Das berühmte Zitat von Bertolt Brecht, mit dem er bereits Ende der1950er-Jahre auf ein faschistisches Potenzial hinwies. Pegida, Klimaleugner und Querdenker beweisen tatsächlich: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Gegen die Mehrheit

Rassismus, Homophobie und Antisemitismus sind die bekanntesten Auswüchse des rechten Extremismus. Dieser systematische Menschenhass war leider nie ganz weg. Die Flüchtlingswelle von 2015 hat gezeigt, dass viele fremdenfeindliche Ressentiments weiter vorhanden sind. Besonders männliche Homosexuelle können sich in einigen Gegenden nicht angstfrei küssen. Alle zwei Wochen wird in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet.

Im öffentlichen Bewusstsein blieben vor allem die Anschläge von Halle und Hanau und der Mord an Walter Lübcke als rechtsextreme Gewalttaten haften. Einige der Täter waren mit der rechtsextremen Szene vernetzt. Trotzdem handelten sie allein. Ihre menschenverachtenden Verbrechen waren nicht dazu geeignet, den Umsturz des Systems herbeizuführen. Sie stießen auf blankes Entsetzen, auf Trauer und auf Wut.

Auch die neuerdings 10 Prozent der AfD-Wähler sind zwar frustriert und unzufrieden, die wenigsten unter ihnen sind aber bereit dazu, den Staat mit der Waffe zu bekämpfen. Die Erzählung vom rassistischen AfD-Wähler ist und bleibt eine Legende. Selbst wenn die AfD immer unverhohlener ihr wahres Gesicht zeigt, gilt das für die Mehrheit ihrer Wähler nicht. Die meisten von ihnen sind keine Rassisten und Menschenfeinde. Es ist fraglich, woher eine so große Zahl an Rassisten plötzlich herkommen sollte. Rassistische und antisemitische Tendenzen waren über viele Jahrzehnte in der deutschen Gesellschaft vorhanden. Blinder Rassismus und Antisemitismus sprießt aber nicht wie wild aus dem Boden.

Sehenden Auges

Viele Wählerinnen und Wähler geben der AfD trotzdem ihre Stimme. Sie nehmen für sich in Anspruch, keine Rassisten zu sein und wählen sehenden Auges eine Partei, die sich mit jedem Tweet und jedem Talkshowauftritt ein Stück weiter vom Rechtsstaat entfernt. Willfährig versuchen sie, eine Partei auf den Thron zu heben, die von der großen Mehrheit der Gesellschaft weiterhin abgelehnt wird.

Spätestens mit der Flüchtlingskrise haben die Rechtspopulisten ein Bindemittel gefunden, dass diesen Nicht-Rassisten das Maul stopft. Mit Horrorszenarien von kriminellen Asylsuchenden und einem importierten Terrorismus machen sie es ihren Wählern leicht, über ihre offensichtlichen rechtsextremen Tendenzen hinwegzusehen oder diese sogar billigend in Kauf zu nehmen. Geschickt machte sich die AfD die existenziellen Ängste ihrer potenziellen Wähler zunutze, um an ihre Stimmen zu kommen. Dieses Spiel hatte die Rechte schon immer gut drauf, egal ob sich die Gesellschaft mit einem Krieg, einer Wirtschaftskrise oder mit einer Pandemie konfrontiert sah.

Keine vertrauensbildende Maßnahme

Am 3. November 2021 riefen die baden-württembergischen Behörden die Corona-Warnstufe aus. Bereits in den Tagen zuvor spekulierten die Medien über eine anstehende Verschärfung der Maßnahmen. Ausführlich kündigten sie an, welche Einschränkungen Ungeimpfte in der Warnstufe zu erwarten hätten. Spätestens in der Unterüberschrift fiel das Stichwort.

Zwar setzten sich viele Artikel auch mit steigenden Inzidenzen und überlasteten Krankenhäusern auseinander, im Fokus standen aber viel zu oft die Ungeimpften. Das sendete ein falsches Signal an alle anderen. Eine solche Berichterstattung entlässt die Geimpften und Genesenen aus der medizinischen und gesellschaftlichen Verantwortung. Mit der Impfung erhalten die Menschen keinen Freibrief, sondern einen umfangreichen Schutz vor dem Coronavirus. Die Medien unterstützen diese Sichtweise leider nicht.

Stattdessen unterstützen sie mit solchen Beiträgen die Kampagne gegen Ungeimpfte. Seit Monaten versucht die Regierung, bislang Ungeimpfte durch finanziellen und gesellschaftlichen Druck zu einer Impfung zu bewegen. Eine vertrauensbildende Maßnahme ist das nicht. Stattdessen empfinden viele Betroffene diese Agitationen als Zwang. Beugen sie sich dem Druck, dann nur unter Protest. Besonders erfolgreich waren die staatlichen Maßnahmen bisher auch nicht: Die Mehrheit der Ungeimpften gab an, sich trotz des Drucks auf keinen Fall impfen zu lassen. Die Entscheidung gegen die Impfung scheint in Stein gemeißelt zu sein.

Bedrohliche Entwicklungen

Moralisch aufgeladene Debatten vertiefen die Gräben zusätzlich. Wer die explodierenden Infektionszahlen und die Überlastung des Gesundheitswesens ausschließlich oder vorrangig auf die Minderheit der Ungeimpften zurückführt, suggeriert damit, dass die Ungeimpften schlechte Menschen sind. Solche Schlussfolgerungen werfen den Ungeimpften vor, ihnen wären schwer kranke und leidende Menschen egal. Ließen sich die Ungeimpften aufgrund dieser Schein-Argumente doch impfen, würden sie diesen Vorwurf indirekt bestätigen. Weil aber kein Mensch schlecht sein will, verfestigt sich ihre Entscheidung gegen die Impfung.

Tatsächlich bricht sich immer mehr eine Rhetorik der offenen Drohgebärde Bahn. Nicht der Schutz der Ungeimpften steht im Vordergrund, sondern deren Bestrafung. Wenn der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) ankündigt, der Ausbau mobiler Impfstationen in der Stadt diene vorrangig dem Zweck, „auch den Rest der Ungeimpften [zu] kriegen“, dann ist diese Drohung nicht mehr subtil.

Augen zu und durch

Immer unverhohlener werden die Ungeimpften für die aktuelle Situation verantwortlich gemacht. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery sprach erst am vergangenen Sonntag bei Anne Will von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Warum regt sich gegen solche Diffamierungen kein breiter Widerstand? Es ist im Grunde ganz leicht: Die Geimpften haben Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Die Impfung wird als solidarischer Akt angepriesen. Diese Legende ist das Bindemittel, damit die Mehrheit der Geimpften den Mund hält, wenn die Minderheit der Ungeimpften mit fragwürdigen Methoden unter Druck gesetzt wird. Weitreichende Lockerungen machen es den Geimpften zusätzlich leicht, vor solchen Offensichtlichkeiten die Augen zu verschließen. Wer in einem schicken 2G-Restaurant sitzt, hat die Ausgeschlossenen schnell vergessen.

Mit ihren Maßnahmen erhöht die Regierung die Geimpften auf eine Position, von der es sich leicht auf die angeblich unsolidarischen Impfverweigerer herabsehen lässt. Geschickt lenkt die Politik dadurch von der Tatsache ab, dass sie selbst in der Vergangenheit alles andere als solidarisch war. Es ist ausgesprochen unsozial, Pflegekräfte mit mickrigen Löhnen abzuspeisen und allein im ersten Jahr der Pandemie zwanzig Krankenhäuser samt Intensivstationen dichtzumachen. Solche Entscheidungen tragen deutlich stärker zu einer Überlastung des Gesundheitswesens bei als der Entschluss, sich nicht impfen zu lassen. Die viel diskutierte Impfpflicht im Pflegebereich kommt nur deshalb nicht, weil die Regierung weiß, dass die Lage in Krankenhäusern und Heimen schon jetzt katastrophal ist.

Die Mehrheit der Geimpften begehrt gegen solche Ungerechtigkeiten nicht auf. Für sie sind die Ungeimpften die Buhmänner. Wegen persönlicher und sozialer Verlustängste schweigen sie lieber und reden sich ein, dass alles halb so wild sei: Die Ungeimpften können diesen Zustand schließlich jederzeit durch eine Impfung beenden. Dieses Mitläufertum war schon immer das Erfolgsrezept von Staaten, die nicht demokratisch verfasst sind. Einmal mehr steht fest: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.


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Der Ton wird rauer

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K(l)eine Lobby

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Die Maßnahmen gegen die Pandemie sind hart – nicht nur für Verbraucher. Auch viele Gastronomen, Hotelbetreiber und Krankenpfleger haben in der Pandemie ein schweres Los gezogen. Und obwohl diese Gruppen am härtesten von der Coronakrise gezeichnet sind, werden sie teilweise in der Luft hängengelassen. Immer offensichtlicher wird: Wer Macht und Einfluss hat, kann seine Schäfchen ins trockene bringen. Wer über keine Lobby verfügt, der muss schauen, wie er zurechtkommt. Und immer klarer wird, dass sich die Regierung mit diesem lobbygeführten Kurs keinen Gefallen tut.

Lockdown 2.0

Mehr als 20.000 Neuinfektionen an einem Tag – Nach dieser Horrormeldung vom vergangenen Herbst sah sich die Bundesregierung gezwungen, die Maßnahmen gegen das Virus drastisch zu verschärfen. Obwohl er lange kategorisch ausgeschlossen wurde, kam der zweite flächendeckende Lockdown dann doch. Wie bereits im Frühjahr versprach die Regierung reflexartig schnelle und unkomplizierte Hilfen für kleine Betriebe und Selbstständige. Die vielgepriesenen Novemberhilfen waren aber selbst im Januar bei vielen Betroffenen noch nicht auf dem Konto. Einige große Konzerne hingegen durften die Staatshilfen mit offenen Armen empfangen. Viele von ihnen gaukelten den Steuerzahlern eine herannahende Unternehmenspleite  vor, um dem Staat das Geld aus den Rippen zu leiern. An den Arbeitsverhältnissen der Beschäftigten änderte das wenig.

Die Rechnung ist einfach: Die Vorstände und Aktionäre sind Dauergast in Ministerien und bei Entscheidungsträgern. Mit einer Heerschar an Lobbyisten können sie die Politik so beeinflussen, dass ihnen Gesetze bloß nicht auf die Füße fallen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben können das nicht. Ansonsten hätten sich viele prekäre Arbeitsverhältnisse während der Coronakrise sicher nicht noch verschlimmert.

Denn seit fast einem Jahr ist das medizinische Personal in den Krankenhäusern noch mehr am Limit als zuvor. Zwar genossen sie besonders im Frühjahr eine deutlich höhere gesellschaftliche Wertschätzung für ihre Arbeit, echte Verbesserungen in ihren Jobs blieben aber aus. Warum? Weil der Deutsche Bundestag es vorzog, in den Applaus auf den Balkons und in den Wohnzimmern einzustimmen, anstatt echte Lösungen anzubieten. Währenddessen mussten Krankenpflegerinnen und -pfleger mit teilweise mangelhafter Schutzausrüstung dem Virus die Stirn bieten. Statt mehr Geld bekamen manche Pflegekräfte die Kündigung, weil sie einer Impfung zum jetzigen Zeitpunkt ablehnend gegenüberstehen.

Viel Geld für kleines Risiko

Ähnliches gilt für die Arbeiterinnen und Arbeiter in Fleischereibetrieben. Nach der Masseninfektion beim Schlachtbetrieb Tönnies im Juni 2020 war der Aufschrei gegen die unmenschlichen Arbeitsverhältnisse in den Betrieben groß. Nachdem die Erkrankung bei den meisten Beschäftigten abgeklungen war, ebbte allerdings auch die öffentliche Empörung ab. Es ist unwahrscheinlich, dass sich an den Arbeitsverhältnissen in den Schlachtereibetrieben seither grundlegend etwas geändert hat. Die Überzeugungskraft der Mitarbeiter gegenüber der Politik war leider nicht groß genug. Anders sah es da bei den direkt Verantwortlichen der Masseninfektionen aus. Es gab zwar den ein oder anderen Rücktritt, nachhaltige Konsequenzen hatte der Skandal aber für keinen von ihnen.

Natürlich kann man in der derzeitigen unberechenbaren Situation auch große Konzerne nicht in der Luft hängenlassen. Wer in Not ist, dem muss geholfen werden. Es fällt aber schwer, das zu glauben, wenn die gleichen Unternehmen, die mit zig Millionen Euro an Steuergeld überhäuft wurden, im Jahr der Krise ähnliche Summen an ihre Aktionäre und Vorstände auszahlen. Befürworter dieser perversen Praxis betonen immer wieder, dass diese Krisengewinner schließlich ein weitaus höheres Risiko trügen, für das sie entlohnt werden müssten. Das Risiko schwindet allerdings, wenn man weiß, dass in jeder schwierigen Lage sofort der Staat aushilft.

Auch die Arbeitsplätze in den Unternehmen werden in diesem Zusammenhang häufig in fast erpresserischer Art und Weise ins Feld geführt. Wer keine Unternehmen rettet, der zerstört Arbeitsplätze, heißt es dann immer. Es wäre ja schön, wenn die Hilfsgelder an die Beschäftigten gingen, aber das ist fernab jeglicher Realität. Stattdessen setzen Unternehmen wie die Lufthansa tausende Menschen auf die Straße, obwohl sie vorher noch horrende Summen erhielten, um genau das zu verhindern.

Schulgipfel, und keiner kommt

Immer offener tritt zutage, dass die Hilfen tatsächlich Unternehmensrettungen sind, aber als Rettung gefährdeter Arbeitsplätze versagen. Begünstigt werden juristische Personen und einige wenige Nutznießer in den oberen Etagen der Konzerne. Am Tisch sitzen meist die Vertreter der Vorstände, viel zu selten die Vertreter der Belegschaft. So wird ein Autogipfel nach dem anderen abgehalten, weil diese Industrie über eine mächtige Lobby verfügt. Schulgipfel stehen dagegen selten auf der Agenda. Finden solche Gesprächsrunden doch einmal statt, dann meist in exklusiver Runde der zuständigen Minister. Was die Lehrkräfte und Schüler tagtäglich leisten, wird auch dort nicht abgebildet.

Im Lockdown bleiben die Schulen dicht. Home Schooling ist angesagt, egal ob sich die Eltern das erlauben können oder nicht. Zu hoch ist die Gefahr von Corona-Massenausbrüchen an Schulen. Viele Arbeitnehmer tingeln währenddessen weiter zur Arbeit. Es ist richtig, dass die meisten Unternehmen weiter wirtschaften können, um noch schlimmere ökonomische Folgen der Krise zu vermeiden. Gut ist auch, dass es in vielen Betriebsstätten durchdachte Hygienekonzepte gibt. Dieses Szenario ist allerdings nicht der Vernunft zu verdanken, sondern rührt schlicht daher, dass Arbeitgeberverbände Präsenzarbeit in weiten Teilen durchgesetzt haben. Der Einfluss der Schulen reicht nicht aus, um flächendeckenden Präsenzunterricht zu ermöglichen.

Die Pandemie macht Schule

Natürlich gibt es ein Infektionsrisiko in gefüllten Klassenzimmern. Aber dieses Risiko besteht doch mindestens in gleicher Weise in deutschen Büros und anderen Stätten, wo die Arbeit kinderleicht aus dem Home Office verrichtet werden kann. Selbst wenn viele Arbeitnehmer zwischenzeitlich allein in ihrem Büro sitzen – viele pendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die sich lange vor Corona gerade im Winter als Virentreiber erwiesen haben.

Pläne, wie mit der Pandemie im Schulbetrieb umgegangen werden kann, liegen massenweise vor. Der Ideenreichtum reicht hier von Luftfilteranlagen bis zu hybriden Konzepten, die einen ständigen Wechsel zwischen Präsenz- und Online-Lehre vorsehen, um die Klassenräume nicht zu überfüllen. Aber selbst wenn ein solches Konzept zum Tragen kommt: Die mangelhafte Ausstattung an den Schulen macht das nicht wett. Denn lange vor Corona bot sich in vielen Unterrichtsräumen ein ähnliches Bild: kaputte Fenster, ein tropfender Wasserhahn, Risse in den Wänden, eine vorbeiflitzende Maus und hinten in der Ecke steht der obligatorische Overhead-Projektor.

Gesundheitsschutz vs. Lobbyhörigkeit

Das Ziel Gesundheitsschutz tritt in der Pandemie immer wieder hinter den Lobbywünschen einiger einflussreicher Akteure zurück. Das führt schnell zu einer Ungenauigkeit der Maßnahmen und letztendlich zu einer Gesundheitsgefährdung. Restaurants und Bars haben im vergangenen Jahr strenge Hygienemaßnahmen erarbeitet und umgesetzt. Es hat nichts genutzt, im Herbst mussten sie erneut dichtmachen. Verschont von diesen harten Regelungen blieben dagegen Großkonzerne, die den Betrieb fast unbeeinträchtigt fortsetzten. Die Hygienekonzepte dort waren wohl sicherer als in der Gastronomie. Oder war es vielleicht doch der stärkere Einfluss auf die Politik?

Aus verschiedenen politischen und wissenschaftlichen Richtungen wird schon lange angezweifelt, dass gastronomische Betriebe und Hotels tatsächlich die schlimmsten Corona-Hotspots sind. Oppositionelle und Forscher betonen immer wieder, dass die Hygienekonzepte kleine lokale Ausbrüche schnell beherrschbar und nachverfolgbar machen.

Unnötiges Risiko

Jüngst verhängte die Regierung eine FFP2-Maskenpflicht. Die Menschen werden so besonders bei näherem Kontakt besser geschützt. An einem dichter getakteten ÖPNV-Netz scheiterte die Regierung aber bislang. Zu klein waren hierfür die Investitionen, zu gering der Einfluss auf Konzerne und Verkehrsbetriebe. Auch gegenüber der Arbeitgeberschaft knickt die Politik immer wieder ein. Zuckersüßes Bittebitte-Sagen reicht nicht aus, um Infektionen am Arbeitsplatz einzudämmen. Eine Home-Office – Pflicht muss her.

Alles andere gefährdet möglicherweise die Gesundheit vieler Menschen. Wer mit Bus und Bahn zur Arbeit fährt, obwohl diese Arbeit bequem in den eigenen vier Wänden erledigt werden könnte, der setzt sich bereits auf dem Arbeitsweg einem unnötigen Risiko aus. Es stellt sich immer häufiger die Frage, ob die Politik die Lobbyisten an der langen Leine hält oder ob die Lobbyisten die Politik in Ketten legt.

Interessenspolitik darf in Zeiten der Pandemie keinen Platz haben. Nicht nur, dass dadurch unnötige Risiken provoziert werden – das Verständnis der Menschen für harte Maßnahmen schwindet ebenso. Dichtes Gedränge in Montagehallen und Büros ist erlaubt, aber ein Waldspaziergang zu zweit in einem Ort 20 Kilometer weit weg von zu Hause ist es unter Umständen nicht. Kein Mensch kann so etwas verstehen. Kein Virus wird so bekämpft. Keiner wird davon überzeugt.


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